14.06.2013

Unsere Toten in Bangladesch

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Unsere Toten in Bangladesch

von Olivier Cyran

Unsere Toten in Bangladesch
New York - Dhaka

Der gläserne Turmbau ragt wie ein Solitär in den Himmel. Man fühlt sich an einen Wolkenkratzer in der Londoner City erinnert, aber hier, am Ufer des Hatirjheel-Sees, steht er mitten in einem riesigen Slum. In dem Glitzerding residiert die Vereinigung der Textilproduzenten und -exporteure von Bangladesch (Bangladesh Garment Manufactures and Exporters Association, BGMEA).

Anders als das Gebäude an der Rana Plaza, bei dessen Einsturz am 24. April 1 129 Menschen ums Leben kamen, ist der BGMEA-Turm noch intakt. Dabei hat der oberste Gerichtshof von Bangladesch am 19. März verfügt, dass er innerhalb von drei Monaten abgerissen werden muss. Der Turm wurde ohne Baugenehmigung hochgezogen, noch dazu auf einem kommunalen Grundstück, das sich der Industrieverband ohne jede rechtliche Grundlage, aber gedeckt durch das Handelsministerium angeeignet hatte. Die BGMEA hat gegen das Urteil Revision eingelegt. Wie immer das Verfahren ausgeht – niemand kann sich vorstellen, dass das „Krebsgeschwür von Hatirjheel“, wie es die Richter nennen, demnächst abgerissen wird.

Am Eingang trifft der Besucher als Erstes auf salutierende Uniformträger. In Dhaka gibt es nicht viele Touristen, deshalb hält man hier jedes Bleichgesicht für einen Einkaufsmanager von Mango, Benetton oder H & M, den die Wachleute und Pförtner in Habachtstellung empfangen müssen. Die Besucher lassen sich den herrschaftlichen Status gern gefallen. Ihre Distanz zu den normalen Bangladeschern ist in der Broschüre „Dhaka Calling“ angedeutet, die den Gästen der großen Hotels den Rat auf den Weg gibt: „Lachen Sie nicht über die Menschen, die durch Armut krank geworden sind, machen Sie sich nicht über sie lustig.“

Ich habe Dhaka Anfang April besucht. Zwei Wochen später sackte das Fabrikgebäude an der Rana Plaza in sich zusammen. Es war der schlimmste Fabrikunfall in der Geschichte Bangladeschs, aber beileibe nicht der erste. Am 26. Januar 2013 starben in Dhaka acht Arbeiter bei einem Brand in der Fabrik Smart Garment Export (mit 300 Beschäftigten eher ein Kleinbetrieb).

Die Fabrikanten und ihre Strohmänner in der Politik

„Sie waren alle unter 16“, erzählt die Ethnologin Saydia Gulrukh, die einen Verein zur Unterstützung der Opfer der Textilindustrie gegründet hat. Wenige Wochen zuvor, am 24. November 2012, war in einem nördlichen Vorort der Hauptstadt in der Fabrik Tazreen Fashions ein Feuer ausgebrochen. Nach offiziellen Angaben gab es 112 Tote und mehrere hundert Verletzte.

Tazreen Fashions beschäftigte 1 630 Arbeitskräfte, die sich auf neun Etagen drängten. Die meisten waren junge Frauen aus den ärmsten Landesteilen, die ihre Familie ernähren wollten. Für 3 000 Taka (30 Euro) Monatslohn nähten sie zehn Stunden pro Tag und sechs Tage in der Woche Kleider zusammen, für große internationale Marken wie Disney, C & A und Walmart oder den französischen Textilkonzern Teddy Smith. Die leicht brennbaren Stoffe lagerten im Erdgeschoss direkt neben der Treppe, entgegen den elementarsten Sicherheitsvorschriften. Die Notausgänge waren verriegelt, was in Bangladesch üblich ist, um zu verhindern, dass die Belegschaft Material mitgehen lässt. Die eingesperrten Opfer verbrannten bei lebendigem Leibe oder sprangen aus dem Fenster in den Tod. Unternehmenschef Dolwar Hossain wurde nie festgenommen, auch laufen gegen ihn bislang keine juristischen Ermittlungen. Vielleicht weil er Mitglied im Verband der Textilproduzenten ist?

Um diese Frage zu klären, bin ich mit dem BGMEA-Präsidenten Atiqul Islam verabredet. Er ist der wichtigste Industrierepräsentant des Landes, denn die Textilbranche beschäftigt 4 bis 5 Millionen Menschen und produziert 80 Prozent der Exportgüter; damit ist Bangladesch nach China der zweitgrößte Kleidungsexporteur der Welt. Atiqul Islam ist erst seit einem Monat im Amt; die Wahl des jungen, weitgehend unbekannten Unternehmers kam für viele überraschend. „Das ist eine unbedeutende Figur ohne Erfahrung oder Profil“, meint einer, der sich in der Branche auskennt. „Man hat ihn zum Präsidenten befördert, weil er leicht zu beeinflussen ist, so können die Bosse im Hintergrund bleiben und unauffällig die Fäden ziehen.“

Im Dezember 2012 hieß es nach einer der äußerst seltenen Inspektionen der BGMEA, vier Fabriken seien gefährlich, weil Bauauflagen missachtet worden seien. Eine der vier war die Fabrik von Rose Dresses Limited in Ashulia, deren Besitzer Atiqul Islam ist. Der wurde drei Monate nach dem Report zum Präsidenten der BGMEA gewählt. Da allgemein bekannt ist, dass der allergrößte Teil der 5000 Textilbetriebe des Landes die Gesetze offen missachtet, liegt der Verdacht nahe, die Inspektion sei angeordnet worden, um den künftigen Arbeitgeberpräsidenten in die Ecke zu drängen und ihm klarzumachen, dass seine Unterstützer ihn in der Hand haben.

Während ich auf den BGMEA-Präsidenten warte, geht mir durch den Kopf, was mir der Wirtschaftswissenschaftler Anu Mohammed von der Universität Jahangirnagar über die ökonomische Entwicklung seines Landes erzählt hat: „Bangladesch hat nicht immer unter dem Diktat der Modeindustrie gelebt. Bis Mitte der 1980er Jahre war der Anbau von Jute der wichtigste Wirtschaftsfaktor. Dann kamen IWF und Weltbank und setzten durch, dass die Staatsausgaben gekürzt und alles privatisiert wurde. Das ruinierte die einheimische Industrie. Die Arbeitslosigkeit stieg massiv an, ebenso wie die Abhängigkeit von Importen. Für die Funktionäre der großen Parteien, die Offiziere in Armee und Polizei und die Söhne aus gutem Hause war das ein gefundenes Fressen.“ Sie alle investierten nun in die Textilindustrie, denn die Anreize waren unwiderstehlich: niedrige Lohnkosten, durch die Privatisierung der Staatsbetriebe geschwächte Gewerkschaften, Abschaffung der Zölle auf Einfuhr von Maschinen für die Exportindustrie. Den Rest regelte die Korruption.

Das war auch für Europa und die USA attraktiv, die diese Strategie mit der Öffnung ihrer Märkte für Textilien made in Bangladesh belohnten. 2001 erklärte der damalige EU-Außenhandelskommissar Pascal Lamy in Dhaka, die Europäische Union werde Bangladesch helfen, „sich besser in das globale Handelssystem zu integrieren, indem sie neue Handelsmöglichkeiten erschließt und einen erweiterten Zugang zu den Märkten begünstigt“.

Diese „Öffnung“ nutzte vor allem die Textilbranche. Deren Umsatz stieg zwischen 2000 und 2012 um mehr als das Dreifache, von 4,8 auf 20 Milliarden Dollar. Goldman Sachs war begeistert: Im Juni 2012 nahm die New Yorker Bank das Land, das immer noch zu den ärmsten der Welt zählt, in seine Liste der „Next Eleven“ auf, der Länder also,die künftig zu den aufstrebenden Brics-Mächten (Brasilien, Russland, Indien, China und Südafrika) aufschließen könnten.

Die überaus profitable Textilindustrie brachte eine neue Elite hervor, die im SUV durch die Gegend fährt, im Pizza Hut isst (was in Dhaka als superschick gilt), Golf spielt und ihre Sprösslinge zum Studium in die USA schickt. „Die Mode verspricht schnelles Geld, ein lukratives Mittel, um in andere Branchen zu investieren oder sich ins Parlament wählen zu lassen“, erklärt der Ökonom Anu Mohammed. Zwar seien nur 29 der 300 Abgeordneten offiziell Besitzer einer Textilfabrik, aber man müsse noch die vielen anderen dazuzählen, die sich hinter Strohmännern verstecken: „In Bangladesch findet man kaum noch Leute in Machtpositionen, die nicht mit dem Textilsektor verbandelt sind. Und an den politischen Schalthebeln sitzt natürlich die BGMEA.“

In der Zentrale der Textilarbeitgeber lässt Atiqul Islam immer noch auf sich warten. Aber einer seiner Vertrauten leistet mir im Vorzimmer Gesellschaft. Hassan Shahriar Chowdhury ist gerade aus den USA zurückgekommen, wo er angeblich mit Kongressabgeordneten über eine „Anti-Terror-Sache“ gesprochen hat. Der Luftwaffenoffizier und bekennende Angela-Merkel-Fan besitzt keine Textilfabrik, wie er mir erzählt. Was tut er dann hier in der BGMEA? Er überhört die Frage, zeigt sich aber erfreut, mit einem französischen Journalisten zu plaudern. „Ich liebe Frankreich. Wissen Sie, Bangladesch will zwei U-Boote kaufen. Gewöhnlich kaufen wir unsere Waffen in China. Ich kenne die Premierministerin Sheikh Hasina gut. Deshalb habe ich ihr ins Ohr geflüstert, sie solle doch besser französische U-Boote kaufen. Die sind zwar teurer, aber es gibt dort weniger Korruption, meinen Sie nicht auch?“ Als ich ihn skeptisch anschaue, wechselt er das Thema und zeigt mir unaufgefordert sein Adressbuch. „Als Journalist interessiert es Sie vielleicht, meine Cousine zu treffen, die Ministerin für Frauenfragen ist? Ich kann Ihnen auch die Chefredakteure der wichtigsten Zeitungen bieten, alles Freunde von mir.“

Unser Gespräch wird durch den Auftritt von Atiqul Islam beendet. Umringt von fünf Beratern verkündet der Industriellenchef, das Interview sei abgesagt. „Sie brauchen eine Akkreditierung vom Innenministerium“, sagt er mit düsterer Miene, „sonst kann ich nicht mit Ihnen sprechen, vor allem nicht über derart heikle Themen.“ Als ich zum Aufzug zurückgehe, sehe ich auf der Glasscheibe, hinter der Manager und Sekretärinnen herumwuseln, einen Zettel angeklebt. Die Botschaft lautet: „Weniger reden, mehr arbeiten.“

Welche Macht die BGMEA besitzt, versteht man am besten, wenn man mit den Überlebenden des Tazreen-Unglücks spricht. Mit Sherin, einem Aktivisten der Textilarbeitergewerkschaft NGWF, die der Kommunistischen Partei nahesteht, fahre ich nach Ashulia.

Wir lassen das unglaubliche Chaos von Dhaka allmählich hinter uns und bewegen uns durch eine Mondlandschaft voller Schornsteine, in deren schwarzem Rauch zerlumpte Jugendliche Lehmziegel in die Öfen schieben. Mit den Backsteinen werden Wohnanlagen für die Mittelklasse gebaut, aber auch Fabriken weiter im Norden. Wir biegen von der Straße ab und fahren auf einem kleinen unbefestigten Weg bis zum ausgebrannten Skelett eines von Bambusgerüsten umgebenen Betonklotzes: die Ruine von Tazreen Fashions, wo bis vor Kurzem noch Hemden für C & A hergestellt wurden.

Panische Angst und verschlossene Türen

Nasreen ist 25 Jahre alt, sieht aber aus wie eine 40-Jährige. Viele der Überlebenden sind schnell in ihre Heimatdörfer zurückgekehrt. Sie aber ist in Nishchintapur geblieben. So heißt das Schlafquartier mit den ruhigen, fast idyllischen Straßen, das sich um die Fabrik herum ausgebreitet hat.

Am 24. November um 18.50 Uhr saß Nasreen an ihrer Nähmaschine im zweiten Stock, als sie die Sirene hörte. „Der Vorarbeiter sagte uns, es sei nur eine Übung, wir sollten sitzen bleiben“, erzählt sie mit tonloser Stimme. „Dann heulte die Sirene noch einmal. Es roch schon verbrannt, die Leute wurden langsam panisch. Der Vorarbeiter wollte uns immer noch nicht weglassen, aber wir sind trotzdem gerannt. Es gab zwei Türen, eine war offen, die andere verschlossen. Das Treppenhaus, das man durch die offene Tür erreichte, stand bereits in Flammen. Das andere Treppenhaus mit der verschlossenen Tür brannte nicht. Hätten wir da runterlaufen können, wären alle noch am Leben.“ Auch einige Fenster waren verschlossen. Mit Hilfe einiger Kollegen schaffte es Nasreen, eines davon zu öffnen. Sie sprang hinaus und brach sich ein Bein. Bis heute wird sie von Albträumen verfolgt und hat panische Angst davor, wieder in eine Fabrik gehen zu müssen.

Doch Nasreen hat keine Wahl. Die einzige Unterstützung, die sie bekommen hat, waren „25 Kilo Reis, 25 Kilo Zwiebeln und 1 Liter Öl“. Allein von dem kargen Lohn ihres Mannes kann die Familie nicht leben. Sie wird also ihre Albträume überwinden und sich wieder an eine Nähmaschine setzen müssen.

Wenn in Bangladesch eine Fabrik abbrennt oder einstürzt, zahlt die BGMEA den Opfern eine Entschädigung: Verletzte erhalten 100 000 Taka (1 000 Euro) für die medizinische Versorgung, die Familie eines Todesopfers bekommt 600 000 Taka (6 000 Euro). Der Fabrikbesitzer und auch die Justiz halten sich völlig heraus. Aber diese Brosamen kommen nur bei wenigen Glücklichen an. Denn die Listen der Opfer stellt die BGMEA selbst zusammen. Und die meisten Beschäftigten haben keinen Arbeitsvertrag, weil ihre Einstellung nur mündlich vereinbart wurde. Zahlreiche Opfer können also ihre Betriebszugehörigkeit gar nicht belegen. Und sich ein Bein brechen oder ins Herdfeuer fallen kann ja jeder.

Bei dem Brand in der Tazreen-Fabrik ist die Beweislage noch komplizierter, weil viele Leichen nicht mehr identifiziert werden konnten, erzählt Saydia Gulrukh, die Opferfamilien betreut. Nach ihrer Auskunft wurden mindestens 27 bei dem Brand getötete Arbeiterinnen von der Liste gestrichen. Andere sprechen von weit mehr als den offiziellen 112 Toten. „Es waren vier- oder fünfmal so viel; die offizielle Statistik hat mit dem, was sich hier wirklich abgespielt hat, nichts zu tun“, empört sich Shilpee, die den Brand ebenfalls überlebt hat. Fast jede ihrer Kolleginnen könne Personen nennen, die nicht lebend aus der Fabrik herausgekommen sind, aber von der BGMEA nicht als Opfer anerkannt werden. „Die Ausrede lautet, man habe ihre Identität nicht feststellen können. Aber welche Spuren kannst du hinterlassen, wenn du tot bist und nicht einmal deine Familie im Dorf davon weiß?“

Die Tazreen-Ruine rauchte noch, als die Premierministerin bereits im Namen der Regierung erklärte, die Brandursache sei ein „Sabotage-Akt“, was in Bangladesch so viel bedeutet wie: Die Islamisten sind schuld. Wollte man mit dieser merkwürdigen Anschuldigung, die danach durch keinerlei Indizien erhärtet werden konnte, die Fabrikbesitzer und damit die BGMEA schützen? Anu Mohammed ist fest davon überzeugt. Das beweist für ihn schon die Tatsache, dass nach dem Unglück nichts unternommen wurde: „Es gab keine Untersuchung der Brandursache, der Fabrikant und seine Vorarbeiter wurden nicht verhaftet, man hat keinerlei Brandschutzrichtlinien verabschiedet. Abgesehen von den Opfern selbst stellt niemand Forderungen an den Arbeitgeber Dolwar Hossain. Seit Monaten taucht sein Name in den Zeitungen nicht mehr auf, es ist, als habe er niemals existiert.“

Auch Hossains ausländische Kunden haben seinen Namen aus ihrem Gedächtnis gestrichen. Am 15. April luden die internationale Gewerkschaft IndustriALL und mehrere NGOs die von Tazreen belieferten Markenhersteller nach Genf ein, um einen Entschädigungsfonds einzurichten. Der Disney-Konzern lehnte die Einladung ab: Donald Ducks Freunde erklärten, sie hätten nach dem Brand bei Tazreen bereits das Land verlassen und seien nach Kambodscha oder Vietnam weitergezogen. Auch Walmart lehnte kategorisch ab. Anfangs hatte der Konzern jede Verbindung zu Tazreen bestritten, dann aber eine Kehrtwendung vollzogen und die Verantwortung auf die Prüfgesellschaft abgewälzt, die diese Modellfabrik als regelkonform zertifiziert hatte. Der Chef von Teddy Smith, Philippe Bouloux, der in seinem Pariser Laden nahe der Oper einen kompletten „Rock-’n’-Roll-Look“ für 163 Euro im Angebot hat, ist weder am Telefon noch per E-Mail zu erreichen. Eine seiner Mitarbeiterinnen, die ich endlich erwische, ringt sich die Erklärung ab: „Wir sind nur eine ganz kleine Firma, wir haben kein Geld, um nach Genf zu fahren.“

Bei Carrefour fällt man bei meinem Anruf scheinbar aus allen Wolken. Die größte französische Supermarktkette, die in Dhaka eine Filiale namens Carrefour Global Sourcing Bangladesh unterhält, gibt immerhin zu, Kunde bei Dolwar Hossains Firma Tuba Group zu sein. Aber man bestreitet energisch, jemals einen Auftrag bei Tazreen platziert zu haben. In der Tat besaß Hossain mindestens zehn Fabriken, und die bei Carrefour verkauften T-Shirts müssen nicht unbedingt aus der Todesfalle stammen. Doch dieses Argument ist keinen Pfifferling wert, sagt uns ein Kenner der Textilbranche von Bangladesch: „Wenn ein Kunde einen Auftrag erteilt, dann geht er nicht an diese oder jene Fabrik, sondern an den Hersteller. Der unterschreibt den Vertrag, die Sozial-, Ethik- und Umweltabkommen und den ganzen Kram. Bei einem Großauftrag, und darum handelt es sich natürlich bei einem Kunden wie Carrefour, wird der Hersteller die Produktion auf alle seiner Fabriken verteilen. Im konkreten Fall wurden die anderen Tuba-Group-Fabriken, die bereits einen Produktionsstau hatten, durch Tazreen entlastet. Carrefour musste das wissen. Warum hätten sie die Fabrik sonst von ihrer Liste streichen sollen, wo es doch überhaupt keinen Unterschied zu den anderen gab?“

Doch Carrefour beharrt auf seinem Standpunkt: „Wir haben unsere Standards und unsere Prüfberichte, danach haben wir Tazreen als Produktionsstätte offiziell abgelehnt. Wir passen genau auf“, erklärt mir Bertrand Swiderski, Leiter der Abteilung für nachhaltige Entwicklung. Ich frage, ob ich diese fabelhaften Berichte einsehen kann, aber die sind leider „vertraulich“.

Dafür schickt mir Swiderski die „Sozialcharta“ des Unternehmens, auf die man dort besonders stolz ist und von allen ausländischen Herstellern unterzeichnen lässt. Das Dokument mutet an wie ein Bukett aus Glanzpapier auf dem Massengrab der Näherinnen. So heißt es etwa im Kapitel zur Vereinigungsfreiheit: „Die Arbeiter haben das Recht, der Gewerkschaft ihrer Wahl beizutreten oder eine Gewerkschaft zu gründen und Kollektivverhandlungen zu führen, ohne vorherige Zustimmung der Betriebsleitung.“ Dolwar Hossain hat diese sanfte Mahnung ganz gewiss fröhlichen Herzens abgezeichnet. In den Fabriken seines Konzerns ist jede Form gewerkschaftlicher Organisation streng verboten, wie es sich in Bangladesch von selbst versteht.

Das beweist uns die Geschichte von Faizul (der in Wirklichkeit anders heißt). Wir treffen den ehemaligen Tazreen-Arbeiter in einer der kleinen, unbefestigten Gassen von Nishchintapur. Der leere, wellblechgedeckte Raum ist das lokale Büro der Textilarbeitergewerkschaft NGWF (National Garments Workers Federation). Der Gewerkschafter Faizul ist für den Bezirk Ashulia zuständig, nur darf das offiziell niemand wissen: „Wenn du in der Fabrik das Wort ‚Gewerkschaft‘ aussprichst, wirst du sofort entlassen und findest danach keine Arbeit mehr. Bei Tazreen hatten wir etwa hundert organisierte Arbeiter, aber natürlich geheim. Am Arbeitsplatz kam das nie zur Sprache.“

Nach dem Brand versammelten sich die Überlebenden spontan in seinem Büro, verzweifelt angesichts ihrer Ohnmacht, aber zum Handeln entschlossen, berichtet Faizul: „53 unserer Genossen sind verbrannt. Wir waren empört über den Boss, der sie in den Tod getrieben hatte, und auch auf die Regierung und die BGMEA, die ihn gedeckt haben. Aber wir wussten nicht, was wir tun sollten.“ Konnte man nicht ein Flugblatt verfassen, ein Meeting organisieren, in anderen Fabriken zum Streik aufrufen? Angesichts der Naivität des französischen Besuchers kann Faizul nur seufzen: „Das ist hier alles gar nicht möglich. Beim ersten Flugblatt würde dich die Polizei festnehmen. Und du würdest nie wieder Arbeit finden.“

Auf die Frage, was denn die Gewerkschaft seit dem Brand habe tun können, antwortet Faizul: „Ich habe Kontakt mit Arbeitern aus anderen Fabriken aufgenommen, damit sie überprüfen, ob die Türen und Notausgänge unverschlossen bleiben, wie es die Arbeitgeber zugesichert haben.“ Und wenn das nicht der Fall ist? „Dann schreiben uns die Genossen eine SMS. Hier hat jeder ein Handy, so verständigen wir uns.“

Es wird nicht ganz klar, ob Faizul nicht direktere Aktionsformen bevorzugen würde: Unser Gespräch wird von einem Gewerkschaftsfunktionär aus Dhaka beaufsichtigt. Wir trinken den angebotenen Ingwertee aus. Bevor Faizul uns zurück zum Wagen begleitet, reicht er mir ein Passbild seiner Frau. Auch sie hat wie er selbst bei Tazreen gearbeitet. Bei dem Brand sprang sie aus dem dritten Stock in den Tod.

Die Vermittlungsagenturen zwischen ausländischen Unternehmen und heimischen Lieferanten nennt man hier „Einkaufshäuser“. Rund 200 davon gibt es in Bangladesch. Das Einkaufshaus von Nizam Uddin legt Wert auf die Feststellung, dass alle seine Kunden – die meisten von ihnen Europäer – selbst nach Bangladesch kommen, um die Fabriken zu besichtigen: „Wir nehmen sie in Empfang, sorgen für ihr Wohlergehen und kümmern uns um alles.“ Im Obergeschoss herrscht ein gedämpftes Stimmengewirr, ein Dutzend Telefonisten nehmen die Bestellungen auf; im Keller arbeiten drei Schneider stumm an den Modellen, gemäß der technischen Vorgaben der Auftraggeber.

„Unser wichtigster Kunde hat seine Bestellmenge reduziert, deshalb müssen wir neue Käufer finden. In dreizehn Jahren ist uns das jetzt zum ersten Mal passiert“, seufzt Nizam Uddin. Der elegant gekleidete Firmenchef präsentiert in einer Ecke seines Büros die Pokale und Medaillen, die er beim Golf gewonnen hat, seine „Leidenschaft“, wie er sagt.

Ich wundere mich, dass in Uddins Betrieb voll gearbeitet wird, obwohl die islamistische Oppositionspartei Dschamaat-i-Islami einen Streik ausgerufen hat, der Dhakas Straßen leergefegt hat. Der Unternehmer zuckt mit den Schultern: „Ach, das juckt uns nicht. Egal, auf welche Partei sie hören, die Demonstranten greifen uns nicht an. Manchmal zünden sie Autos oder Geschäfte an, aber die Fabriken lassen sie in Ruhe.“ Und dann erklärt er, dass die BGMEA in allen großen Parteien ihre Leute habe. Aktuell unterstütze sie die Awami-Liga der Premierministerin Sheikh Hasina, aber sie unterhalte genauso gute Beziehungen zu den Nationalisten von der BNP (Bangladesh Nationalist Party) oder den Islamisten von der Dschamaat.

Der passionierte Golfspieler stellt mir einen seiner Mitarbeiter vor. Der Franzose Georges Paquet ist 67 und raucht Gitanes, die er aus Dubai mitbringt, wo er die Hälfte des Jahres lebt. Nach Bangladesch kam er erstmals 1994, jetzt steht er „am Ende seiner Karriere“, daher spricht er frei von der Leber weg. „Wir machen hier alles“, erklärt Paquet, „sogar Inkontinenzunterhosen, die in Frankreich im Supermarkt verkauft werden. Das Problem ist, dass meine Kunden den Preis immer weiter drücken. Was wollen die – dass die Leute umsonst arbeiten?“

Die europäischen Markenhersteller kalkulieren mit einem Gewinnfaktor von sieben, das heißt, sie verkaufen die Produkte aus Bangladesch zum Siebenfachen, manchmal auch zum Zehnfachen des Einkaufspreises.

„Für die Profitgier gibt es keine Grenzen“, kommentiert Paquet. Er hat erlebt, wie alte Kunden von einem Tag auf den anderen zu einem Konkurrenten wechseln, der einen bestimmten Artikel für 10 Cent weniger anbietet: „Hier herrscht eine unglaubliche Doppelmoral. Stellen Sie sich vor, im selben Augenblick, als die Firmenchefs von H & M bei der Premierministerin saßen, um bessere Arbeitsbedingungen in den Fabriken von Bangladesch zu fordern, handelten ihre Einkaufsmanager einen 15-prozentigen Rabatt auf die Preise ihrer Lieferanten aus. ‚Damit müsst ihr klarkommen, der Rest interessiert uns nicht‘, das ist ihre Philosophie.“

Auf den Brand bei Tazreen angesprochen, hebt Paquet die Augen gen Himmel und atmet tief durch. „Dolwar Hossain kenne ich seit zehn Jahren. Er ist ein guter und frommer Mann; die Moschee in seinem Viertel hat er aus eigener Tasche finanziert. Anfangs war ich sein zweitbester Kunde, aber der Erfolg hat ihn besoffen gemacht. Er kaufte eine Fabrik nach der anderen, insgesamt ein Dutzend, und plötzlich war er Chef eines Konzerns, der 65 Millionen Dollar Jahresumsatz machte. Er hat die Kontrolle verloren. Vor dem Brand bei Tazreen war er schon seit einem Jahr nicht mehr in der Fabrik gewesen.“ Dass sein einheimischer Freund der juristischen Verfolgung entgeht, stellt für den französischen Bangladeschveteranen kein Problem dar. „Glauben Sie nur nicht, dass er in Saus und Braus lebt: Tazreen hat ihn einen Arm und ein Bein gekostet, wie man auf Englisch sagt. Dolwar steckt bis zum Hals in Schulden, er hat keinen einzigen Kunden mehr; alle lassen ihn links liegen, sogar seine Freunde aus der BGMEA. Was wollen Sie? Dass er ins Gefängnis kommt?“

Zu schade, dass Paquet diese Frage nicht mit Rehanna diskutieren kann, die mir in diesem Augenblick ins Gedächtnis kommt: Die junge Tazreen-Arbeiterin hatte tatsächlich einen Arm und ein Bein verloren, nachdem sie durch ein Lüftungsrohr in die vierte Etage hochgekrochen und von dort aus in die Tiefe gesprungen war, um den Flammen zu entkommen. Seitdem bewegt sie sich mit Hilfe einer Holzschubkarre, zu einem Rollstuhl reicht es nicht.

Die Überlebenden von Ashulia können nichts dafür tun, dass ihr Schicksal den Belegschaften der anderen Fabriken erspart bleibt. „Es wird noch mehr Katastrophen geben, die vielleicht noch schlimmer sein werden als diese“, meint ein junger Mann, dessen Arm in eine schmutzige Binde gewickelt ist.

Das glaubt auch die Ethnologin Saydia Gulrukh: „Das Tazreen-Unglück hat rein gar nichts an der miserablen Situation der Textilarbeiter und an der Gleichgültigkeit der Oberschicht geändert.“ Man müsse mit weiteren Schreckensnachrichten aus Bangladesch rechnen. Natürlich werde es kosmetische Verbesserungen geben, damit die BGMEA ihre ausländischen Kunden und die wiederum ihre Konsumenten beruhigen können. „Aber es wird sich nichts ändern, solange das System nicht aufgelöst und auf einer völlig neuen Grundlage rekonstruiert wird.“

Zwei Wochen nach dieser Prophezeiung starben an der Rana Plaza zehnmal mehr Menschen als beim Brand der Tazreen-Fabrik. Der Kommentar von Finanzminister Abul Maal Abdul Muhith lautete: „Ich glaube nicht, dass es wirklich ernst ist. Es ist nur ein Unfall.“

Aus dem Französischen von Sabine Jainski Olivier Cyran ist Journalist.

Wie vor 100 Jahren in New York

Der Brand vom 24. November 2012 in der Fabrik Tazreen Fashions in Bangladesch, der mindestens 112 Todesopfer forderte, ruft die Erinnerung an längst vergangene Zeiten wach. Leicht entflammbare Textilien, verriegelte Notausgänge, um die Angestellten besser überwachen zu können, Arbeiterinnen, die sich auf der Flucht vor den Flammen in die Tiefe stürzen, und Überlebende, die keine Gerechtigkeit erfahren: All dies lässt an ein Ereignis denken, das über hundert Jahre zurückliegt.

Am Nachmittag des 25. März 1911 brach in der New Yorker Textilfabrik Triangle Shirtwaist Company ein Brand aus. Das Unternehmen in Manhattan beschäftigte etwa 500 Angestellte, vor allem junge jüdische und italienische Einwanderinnen, die einen Dollar pro Tag verdienten – genauso viel wie hundert Jahre später ihre Kolleginnen in Bangladesch. Schnell standen das achte, neunte und zehnte Stockwerk des Hochhauses in Flammen. Die Notausgänge waren auf Anordnung der Geschäftsleitung verriegelt, und so verbrannten die eingesperrten Arbeiterinnen bei lebendigem Leibe oder starben beim Sprung aus dem Fenster.

„Ich habe ein neues Geräusch gehört, das zu schrecklich ist, als dass man es beschreiben könnte. Es ist der dumpfe Klang, wenn ein lebender Mensch im freien Fall auf dem Bürgersteig aufschlägt“, schrieb der Journalist William G. Shepherd, der sich damals unter den Zuschauern vor dem Fabrikgebäude befand. Bei dem Brand kamen 146 Menschen ums Leben, er gilt bis heute als schlimmster Industrieunfall in der Geschichte New Yorks.

Die Wiederholung der Geschichte hat die Menschen in Dhaka ebenso erschüttert wie in New York. Nicht nur wegen des Schicksals der jungen, ungeschützten und heimatlosen Frauen – im einen Fall Immigrantinnen, im anderen Landflüchtlinge –, sondern auch wegen der Unantastbarkeit der Fabrikanten: Der Eigentümer von Tazreen blieb von der Justiz ebenso unbehelligt wie seine beiden New Yorker Vorgänger, die freigesprochen wurden, nachdem sie die Versicherungssumme kassiert hatten.

Die beiden Geschichten unterscheiden sich jedoch in einem wichtigen Punkt: Während die Tazreen-Katastrophe an den Machtverhältnissen in Bangladesch nichts änderte, löste der Triangle-Brand einen Arbeiteraufstand aus, der dazu führte, dass einige historische Arbeitsschutzgesetze und Sicherheitsvorschriften für die Textilfabriken erlassen wurden.

Im Jahr 1911 war New York der wichtigste Lieferant für die US-amerikanische Modeindustrie. Doch Dhakas Textilfabriken nähen für Markenhersteller aus der ganzen Welt. Das dürfte auch einer der Gründe sein, warum ein vergleichbares Ereignis nicht dieselben Folgen hatte. „In Bangladesch herrscht die einfachste Form der Kapitalakkumulation, die am Tropf der globalen Konzerne hängt“, meint der Ökonom Anu Mohammed. O. C.

Le Monde diplomatique vom 14.06.2013, von Olivier Cyran