14.06.2013

Reise nach Jerusalem

zurück

Reise nach Jerusalem

von Volker Heise

Audio: Artikel vorlesen lassen

Nun bin ich zurück in Berlin, und draußen regnet es, als wollte ein Monsun über die Stadt herfallen. In Jerusalem dagegen, sagt das Smartphone, sind es 27 Grad, und ein blauer Himmel wölbt sich über die Stadt. Am letzten Tag dort, nach drei Monaten Dreharbeit, war ich in der judäischen Wüste, auf einer Wanderung. Der Weg führte durch ein Wadi und schließlich hoch auf einen Hügel, der einen weiten Blick versprach bis hinunter zum Toten Meer. Oben angekommen – verschwitzt, müde, verbrannt von der Sonne – traf ich evangelische Christen aus Deutschland an. Sie waren mit dem Bus heraufgekommen und sangen zur Gitarre: „Wenn du Jesus kennst, bist du nicht einsam mehr.“ Danach beteten sie für den Frieden.

Nach Jerusalem bin ich über die 443 gefahren, eine Straße, die israelische Siedlungen in der Westbank mit dem Kernland verbindet und Palästina durchschneidet. Links und rechts sind Zäune oder Mauern, Palästinensern ist das Betreten verboten. Wer von der einen Seite der Straße auf die andere will, weil sein Haus hier und seine Felder dort liegen, muss weite Umwege in Kauf nehmen über einem Checkpoint oder durch einen Tunnel unter der Straße. Es gibt auf der Strecke eine Tankstelle, auch sie umzäunt. Aber hinter dem Zaun, den Berg hinab, liegt ein provisorischer Parkplatz. Früh am Morgen klettern palästinensische Arbeiter von dort hinauf, kriechen durch eine Lücke im Zaun und lassen sich nach Jerusalem oder Tel Aviv zur Schwarzarbeit mitnehmen. Kurz vor Jerusalem liegt ein israelisches Gefängnis für palästinensische Häftlinge. Es ist aus den gleichen Betonelementen errichtet wie die Mauer, die die Stadt von der Westbank trennt und bei deren Anblick alte Berliner nach Luft schnappen.

Aber ich bin wieder zurück in Berlin. Kreuzberg, zweiter Hinterhof, zweiter Stock. Ein Zimmer mit Blick auf einen Schulhof, vor mir Monitore und auf der anderen Seite der Wand Festplatten, auf denen mehr als 500 Stunden Filmaufnahmen von Jerusalem gespeichert sind: Bilder von einem innerstädtischen Flüchtlingslager, das sich über die Jahre in einen mehrstöckigen Slum verwandelt hat; von der Altstadt, wo sich freitags Touristen und Gläubige durch schmale Straßen drängen, vorbei an Geschäften, deren Besitzer „welcome, my friend“ flüstern, im Rücken Stapel antiker Schalen oder Teppiche; von der Grabeskirche, wo sich russische Pilger auf den Boden werfen, um die Steinplatte zu küssen, auf der Jesus nach der Kreuzabnahme gelegen haben soll. Ein Muslim, der wie die fleischgewordene Karikatur eines Islamisten aussieht, mit langem Bart und wallendem Gewand, und der im Basar unter dem Felsendom Broschüren verteilt, in denen steht, der jüdische Tempelberg sei eine Erfindung der Zionisten. Ein Schlachthof in Atarot, an der Grenze zu Ramallah, wo Hühner in Fleisch verwandelt werden mit einem Schnitt durch die Kehle. Der Schlachter muss Jude sein, sonst ist das Fleisch nicht koscher, alle anderen am Fließband sind Palästinenser. Gackern, Federn, Schnitt; Gackern, Federn, Schnitt. Brust, Bein, Flügel. Herz und Leber.

Unser Plan war, mit 60 Filmteams – jeweils Regie, Kamera, und Ton – die Wirklichkeit der Stadt Jerusalem zu erforschen. Jedes Team sollte einem Protagonisten einen Tag lang folgen und am Ende sollte das Material zu einem Fernsehprogramm zusammengesetzt werden, das ebenfalls einen Tag lang ausgestrahlt wird und in Echtzeit den Wahnsinn der Stadt erzählt – was um 9 Uhr passiert, sollte auch um 9 Uhr gesendet werden. Wir hatten ein ähnliches Projekt schon einmal durchgeführt, in Berlin, und wollten das Format zuerst im September letzten Jahres mit israelischen und palästinensischen Partnern gemeinsam realisieren. Eine Woche vor Drehbeginn riefen palästinensische Organisationen zum Boykott gegen das Projekt auf, weil es eine Normalität vorspiegle, die es in Jerusalem nicht gebe, denn die Tatsache der Okkupation erlaube keine Normalität zwischen Besatzern und Besetzten. Daraufhin setzten wir den Drehtag aus.

Die Tage begannen schon damals mit den Sicherheitshinweisen der UN, mit fortgesetzten Unruhen, Warnungen vor dem Einsatz von scharfer Munition bei Demonstrationen und vor Raketen, die vom Gazastreifen aus abgefeuert werden. Die Stadt wurde 1948 geteilt: der Westen israelisch, der Osten palästinensisch. Israel hält den Osten seit dem Sechstagekrieg 1967 besetzt. Die Stadt wurde von den zwei palästinensischen Erhebungen, der ersten und der zweiten Intifada, erschüttert.

Seit zehn Jahren schneidet die Mauer Jerusalem von seinem Hinterland im Osten und damit vom palästinensischen Autonomiegebiet ab. Die israelische Bürokratie macht den Palästinensern in der Stadt das Leben bitter: Baugenehmigungen werden nicht erteilt, Land wird konfisziert, die Infrastruktur im Ostteil ist in erbärmlichem Zustand. Dazu kommt eine Politik der knappen Pässe und Ausweise, der Kontrollen und der schleichenden Vertreibung. Während Israel auf dem eigenen Territorium noch behaupten kann, die einzige Demokratie im Nahen Osten zu sein, tritt sie in den besetzten Gebieten als Polizeistaat auf. Als Zeichen des Widerstands haben palästinensische Organisationen zum Boykott aller israelischen Institutionen, Behörden und Einrichtungen aufgerufen.

Im Winter haben wir versucht, das Projekt auf neue Beine zu stellen. Es gab Gespräche in Jerusalem und Ramallah, in Nazareth und Bethlehem, in Tel Aviv und Jericho. Gespräche mit Politikern, mit Aktivisten, mit Regisseuren. Beide Lager, das israelische und das palästinensische, haben ihre historischen Erzählungen, die ihre Ansprüche auf das Land begründen. Politische Diskussionen führen in wenigen Augenblicken zwei- oder dreitausend Jahre zurück und krallen sich an den Steinen und Ablagerungen der Stadt fest. Nirgends ist Archäologie so politisch, und nirgends ist es so unmöglich und vielleicht auch nirgends so naiv, einfach nur Wirklichkeit berichten zu wollen. Denn die Wirklichkeit ist ein zäher und umkämpfter Gegenstand.

Schließlich schälte sich eine Lösung heraus: Das Projekt sollte ausschließlich mit europäischen Geldern finanziert und für europäische Sender produziert werden. Es würde jeweils 20 europäische, israelische und palästinensische Teams geben, die unabhängig voneinander ihre Themen suchen und realisieren. Es würde um die Realität einer Stadt gehen, in der Normalität nicht auf der Tagesordnung steht. Mit diesem Plan konnten palästinensische Mitstreiter gewonnen werden. Die Vorbereitungen für den Drehtag begannen, er wurde auf den 18. April festgelegt.

In Berlin läuten die Glocken von der Kirche gegenüber. Der Weg zum Bäcker führt an sechs Stolpersteinen vorbei mit den Namen von Juden, die in unserer Nachbarschaft einmal gewohnt haben und vertrieben und ermordet wurden. Ich erinnere mich an eine Fahrt von Ramallah nach Jerusalem. Wir saßen im Auto fest, kurz vorm Checkpoint Kalandia. Das Freitagsgebet in den Moscheen war vorüber. Tage zuvor war in israelischer Haft ein palästinensischer Häftling ums Leben gekommen. Die Gerüchteküche brodelte, und der Zorn hatte die Straße erfasst, demonstrierende Jugendliche waren angeschossen und schwer verletzt worden. Das Gelände vor dem Checkpoint war übersät mit Steinen, Autoreifen brannten, Molotowcocktails hatten israelische Wachtürme getroffen, und in der Luft hing noch der Geruch von Tränengas.

In Ramallah hatte es neue Aufrufe und Gerüchte gegen unser Projekt gegeben, gleichzeitig gingen die Vorbereitungen für die Dreharbeiten weiter. Vielleicht muss es so sein, dieses Hin und Her, dachte ich damals, am Checkpoint. Vielleicht darf in einer Stadt, in der niemand weiß, was der nächste Tag bringt, bis zum Drehtag nicht feststehen, ob er überhaupt stattfindet. Vielleicht würde sich dadurch die Wirklichkeit in Jerusalem umso stärker in die Bilder brennen und die Spuren jener halb irrsinnigen, halb begründeten Paranoia, die durch alle Ritzen der Stadt sickert, sich auch auf den Festplatten finden.

Aber der Druck nahm zu. Über soziale Netzwerke wurden Gerüchte verschossen: Mal waren wir Handlanger des Weltzionismus, mal nützliche Idioten von Benjamin Netanjahu, mal hieß es, der israelische Bürgermeister persönlich würde die Einsätze der Teams planen. Es war haarsträubend, ein Dickicht an falschen Informationen, deren Urheber im Hintergrund blieben, während unsere Verzweiflung wuchs. Ein Brief der PLO gab grünes Licht, andere Gruppen riefen wieder zum Boykott auf. Aber weder Regisseure noch Protagonisten stiegen aus. Sie wollten die Chance ergreifen und die Wirklichkeit ihrer Stadt erzählen in einem Projekt, das mehr als einen Blickwinkel erlaubt. Dann kamen die Anrufe.

Sie kamen meistens abends oder nachts. Die Anrufer waren anonym und sagten: Wir wissen, wo du wohnst. Wir kennen dein Auto. Du hast Frau und Kinder. Du willst doch weiter Arbeit bekommen. Die Angst ging um, einige Kollegen stiegen aus, einige Protagonisten stiegen aus, die meisten blieben. Auch einer Boykottbewegung, deren berechtigtes Ziel das Ende der israelischen Okkupation ist, darf nicht zugestanden werden, dass sie sich zum Herrn und Zensor der Erzählungen zu macht und entscheidet, was und was nicht berichtet wird.

Aber ich habe gut reden, ich bin zurück. Am zweiten Tag in Berlin nahm ich das Fahrrad, um mir die neuen Gebäude in der Stadt anzusehen. Jeden Tag wird eine Lücke geschlossen, die die Geschichte hinterlassen hat, und mit jeder Lücke verliert die Stadt etwas mehr von der Illusion, jemals schön oder elegant zu werden. Am ehemaligen Checkpoint Charly stellen arbeitslose Schauspieler in den Uniformen der Alliierten Visa für die untergegangene DDR aus. Nicht weit entfernt sind Überreste der Mauer. Wer will, kann Führungen buchen durch die Bunker des Dritten Reiches. Es fühlt sich an wie Archäologie, aber es sind nicht einmal 70 Jahre vergangen.

Volker Heise ist Regisseur in Berlin. © Le Monde diplomatique, Berlin

Le Monde diplomatique vom 14.06.2013, von Volker Heise