13.01.2006

Lauter Blaupausen

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Lauter Blaupausen

Dass Wirtschaftssysteme neben Waren und Märkten auch besondere Lebensläufe produzieren, gehört seit Jahrhunderten zu den Programmen einer politischen Ökonomie. Denn unter den neuzeitlichen Versuchen, einen verlässlichen und „neuen“ Menschen zu erzeugen, hat einzig der ökonomische Mensch überlebt, ein Exemplar, das in der Alltagswelt ebenso wie in der Theorie funktioniert und zu den wichtigsten abendländischen Kultur- und Exportartikeln gezählt werden muss.

Wo und wann immer dieser ökonomische Mensch einmal entstanden ist, sei es in den oberitalienischen Handelskontoren der Renaissance, sei es in den ökonomischen Lehrbüchern des 18. Jahrhunderts, sei es als „frei handelndes“ Subjekt der Aufklärung oder als jener unruhige Unternehmergeist, dem man die Kolonialisierung der Welt verdankt – in all seinen Variationen hat sich dieser ökonomische Mensch als erfolgreichstes Menschenformat bewährt. Er hat sich bewährt, weil er sich – wie sein strahlendster Held, Robinson Crusoe – als eine kleine Insel der Rationalität in einer unübersichtlichen, zufälligen und unvernünftigen Welt verhielt. Er wusste seine Leidenschaften in Interessen, Interessen in Vorteile zu verwandeln und hat nichts weiter verlangt, als dass jedermann dasselbe versuche und die eigenen Interessen mit denen der anderen vertausche. Geschäft war für ihn Geschäft nur, weil es sich von allem anderen unterschied und nicht auf Gut und Böse, Gerecht und Ungerecht, sondern einzig auf das Kriterium von Zahlungen, von Gewinn und Verlust setzte. Dafür wurde ihm eine besondere Lebensbahn in Aussicht gestellt, die als Karriere und wie im Buch verlief: als stetig voranschreitendes Leben, das mit jedem erfolgreichen Schritt zu weiteren erfolgreichen Schritten führt und glücklich seine eigene Verlaufszeit kapitalisiert.

So oder ähnlich sah die Idylle eines ökonomischen Menschen aus, dessen Epoche nun zu Ende geht. Dabei sind es gerade seine professionellen Fürsprecher, Management und Ökonomik, denen die alten und erprobten Qualitäten nicht mehr genügen. Mit einem letzten Innovationsschub ist man auf ungehobene Ressourcen gestoßen und verlangt von der neueren Ökonomie, dass sie die Grenzen des Ökonomischen überschreitet und die Kapitalien der Lebens- und Beziehungswelt erschließt. Wirtschaftlich ist – so haben es Ökonomen und Nobelpreisträger wie Gary S. Becker dekretiert – demnach alles: die Familie und der Sex, die Ferien und das Verbrechen, die Freundschaft und die kleine persönliche Unvernunft. Was seit den 1960er-Jahren „Humankapital“ heißt, ist zu einem eminenten Posten des Ökonomischen gerade deshalb geworden, weil in ihm die Unterscheidung zum Nichtökonomischen nicht mehr gilt.

Das ist das Programm eines „ökonomischen Imperialismus“, der sich auf nicht marktförmige Sachlagen bezieht. Der Kapitalismus ist zu einer intensiven Größe geworden, das Soziale ist das Ökonomische selbst. Haushalte werden als kleine Fabriken, Individuen als Mikrounternehmen definiert, und eine neoliberale Regierungskunst entfaltet sich dort, wo man die ökonomischen Akteure nicht bloß als Arbeitende, Tauschende, Produzierende und Konsumierende, sondern als Blaupausen „ganzer Menschen“ adressiert, mit all ihren Fähigkeiten, Fertigkeiten, Einbildungen und Wünschen. Der alte ökonomische Mensch, ein rational fool, ist zum ganzheitlichen Normaltyp mutiert.

Das zeigt sich nicht zuletzt in der Liquidierung symbolischer Demarkationen. Organisationsstrukturen werden verflüssigt, und die tätigen Individuen finden sich als Arbeitsnomaden in einer Grauzone zwischen Häuslichkeit und Büro, Beruf und Privatheit, persönlichen und professionellen Verhältnissen eingestellt. Die Schlagworte von Management und Ökonomik bieten einen Überblick, wie sich Wirklichkeit programmieren lässt: Lebenslanges Lernen, Flexibilität und die Herrschaft des Kurzfristigen verlangen die Auflösung stabiler Identitäten und reservieren die Zukunft für ein wolkiges, stets wandelbares und vervielfältigtes Ich. Wer die Ratgeberliteratur für Lohnempfänger aufschlägt, wird dementsprechend über das Ende beruflicher Routinen, über das Ende erwartbarer Lebenswege und Karrieren belehrt; der Identitätszwang ist dem Zwang zum Nichtidentischen gewichen.

Der reformierte ökonomische Mensch wird also mit weichem Kern und unscharfen Rändern geboren und findet seinen Halt weder im Leben noch im Beruf, sondern in Rollen, die allenfalls in Fantasy, im neuen Markt der Fiktionen existieren. Ein Krieger, der nach Abenteuern auszieht; der wundertätige Schamane; der Heiler oder Heiland, der in höchster Not interveniert; ein hilfreicher Zauberer oder ein fahrender Sänger, der alle beglückt – diese und andere Avatare sollen (so heißt es) die Verwandlung des self-made man in ein man-made self erleichtern und die geschäftsmäßige Ich-Schwäche mit dem Glauben an eine dauerhafte Mission kompensieren. Wie immer das im Büro funktionieren mag: Die Bewirtschaftung des Sozialen ruft offenbar esoterische Fantasien auf den Plan, in denen sich die Lebensläufe ebenso verzaubern wie das, was einmal „Gesellschaft“ war. Die Gesetze von Fantasy haben die Ausstattung des Subjekts und seiner Rollen übernommen.

Joseph Vogl

© Le Monde diplomatique, Berlin Joseph Vogl ist Professor für Theorie und Geschichte künstlicher Welten an der Bauhaus-Universität Weimar.

Le Monde diplomatique vom 13.01.2006, von Joseph Vogl