Über west-östliche Mystik und höhere Traurigkeit
Mystik ist nicht Weltflucht, vielmehr ermöglicht sie, sich für die Unglücklichen zu öffnen. Dankesrede zur Verleihung des Meister-Eckhart-Preises von Ernst Tugendhat
Für Meister Eckhart war die Mystik eng an die Religion gebunden. Ähnlich sah es in Indien der bedeutendste Philosoph des Vedanta, Schankara. Auch er meinte, dass die Mystik, die er wie Eckhart als Bewusstsein von Alleinheit verstand, eine monotheistische Grundlage habe. Es ist bemerkenswert, dass sich so ähnliche Vorstellungen ganz unabhängig voneinander in Ost und West entwickelt haben. Andererseits hat es in Indien, anders als im Westen, auch eine mystische Bewegung gegeben, die sich im schroffen Gegensatz zum Theismus sah: den Buddhismus.
Man kann diese Dinge einfach historisch zur Kenntnis nehmen, man kann aber auch fragen, inwiefern sie noch einen Anspruch auf unser eigenes Leben erheben können. Das ist gewiss nur möglich, wenn man sie erstens nicht ins Irrationale abschiebt und wenn man sie zweitens auch nicht nur aus ihrer jeweiligen Tradition und Geschichte versteht. Es stellt sich dann die Frage, ob sie eine grundsätzliche Basis im Menschsein haben. Was ist es, das zum menschlichen Leben wesentlich gehört, das dem Bedürfnis nach Religion zugrunde liegt, und was ist es, was Menschen immer wieder zur Mystik geführt hat?
Dass sowohl bei Eckhart wie bei Schankara die Mystik wie eine höchste Form der Religion erscheint, ist leicht erklärlich, denn wenn man sich als ausschließlich traditionsbestimmt sieht, d. h. sich auf die heiligen Schriften glaubt berufen zu müssen, wie es sowohl Eckhart wie Schankara getan haben, dann kann man die Mystik natürlich nur von der Religion her verstehen. Ich glaube allerdings, dass z. B. die christliche Religion immer auch eine mystische Komponente enthielt. Wenn aber Mystik eine Form von Religion wäre, dann könnte es keine buddhistische und keine taoistische Mystik gegeben haben.
Es könnte verlockend erscheinen, sich einen einheitlichen Oberbegriff zu Religion und Mystik zu denken. Man würde dann etwa mit Wittgenstein von „dem Höheren“ sprechen und könnte sagen, dass es für Menschen charakteristisch sei, dass sie ein Bedürfnis haben, sich vor etwas Höherem zu verneigen. Sich selbst nicht absolut zu setzen, das hieße, sich vor etwas zu verneigen, sei das Gott oder wie im Buddhismus die Leere. Tatsächlich verbeugt man sich im Zen-Buddhismus vor der Leere. Aber es erscheint doch richtiger, dies bereits als Übergriff des Religiösen auf das Mystische zu deuten.
So wie es nun für Eckhart selbstverständlich war, das Mystische vom Religiösen her zu sehen, so kann es heutigen Kritikern selbstverständlich erscheinen, dass mit dem Religiösen allemal auch das Mystische verschwindet.
Worauf ich heute hinauswill, ist, die anthropologische Wurzel des Mystischen verständlich zu machen. Die beiden Phänomene, das Religiöse und das Mystische, sind im gewöhnlichen Verständnis meist so vermischt, dass ich zuerst etwas über die anthropologische Wurzel des Religiösen sagen muss. Was man als Religion bezeichnet, ist zweifellos ein komplexes Phänomen, und jede Festlegung muss einseitig erscheinen. Zentral scheint mir aber zu sein, dass Menschen sich Zwecke setzen, sie leben auf Ziele hin, und ihnen erscheint sogar das Weiterleben selbst als Ziel, und dies hat zur Folge, dass Menschen mit dem Problem des Zufalls und der Kontingenz konfrontiert sind. Dies hat überall in der voraufgeklärten Geschichte der Menschheit dazu geführt, das, was in seiner Auswirkung auf uns kontingent ist, seinerseits zielhaft zu deuten als Ausfluss mächtiger, übernatürlicher Wesen, die dann auch personal, also als Götter gedeutet wurden. Es kommen dann wichtige Differenzierungen hinzu, Monotheismus versus Politheismus und ob Gott gütig, böse oder indifferent ist; ist er gütig, so ist er gewöhnlich auch der Repräsentant oder sogar die Quelle der Moral, und das führt dazu, dass das kontingente Geschehen als Strafe für Sünde interpretiert wurde. Es ergeben sich die spezifisch religiösen Verhaltensweisen zu diesem allmächtigen personalen Wesen: Gebet, Dank, Lobpreisung, Unterwerfung, Demut, Sündenbewusstsein.
Mit der Aufklärung bricht dieser Komplex von Vorstellungen und Haltungen in sich zusammen. Als vor kurzem das neue Bundeskabinett vereidigt wurde, hat allerdings nur eine einzige Ministerin den Zusatz „so wahr mir Gott helfe“ weggelassen. Alles kontingente Geschehen lässt sich kausal erklären, und Gott erweist sich als Projektion einer Wunschvorstellung, die Moral lässt sich nur noch als intersubjektiv begründet verstehen, ihre Absolutsetzung war ihrerseits eine Projektion. Das Merkwürdige ist, dass man das auch schon in der Religion immer geahnt hat, denn sonst hätte sie sich nicht auf besondere, geheiligte Traditionen berufen müssen. Religiöse Wahrheit ist immer nur entweder durch Tradition oder durch übernatürliche Offenbarung zugänglich gewesen. Von daher ergibt sich auch die selbstverständliche Grenze aller Aufklärung: Wer an seiner religiösen Überzeugung festhalten will, kann dies immer durch Berufung auf seinen besonderen Zugang erreichen. Das bleibt immer möglich, nur dass dann die rückhaltlose intersubjektive Verständigung abgebrochen wird.
Ich will nun zeigen, dass das in der Mystik ganz anders ist. Wenn ich auch bei der Religion von einer anthropologischen Wurzel gesprochen habe, also von etwas, was kein Mensch leugnen kann, weil es zum Menschsein gehört, so bezieht sich das doch nur auf den ersten Schritt der eben vorgeführten Gedankenreihe: die Konfrontation mit dem Kontingenzproblem. Schon der zweite, für das religiöse Bewusstsein entscheidende Schritt, die Zusammenfassung des Kontingenten zu einer persönlichen Macht, ist eine animistische Konstruktion und Wunschprojektion. Beim religiösen Bewusstsein kann man also lediglich sagen, dass das Bedürfnis dazu eine anthropologische Konstante ist. Im Zeitalter der Wissenschaft mögen wir weiterhin das Bedürfnis haben zu solchen Haltungen, wie zu danken und vielleicht zu beten, aber indem der Adressat entfällt, bleibt es beim bloßen Impuls.
Wenn ich behaupte, dass das bei der Mystik anders ist, dass in diesem Fall sie selbst und nicht nur das Bedürfnis zu ihr anthropologisch verankert ist, so soll damit nicht gesagt sein, dass sich alle Menschen als Mystiker verstehen müssten. Gemeint ist lediglich, dass bei der Mystik im Gegensatz zur Religion die entsprechende Haltung eine weiterhin reale Möglichkeit ist, die sich aus dem Menschsein selbst ergibt und keinen Rückgriff auf Offenbarung oder Tradition erfordert, ja eine solche Begründung ist ihr eigentlich fremd, und nur die Vermischung mit der Religion hat in ihren historischen Ausformungen zu Begründungen in Traditionen geführt.
Ich will heute die künstlerische Darstellung des Phänomens als Ausgangspunkt nehmen. Der meditierende Buddha ist in großen Teilen Asiens ein Hauptgegenstand der Kunst gewesen. Dass es hierfür in der christlichen Kunst kein Äquivalent gibt, liegt daran, dass im Christentum das Mystische immer durch die religiöse Haltung überformt gewesen ist: Ein in Mystik versunkener Mensch war kein Gegenstand des allgemeinen Interesses und daher auch nicht der Kunst. Was dargestellt wurde, war immer eine Richtung nach oben oder die komplementäre Richtung von oben, Andacht oder Gnade. Was hingegen in der Darstellung des Buddha zum Ausdruck kommt, enthält nichts Supranaturales. Obwohl es in unserer eigenen Kunsttradition nichts Analoges gibt, haben diese Buddha-Darstellungen etwas auch uns unmittelbar Ansprechendes. Das zeigt, wie falsch die Vorstellung ist, dass Menschen sich im Grunde ihres Wesens historisch verstünden, traditionsverhaftet seien.
Wie ist nun der intentionale Gegenstand einer solchen Haltung, wie sie in den Buddha-Darstellungen zum Ausdruck kommt, zu beschreiben? Ich meine, es kommen in ihr zwei Aspekte zum Ausdruck. Erstens eine Konzentration, ein Gesammeltsein in sich, das zugleich affektiv zu verstehen ist, als Seelenruhe; zweitens scheint dieses Gesammeltsein in sich nicht einfach das Ich oder das eigene Leben zum Gegenstand zu haben, sondern gleichzeitig die Welt, das „im Ganzen“. Ich meine, es sind diese zwei Aspekte – das Gesammeltsein in sich und das „im Ganzen“ –, die die zwei anthropologischen Wurzeln der Mystik ausmachen.
Ich beginne mit dem Gesammeltsein. Während andere Tiere jeweils in ihrer Situation leben, gehört es zum eigentümlichen Leben der Menschen, dass sie sich auf Ziele ausrichten, und das hat nun zur Folge, dass sie einerseits in einzelnen Sorgen und Fähigkeiten aufgehen, aber sich auch, insbesondere angesichts des Todes, auf die Einheitlichkeit ihres Lebens besinnen können; sie haben nicht nur Gefühle, sondern sie können sich auch zu ihnen verhalten und eine Ausgeglichenheit und Beständigkeit in ihrer Affektivität anstreben. Die Unveränderlichkeit wird wichtig, nicht weil sie zum Sinn des Seins gehört, sondern weil Menschen ein Bewusstsein von der Vergänglichkeit ihrer Zustände und ihrer selbst haben. Man kann das als eine zweite Form der Kontingenzbewältigung ansehen, und das erklärt, warum auch die Religion meist eine mystische Komponente hat. So ergibt sich bei Menschen eine Gegenläufigkeit zwischen der Vielzahl ihrer Sorgen und Affekte und einem Sichsammeln.
Aber was ist es, womit ein Mensch sich in diesem Sichsammeln konfrontiert sieht? Man könnte zunächst sagen: einfach sein Leben im Ganzen, oder: dies Leben mit seinem Begrenztsein durch den Tod. Es ist aber zumindest nahe liegend, dass ein Mensch, wenn er sich mit Leben und Tod konfrontiert, zugleich über die Grenzen seines Lebens hinausschaut und so auch des vielen, was er nicht ist, in seinem Eigensein gewahr wird. Warum?
Hier stoßen wir auf die zweite und eigentlich noch fundamentalere anthropologische Wurzel der Mystik, und auch sie lässt sich am besten in der Gegenüberstellung zum Bewusstsein der anderen Tiere verständlich machen. Es gehört zur Besonderheit des menschlichen Bewusstseins, dass es aufgrund seiner sprachlichen Struktur auf einzelne Gegenstände bezogen ist und deswegen auch auf sich als einzelnes Wesen, als Ich: Es bezieht sich auf sich als einer oder eine unter allen anderen. Darin gründet das Bewusstsein der Einsamkeit, wie es Octavio Paz in seinem Buch „Das Labyrinth der Einsamkeit“ herausgearbeitet hat, und darin wiederum die Sehnsucht, seine Einsamkeit zu überwinden, was einem Menschen teilweise in Gemeinsamkeiten und in der Liebe gelingt, aber das bleibt fragil und seinerseits vereinzelt. Jeder Mensch sieht sich in seinen Zielsetzungen – in dem, was ihm wichtig ist – als vereinzelt innerhalb der Welt und gewinnt so ein Bewusstsein von der Geringfügigkeit von sich und seinen Sorgen.
Man kann sich mit diesem Widerspruch zwischen Sich-wichtig-Nehmen und objektiver eigener Unwichtigkeit einfach abfinden (oder man verdrängt ihn), aber man kann ihn auch thematisieren. In diesem Fall tritt das meist nur am Rande und schattenhaft wahrgenommene Eigensein des vielen anderen ins Zentrum des Sehfeldes, es erscheint in der Reflexion auf das Ich als ebenso gegenwärtig, das Ich rückt seinerseits an den Rand des eigenen Bewusstseins, und es ist dieser Bewusstseinszustand, der sich am besten als Mystik bezeichnen lässt. Mystik, so gesehen, ist nicht ein Gefühl und auch nicht eine Erfahrung, sondern ein Wissen und eine entsprechende Haltung. Es ist, meine ich, diese Verbindung von ruhendem Gesammeltsein und gleichzeitigem das Selbst relativierendem Weltbewusstsein, was die fernöstlichen Künstler in den Buddha-Statuen zum Ausdruck zu bringen versuchen.
Nun ergibt freilich diese Einheit von Gesammeltsein und Weltbewusstsein noch keinen unzweideutigen Tatbestand. Er ist seinerseits historisch verschieden ausgedeutet worden. Deswegen ist „Mystik“ in dem vorhin beschriebenen Sinn immer noch ein Sammelbegriff. Ich will drei Ausdeutungen unterscheiden.
Die erste ist ungefähr die des Buddhismus selbst: Ihr zufolge versinkt das Selbst, indem es zurückgenommen wird, in einem Nichts, und genauso geschieht es mit dem vielen anderen, und das hat zur Folge, dass sich eine Idee von Alleinheit ergibt, die im Buddhismus als Leere bezeichnet wurde. Hierher rechne ich auch die Advaita-Lehre des Schankara und ebenso das, was Eckhart als Gottheit bezeichnet hat, jene Einheit, die jenseits aller Vielheit sein soll. Und sofern es meist auch in der Religion mystische Elemente gegeben hat, Vorstellungen von Selbstrelativierung und von Vereinigung mit Gott, stehen auch sie in diesem Umkreis. Alle gewöhnlichen Vorstellungen davon, wie „Mystik“ zu verstehen ist, gehören in diese erste Ausdeutung.
Als zweite Ausdeutung der mystischen Reflexion sehe ich die Position des Taoismus. Sie unterscheidet sich von der ersten dadurch, dass das Selbst angesichts der Welt und seiner Einheit – des Tao – nicht versinkt, sondern nur relativiert wird. Die für die erste Ausdeutung charakteristische Idee einer Alleinheit muss aus der Perspektive dieser zweiten Ausdeutung merkwürdig erscheinen. Wie kommt man auf diese Idee einer Alleinheit, die ja doch nicht empirisch vorgegeben ist? Vielleicht ergibt sie sich, weil man auf einen Halt nicht verzichten kann. Aber müsste dann diese Alleinheit nicht wieder, ähnlich wie schon die Religion, als Projektion angesehen werden, als etwas, was zur Befriedigung eines Bedürfnisses erfunden worden ist?
Man kann noch eine dritte Ausdeutung ins Auge fassen, in der auch derjenige Einheitsbezug, der noch im Tao enthalten ist, entfällt. Ich habe das schon in der Ausgangsbeschreibung vorweggenommen, indem ich nicht von der Welt, sondern von dem vielen anderen gesprochen habe. Zwar wird das Selbst dessen gewahr, dass es sich in der Welt befindet, aber das heißt doch nur: im Umfeld von allem anderen; die Welt ist nur etwas Formales, wie der Raum, sie ist keine eigene Instanz (das wäre nur ein theistisches Residuum). Gemäß dieser dritten Ausdeutung relativiert sich das Selbst nicht auf ein Eines hin, ob das nun Gott oder Welt heißt, natürlich allemal auch nicht auf einzelnes anderes hin, das zu ihm und daher zu seinen Zielen gehört, sondern auf das unbestimmt viele andere im Ganzen. Diese dritte Ausdeutung ist nicht einfach eine Konstruktion von mir, sondern sie bildet einen wesentlichen Bestandteil vieler mystischer Auffassungen, wie z. B. des Mahayana-Buddhismus mit seiner Lehre von der wechselseitigen Durchdringung aller Dinge und vom Mitgefühl für alle anderen Wesen sowie auch der Liebesidee im Christentum. Die christliche Liebe ist ja nicht eine Erweiterung der Liebe zum Einzelnen, die immer selbstisch ist, sondern sie ist ebenso wie das buddhistische Mitgefühl ein Verhalten sui generis, das, wenn es nicht wie im Judentum und Christentum einfach als Gebot Gottes verstanden wird, sich nur mystisch verstehen lässt als eine Haltung, die sich in der Selbstrelativierung ergibt.
Diese Liebesidee folgt nicht notwendig aus der dritten Ausdeutung des mystischen Bewusstseins, aber sie ist als die praktische Variante neben einer anderen, kontemplativen Deutung eine mögliche, ebenso wie es sich auch schon vorher immer nur um Möglichkeiten handelte: Menschen können, statt in ihren Zielen und Sorgen aufzugehen, sich in sich sammeln und eine affektive Ausgeglichenheit anstreben, sie müssen das nicht, und sie können in diesem Gesammeltsein sich angesichts der übrigen Welt relativieren, aber sie müssen auch das nicht, und sie können das dann (müssen es nicht) als Herzensgüte verstehen. Es bestand in der Mystik immer die Tendenz, den eigenen Weg als Wahrheit anzupreisen, ihn auf etwas angeblich Unausweichlichem aufzubauen. Man hat sich damit eine unnötige Beweislast aufgeladen. Ich meine, man sollte nicht mehr erreichen wollen, als zu zeigen, in welcher Weise die Mystik in ihren verschiedenen Verästelungen aus grundsätzlichen Aspekten des Menschseins erwächst und daher auch für uns eine realisierbare Möglichkeit geblieben ist, im Gegensatz zu anderen Haltungen wie der der Religion, die nach meiner Meinung mit der intellektuellen Redlichkeit heute nicht mehr vereinbar sind. Es erscheint mir sinnvoll, heute Mystik und Religion zu trennen, statt das Kind mit dem Bade auszuschütten.
Man könnte mir vorwerfen, dass ich allemal das Wort „Mystik“ missbrauche, da dessen übliche Verwendungen entweder religiös sind oder im Umkreis dessen stehen, was ich als erste Ausdeutung von Mystik bezeichnet habe. Aber wenn man die Sache ausweitet, liegt es nahe, auch die Verwendung des Wortes auszuweiten, und jedenfalls habe ich bisher kein besseres.
Ungefähr so weit war ich gekommen, und ich war gerade am Überlegen, wie ich nun den Übergang zu dieser Preisverleihung finden könne, als mich ein Buch von Emilio Lledó erreichte, das den Titel trägt „Elogio de la Infelicidad“, Lob des Unglücklickseins. Lledó erklärt, was er mit diesem Titel meint, indem er eine Dialektik beschreibt, wie Menschen ihr Glück und Unglück sehen können. Den Ausgangspunkt bildet die Vorstellung des Wohlergehens durch äußere Güter, und damit verbindet sich (anthropologisch ist das offenbar unausweichlich) das Mehr-haben-Wollen, die Pleonexie. Aber die Erfahrung, dass diese Form des Glücklichseins, die Prosperität, unweigerlich dem Zufall, der Kontingenz ausgeliefert ist, führt zu einem zweiten Glücksbegriff. Daher ist schon auf dieser ersten Stufe das Lob des Unglücklichseins angezeigt. Der nächste Glücksbegriff besteht für Lledó im inneren Gleichgewicht und in der Seelenruhe. Lledó hat sich als Humanist an der griechischen Antike orientiert, aber was er sagt, lässt sich unmittelbar auf die Mystik übertragen.
Was mich an seinen Ausführungen beeindruckt hat, war, dass er auch diesen zweiten Glücksbegriff als einen sieht, der durch ein erneutes Unglücklichsein, eine höhere Traurigkeit erst noch gebrochen werden muss. Denn das Gefühl des Gleichgewichts und der inneren Seelenruhe sieht sich dauernd bedroht durch das Bewusstsein des Elends, der Gewalt, der Grausamkeit, der die Menschheit in wachsendem Ausmaß ausgesetzt ist. Der, der innere Ruhe gefunden hat, kann sich gegen das Unglück der Menschen nicht abkapseln. So hat es auch der Mahayana-Buddhismus gelehrt. Was mir aber erst durch die Ausführungen von Lledó aufgegangen ist, ist dieser Gefühlsaspekt: dass der Mystiker, wenn er seine Selbstrelativierung in der Weise versteht, die ich als dritte Ausdeutung bezeichnet habe, nicht umhinkann, in seinen Seelenfrieden ein Moment von nicht selbstischem Unglücklichsein aufzunehmen, und in dieses kann ein Mensch vielleicht auch sein selbstisches Unglücklichsein integrieren.
Sich dem Unglück in der Welt aktiv auszusetzen, impliziert: mit-leiden. Dass ich das vorher nicht so klar gesehen habe, lag wohl daran, dass ich mich von dem verbreiteten Selbstverständnis der Mystiker habe verleiten lassen, die ihren Gefühlszustand so häufig als unvermischte Seligkeit beschrieben haben. Dabei ist diese Selbstdeutung schon in dem, was ich als erste Ausdeutung von Mystik bezeichnet habe, ganz unglaubhaft, denn wie soll das Ich, wenn es sich mit dem Sein, oder wie immer man es nennen will, eins weiß – das Atman, das Brahman ist oder wenn es sich im Nirwana auflöst –, noch irgendwelche menschlichen Gefühle haben können? In seiner zweiten Ausdeutung hingegen, im Taoismus und wohl auch in dem von ihm beeinflussten Zen-Buddhismus, handelt es sich nur um eine Erkenntnis und um gar kein Gefühl. In der dritten Ausdeutung hingegen, in der der Mystiker seine Selbstrelativierung so versteht, dass er sich den Wesen dieser Welt erneut, aber nun selbstlos zuwendet, befindet er sich wohl in einem Gefühlszustand, in dem Elemente sowohl von Heiterkeit wie von Traurigkeit enthalten sind. Ich habe darüber keine Klarheit, aber ich möchte noch einem Hinweis von Lledó nachgehen:
Unter den verschiedenen Ausdrücken, die er für Glück verwendet, gebraucht er auch einmal das altertümliche Wort „buenaventura“; und „bienaventurados“ ist der Ausdruck, der in der spanischen Bibelübersetzung für das „makárioi“ der Bergpredigt steht: „Selig sind die Unglücklichen.“ Es ist dieser Gedanke des Jesus von Nazareth, den Lledó aufzunehmen scheint und den er gleichzeitig umkehrt, denn er besagt ja jetzt: Nur die sind selig, die sich für die Unglücklichen öffnen, und d. h. mit-leiden, und es war natürlich diese Umkehrung, die auch gerade der Grundgedanke von Jesus selbst mit seinem universellen Liebeskonzept war.
Es gibt wohl keine andere historisch bekannte Gestalt, die so deutlich wie Jesus diese dritte Ausdeutung der Mystik repräsentiert. Jesus war ein Mystiker, aber er war es „in religiösem Gewand“, und das war für ihn als einen in der jüdischen Tradition Stehenden unvermeidlich. Gleichwohl hat er das Spezifische der jüdischen Tradition, die Gebote eines autoritären Gottes, verworfen oder jedenfalls relativiert. Für ihn galt die Tradition nichts, man denke nur an sein „Ich aber sage euch“. Jesus formulierte, was er meinte, u. a. so: „Ihr sollt vollkommen sein, denn euer Vater im Himmel ist vollkommen.“ Sowohl der Bezug auf einen Vater im Himmel als auch das „Ihr sollt“ ergibt sich aus seinem Verhaftetsein in der jüdischen Tradition. Was als Kernaussage übrig bleibt, ist seine Idee von selbstloser und universal verstandener Liebe, die er auch als Reich Gottes bezeichnete. Auch diesen Ausdruck muss man als Metapher verstehen. Die Begründung ist dann nicht mehr historisch und schon gar nicht die einer göttlichen Offenbarung, sondern anthropologisch, aber nicht im Sinn eines Muss, sondern nur, wie ich schon sagte, als Möglichkeit. Wenn Jesus sagte: „Das Reich Gottes ist schon unter euch“, so war ja mit diesem „ist“ nur gemeint „es könnte sein, es liegt an euch“, universell mitleidig zu sein (die Trauer der Welt auf euch zu nehmen). Es ist, als würde gesagt: Versucht es doch, und ihr werdet finden, dass ihr dann besser lebt. Das ist die Form, in der Mystiker sich ausdrücken. So lässt sich also meine scharfe Trennung von Religion und Mystik auch im Verständnis oder, wenn Sie so wollen, in der möglichen Aneignung von Jesus durchhalten.
Ob man wirklich sagen soll, wie Lledó es an der vorhin zitierten Stelle tut, dass das Unglück der Welt im Wachsen begriffen ist, kann man offen lassen. Gewiss sieht jede Zeit das gerade gegenwärtige Elend als besonders schwerwiegend an. Und man empfindet dasjenige Unglück als besonders schlimm, das nicht nur ein objektiver Tatbestand ist wie die Naturkatastrophen, sondern von Menschen verursacht wird, speziell wenn es sich um Verfolgung und Unterdrückung handelt, und man fühlt sich zusätzlich betroffen, wenn das Geschehen in einem Zusammenhang mit einem selbst steht. Als Jude stehe ich beschämt angesichts der Unterdrückung, der die noch im Westjordanland verbliebenen Palästinenser vonseiten ihrer jüdischen Besatzer ausgesetzt sind. Auch auf nichtjüdischer Seite steht man ja hierzulande dem Schicksal der Palästinenser nicht gleichgültig gegenüber, da man in der antisemitischen Vergangenheit Mittel- und Osteuropas eine indirekte Mitverantwortung sehen kann. So hoffe ich auf das Einverständnis der Identity-Stiftung, wenn ich den mir verliehenen Betrag an die vom Berliner Missionswerk getragene Schule „Melitha Kumi“ bei Bethlehem weiterleiten werde. „Melitha Kumi“ heißt auf Aramäisch „Mädchen, steh auf“. Dieses Institut, das im 19. Jahrhundert als Mädchenpensionat gegründet wurde, ist inzwischen zu einer koedukationalen, progressiven, auf Verständigung und Toleranz ausgerichteten Schule mit fast 1 000 Kindern ausgebaut worden, die vom Kindergarten bis zur Berufsausbildung reicht. Mir wurde zugesichert, dass die Spende vorrangig für die zusätzliche Aufnahme von muslimischen Kindern aus den drei Flüchtlingslagern in Bethlehem verwendet werden soll. Diese Schule ist einer der Lichtblicke innerhalb der schier ausweglosen Perspektive, in die die Palästinenser als Folge eines Konflikts geraten sind, der nicht von ihnen ausgegangen ist.
Die zionistischen Juden sind in Palästina nicht einfach eingewandert, sondern mit der erklärten Absicht, dort einen eigenen Staat zu gründen, eine Einstellung, die nur aus dem damaligen europäischen Superioritätsbewusstsein heraus zu verstehen ist. Der Zionismus war von Anfang an eine nationalistische und daher potenziell aggressive Deutung des Judentums; er ist in den ersten Jahrzehnten seines Entstehens von der Mehrheit der Juden abgelehnt worden, und er wird es weiterhin von vielen. Da man befürchten muss, dass die israelische Siedlungspolitik auf die Annexion von Restpalästina hinausläuft (die Zahl der so genannten Siedler beträgt inzwischen weit über 200 000), muss man sich beklommen fragen: soll es denn uns Juden nur möglich gewesen sein, der Vernichtung zu entgehen, indem wir das Schicksal der Vertreibung auf ein anderes Volk abwälzen? Wie immer man sich dazu stellen mag, ich danke der Identity-Stiftung ganz herzlich, dass sie mir diese Spende ermöglicht.
© Le Monde diplomatique, Berlin Ernst Tugendhat, geboren 1930 in Brünn (heute Brno in der Tschechischen Republik), war bis 1992 Professor für Philosophie der Freien Universität Berlin und lebt heute in Tübingen. Wichtigste Schriften: „Vorlesungen zur Einführung in die sprachanalytische Philosophie“ (1976), „Selbstbewußtsein und Selbstbestimmung“ (1979), „Vorlesungen über Ethik“ (1993). Am 5. Dezember 2005 wurde ihm in Berlin der von der Identity Foundation gestiftete Meister-Eckhart-Preis verliehen. Wir drucken eine leicht gekürzte Fassung seiner Dankesrede.