10.02.2006

Wie hält es die europäische Linke mit Hugo Chávez?

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Wie hält es die europäische Linke mit Hugo Chávez?

von Klaus Meschkat

Hugo Chávez, der Gastgeber beim Weltsozialforum in Caracas, steht außenpolitisch gestärkt da, vor allem durch den Wahlsieg seines potenziellen Bundesgenossen Evo Morales in Bolivien und durch die Ausweitung der wirtschaftlichen Kooperation mit Brasilien und Argentinien. Doch innenpolitisch sieht es anders aus: Wer immer gedacht hatte, die Parlamentswahlen in Venezuela am 4. Dezember 2005 könnten ein Schritt zur wechselseitigen Anerkennung einer durch Wahlen legitimierten Regierung und einer verfassungsmäßigen Opposition sein, wurde enttäuscht. Die Parteien der Opposition gegen Chávez zogen ihre Teilnahme in letzter Minute zurück, obwohl sie die geforderten Garantien für einen fairen Wahlverlauf erhalten hatten. Aber auch der Aufruf von Chávez zu einer deutlichen Bestätigung seiner Politik blieb ohne die gewünschte Wirkung: Bestenfalls 25 Prozent der Wahlberechtigten gingen am 4. Dezember an die Urnen, selbst die meisten seiner Anhänger verzichteten darauf, die nunmehr ohne nennenswerte Opposition fortexistierende Nationalversammlung durch ihre Wahlbeteiligung zu sanktionieren. Dies wiederum veranlasst die Opposition, dem gewählten Parlament jede Legitimität abzusprechen. Die Polarisierung des Landes setzt sich weiter fort.

Es scheint, dass Chavisten und Antichavisten keine gemeinsame Welt mehr teilen: Räumlich ist die Stadt Caracas in Territorien getrennt, in denen die einen oder die anderen ihre Stützpunkte haben, und es gibt mindestens seit dem Amtsantritt von Chávez auch keine gemeinsame Geschichte, auf deren Grundzüge man sich verständigen könnte. Zuerst die räumliche Trennung, die schon im Sprachgebrauch ihren Ausdruck findet: Die Viertel der Begüterten sind urbanizaciones, nicht etwa barrios, ein Ausdruck, der den Armenvierteln vorbehalten bleibt. Um die soziale Basis des „Chavismus“ zu verstehen, muss man den Weg in diese barrios finden, in die Welt der „Ausgeschlossenen“, die zu Hunderttausenden in den großen Elendssiedlungen wohnen, in El Valle, in La Vega, in Petare. Wer eine noch nicht sanierte Behausung in einem dieser Viertel von innen gesehen und mit ihren Bewohnern gesprochen hat, der kennt fortan ein anderes Venezuela und ahnt zumindest, warum die Menschen in solchen barrios den unterstützen, der ihnen etwas vorzeigen kann, was auf eine künftige Verbesserung ihrer Lage hoffen lässt.

Dieselbe Geschichte verschieden erzählt

Der räumlichen Trennung entspricht die der jüngsten Zeitgeschichte. Seit dem überwältigenden Wahlsieg des ehemaligen Putschisten Hugo Chávez, der anfänglich auch eine breite Unterstützung bis in Kreise des Unternehmertums hinein genoss, vollzog sich seit 2001 eine Polarisierung, die in den Putsch vom April 2002 mündete. Nicht nur die Interpretation, sondern sogar der schiere Ablauf der Ereignisse ist umstritten: Bei den Anhängern von Chávez ist es die Geschichte der wundersamen Rettung ihres Führers vor den finsteren Machenschaften der Reaktion, bei der das Volk, das seiner Absetzung widerstand und ihn zurückrief, letztlich der ausschlaggebende Faktor war. In der Darstellung der Antichavisten kommt dieses Volk aus den barrios überhaupt nicht oder nur am Rande vor.

Hier laufen die Ereignisse von einer gewaltigen Massenkundgebung der Opposition, die durch chavistische Heckenschützen behindert wurde, zum Eingreifen des Militärs gegen einen Präsidenten, der die Verantwortung für die Erschießung friedlicher Demonstranten trug, bis hin zur Wiedereinsetzung von Chávez durch verantwortungsbewusste Offiziere, die vom rechten Extremismus des provisorischen Unternehmerpräsidenten Carmona angeekelt waren. Das einfache Volk ging demnach erst auf die Straße, als besonnene Militärs schon ein Machtwort gesprochen hatten.

Auch bei der Darstellung des zweiten Versuchs, Chávez in die Knie zu zwingen, nämlich des Streiks beim staatlichen Erdölkonzern PDVSA zur Jahreswende 2002/2003, sind die Versionen unvereinbar. Für die Antichavisten war es ein legitimer Streik aller wohlgesinnten Bürger des Landes gegen eine diktatorische Regierung; die Anhänger von Chávez betonen, dass der politische Streik mit Sabotage an der Produktion verbunden war und das Land an den Rand der ökonomischen Katastrophe brachte. Nicht einmal die vom Carter-Zentrum und von der Organisation Amerikanischer Staaten bestätigte Niederlage der Opposition beim Referendum im Sommer 2004 wird in ihrem Geschichtsbild anerkannt.

Wenn es schon in der bloßen Darstellung der jüngsten Zeitgeschichte keinerlei Übereinstimmung gibt – wie soll sich der Außenstehende ein Bild davon machen, was Tag für Tag wirklich passiert, wo tatsächlich die Schwachstellen der Regierung liegen, was ihre wirklichen Erfolge sind? Das Problem ist, dass fast alle Gesprächspartner immer schon ihr Resümee parat haben und nichts gelten lassen, was den Gegner in eine günstigeres Lichte setzen könnte. Die Basisaktivisten verachten die Universitätsintelligenz, die mehrheitlich gegen Chávez ist, weil deren Ablehnung des „Prozesses“ nun ihren wahren Klassencharakter als schwankende Kleinbürger enthüllt habe, die zur Reaktion überlaufen, wenn es ernst wird.

Die Antichavisten halten jeden, der diesen „Prozess“ einfach aus der Nähe betrachten will, allein schon deshalb für das sichere Opfer offizialistischer Manipulation, also bestenfalls für bedauernswert naiv. Am schlimmsten sind für die Chávez-Gegner diejenigen, die den immerhin frei gewählten und in seinem Amt bestätigten Präsidenten kritisch unterstützen: Für sie gilt das vernichtende Schimpfwort chavismo light.

Für einen Linken (und im Gegensatz zu manchen Freunden möchte ich dieses Wort nicht in Anführungszeichen setzen) sollte es mehrere Gründe geben, die Politik von Chávez vor allen Einwänden und aller Reserve erst einmal positiv zu würdigen: Erstens ist sie demonstrativ darauf gerichtet, mit konkreten Maßnahmen, die aus den Erträgen der Erdölwirtschaft finanziert werden, das elende Los der Bevölkerungsmehrheit im Lande zu verbessern – und wird von dieser Bevölkerungsmehrheit auch so wahrgenommen.

Zweitens ist durch diese Politik ein Freiraum für ungezählte Basisaktivitäten entstanden, die zumeist nicht von oben angestoßen oder manipuliert werden. Schließlich zielt sie im Außenverhältnis auf eine vertiefte wirtschaftliche Zusammenarbeit mit den südamerikanischen Ländern, die ebenfalls bestrebt sind, sich der uneingeschränkten US-amerikanischen Vorherrschaft zu entziehen und – wenn auch immer noch im Rahmen einer kapitalistischen Weltwirtschaft – ein kontinentales Gegengewicht zu den USA zu schaffen.

Dennoch gibt es gewichtige Einwände gegen eine uneingeschränkte Identifizierung mit der „bolivarianischen Revolution“:

1. Die Rolle von Hugo Chávez selbst in ihrer Ambivalenz. Die Unentbehrlichkeit einer herausragenden Führerfigur kann ein Linker nur mit größter Reserve betrachten, auch wenn er nicht sofort in den Politologenchor und sein Lied vom Populismus einstimmen möchte. Wenn grundlegende Richtungsentscheidungen nicht das Ergebnis öffentlicher Diskussionen innerhalb der Linken sind, sondern in langen Sonntagsreden als Eingebungen eines Heilsbringers in die Welt gesetzt werden, müssen Zweifel daran erlaubt sein, dass dieses pittoreske Verfahren auf die Dauer als Basis einer revolutionären Politik taugen kann.

Allerdings muss man zugeben, dass ebendiese extreme Fixierung an eine Person paradoxerweise unabhängige Aktivitäten an der Basis möglich macht: Bisher kann sich nämlich fast jeder mit eigenen Ideen auf Chávez berufen und „innerhalb des Prozesses“ (der bolivarianischen Revolution) ansiedeln: Es gibt (noch) keine monolithische Partei, die ihn der Abweichungen von einer (auch gar nicht vorhandenen) Generallinie überführen könnte.

2. Zweifel an der Nachhaltigkeit mancher Maßnahmen, die unter Umgehung eines für reformunfähig gehaltenen staatlichen Apparats durchgeführt werden. Die so genannten Missionen beruhen auf dem Einsatz von Mitteln aus den Überschüssen der staatlichen Erdölgesellschaft in gezielten Programmen, die den Unterprivilegierten spürbare Verbesserungen bringen sollen: bessere Gesundheitsversorgung, Zugang zur Bildung von der Alphabetisierung bis zum Erwerb der Hochschulreife, billigere Waren in subventionierten Läden, Vorbereitung auf die Gründung genossenschaftlicher Betriebe.

Dass der Einsatz von 20 000 kubanischen Ärzten, die im Gegensatz zu ihren venezolanischen Kollegen auch selbst in den Elendsvierteln wohnen, dort die medizinische Grundversorgung verbessert hat, steht außer Frage. Wie sich diese Maßnahmen auf lange Sicht mit den bestehenden Einrichtungen des Gesundheitswesens verknüpfen, ob es gelingt, venezolanische Ärzte einzubeziehen, ist ebenso unklar wie etwa das Verhältnis der existierenden öffentlichen Universitäten zu deren „bolivarianischem“ Gegenstück. Und wie viele der Einjahreskurse der Berufsausbildung von Vuelvan Caras in die Gründung lebensfähiger Genossenschaften einmünden, kann erst die Zukunft zeigen.

3. Sicherheitslage und Korruption. Unbestreitbar ist, dass Caracas in Hinblick auf steigende Kriminalität zu den unsichersten Städten Lateinamerikas zählt und dass sich diese Lage seit dem Amtsantritt von Chávez 1999 noch verschlechtert hat. Auch wenn man die Monate der Wirren mit Staatsstreichversuchen und von Sabotageabsichten begleiteten politischen Streiks abrechnet, steht Hugo Chávez immerhin seit nunmehr fast sieben Jahre an der Spitze eines Staatsapparats, der nach gängigen Vorstellungen für die Sicherheit seiner Bürger verantwortlich sein sollte. Verweist dieses Defizit vielleicht auf die Unfähigkeit, den Staatsapparat insgesamt zu kontrollieren? Hinzu kommt das Problem der ständig zunehmenden Korruption auch bei dem neuen staatlichen Personal, das Chávez selbst in fast jeder Rede anspricht.

4. Das Verhältnis zu Kuba und zur kubanischen Revolution. Kein Linker wird Chávez deshalb kritisieren, weil er Kuba mit Erdöllieferungen zu günstigen Bedingungen unterstützt und als Gegenleistung den Einsatz gut ausgebildeter kubanischer Ärzte in den Elendsvierteln Venezuelas erhält. Angesichts der US-Blockade gegen Kuba sollte es für ein progressives Regime selbstverständlich sein, die wirtschaftlichen Schwierigkeiten Kubas kompensieren zu helfen. Etwas anderes ist die Überhöhung dieser gegenseitigen Hilfe zu einem mystisch verklärten revolutionären Bündnis, in dem Hugo Chávez langsam von dem alternden Fidel die Rolle der Symbolfigur für eine lateinamerikanische Revolution übernimmt.

Welche Rolle dabei das Erbe der kubanischen Revolution (oder was davon übrig geblieben ist) als Vorbild für Venezuela spielt, bleibt ziemlich unklar und kann unterschiedlich gedeutet werden. Bei einer demonstrativen Anlehnung an Kuba besteht immer die Gefahr, neben den positiven Erfahrungen etwa bei der Alphabetisierung und im Gesundheitswesen auch fragwürdige Errungenschaften eines anscheinend konsolidierten politischen Systems zu übernehmen, wie die Gängelung und Gleichschaltung einer kritischen Intelligenz.

Wenn Chávez in seiner Fernsehsendung „Aló Presidente“ am 21. August 2005 von Kuba aus verkündet: „Hier gibt es ein System revolutionärer Demokratie. Es ist nicht die klassische westliche Demokratie, die sie uns aufgezwungen haben. In Kuba gibt es eine Demokratie von unten“, dann drängt sich die Frage auf, ob eine solche idealisierende Bewertung auf Chávez’ Vorstellungen von einer künftigen Demokratie in Venezuela verweisen könnte.

5. Politischer Pluralismus und die Legitimität einer Opposition. Je mehr sich Hugo Chávez in seine Rolle als Heilsbringer für ganz Lateinamerika hineinsteigert, desto unwahrscheinlicher wird es, dass er einen Sinn für die Legitimität und Notwendigkeit einer politischen Opposition gegen die Perpetuierung seiner Herrschaft entwickeln wird. Die real existierende Opposition, die sich in Teilen durch unverantwortliche Demagogie und sogar Bereitschaft zum Putsch profiliert hat, dürfte ihn kaum zum politischen Pluralismus bekehren.

Opposition sein heißt einfach gegen Chávez sein

Dass sich eigenständige politische Formationen in Gestalt politischer Parteien herausbilden, die den Sozialismus anders definieren als Chávez selbst und ihn zum Beispiel von links her angreifen, hat er bisher kaum erfahren müssen: Eine solche neue Konstellation, die sich gerade herauszubilden scheint, könnte zum Prüfstein seiner demokratischen Grundüberzeugung werden.

Die Liste der Vorbehalte und Einwände gegen Chávez ließe sich verlängern – und dennoch kann sie kein Grund sein, ins Lager seiner Gegner überzulaufen. Was sich in Venezuela Opposition nennt, definiert sich bisher schlicht durch die Gegnerschaft zu Chávez, und schon dies leistet der verhängnisvollen Logik der Polarisierung Vorschub. Von außen betrachtet, erscheint die Selbstdefinition der Oppositionellen häufig rätselhaft: Was hat der kritische Intellektuelle, der sich aus begründeter Ablehnung bestimmter Regierungsmaßnahmen gegen Chávez stellt, mit einem korrupten „gelben“ Gewerkschaftsführer zu tun, der mit demagogischen Sprüchen die Machtfrage stellt und aus seinen Staatsstreichgelüsten keinen Hehl macht? Weshalb bestehen renommierte Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, die in akademischen Foren bedenkenswerte regierungskritische Analysen vortragen, nicht auf einer angemessenen Vertretung der Gegenseite? Stattdessen treten sie gemeinsam mit Ideologen auf, die mit geringem intellektuellem Aufwand ihren ungezügelten Hass auf Chávez vortragen. Gerade nach den Erfahrungen des Putschs von 2002 können nur Teile der so genannten Opposition „demokratisch“ genannt werden. Leider verschließen sich viele im Oppositionslager der einfachen Überlegung, dass es auch in Venezuela weit schlimmere Zustände geben könnte als die von ihnen abgelehnte Herrschaft von Chávez. Denn die ist mit einem Ausmaß an Freiheit verbunden, das anderswo in Lateinamerika kaum vorstellbar ist. Man denke nur an private Massenmedien, in denen die Regierung nicht nur kritisiert, sondern hemmungslos angegriffen und verleumdet wird – in einer Weise, die auch in anderen demokratischen Ländern die Grenzen des Zulässigen weit überschreiten würde, in moralischer wie in juristischer Hinsicht.

Nach dem selbst verschuldeten Niedergang der traditionellen Parteien stellen die großen Zeitungen und das private Fernsehen und Radio den Kern der Opposition dar. Neben der unverantwortlichen Demagogie in zahlreichen Kommentaren, die den schlimmsten demagogischen Entgleisungen von Chávez um nichts nachsteht, fällt ein beängstigender Provinzialismus ins Auge: Es geht fast immer um die Anprangerung der Fehler des Chávez-Regimes, und jenseits der obligatorischen Denunziation des kubanischen Einflusses fehlt jede internationale Einbettung der venezolanischen Entwicklung. Dafür wird das fundamentalistische Weltbild Washingtons vom internationalen Kampf gegen den Terrorismus platt übernommen. Diese unkritische Einstellung gegenüber den USA, deren friedensfeindliche Politik im Weltmaßstab in der Regel verschwiegen oder beschönigt wird, ist schon bestürzend.

Die Presse hat ihre Glaubwürdigkeit verloren

Glücklicherweise gibt es vielfältige Informationsquellen, auch abseits einer polarisierten und polarisierenden Tagespresse, die ihre Glaubwürdigkeit weitgehend eingebüßt hat. Die Menschenrechtsorganisation Provea gehört dazu. In ihren verdienstvollen Jahrbüchern wird analysiert, in welchem Umfang unter der gegenwärtigen Regierung neben den politischen auch die wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Menschenrechte verwirklicht sind und wo wirklich Menschenrechtsverletzungen zu registrieren sind. So kann der Leser an vielen Stellen überprüfen, welche der behaupteten Errungenschaften des Chavismus den Tatsachen entsprechen und wo es Defizite gibt, die verschwiegen werden. Eine hohe Sensibilität für künftige Möglichkeiten staatlicher Willkür (etwa unakzeptable Einschränkungen der Pressefreiheit bei exzessiver Anwendung neuer Gesetze) ist sicher besser als eine Blindheit für Gefahren, die sich bereits abzeichnen.

Mangelware sind leider theoretisch gehaltvolle Analysen der venezolanischen Gegenwart. Im antichavistischen Lager gibt es hochkarätige Intellektuelle, die in manchen ihrer jüngsten Schriften jeden Sinn für Proportionen vermissen lassen, bis hin zu ehemaligen Kritikern der dependencia, die jetzt Demokratie und (kapitalistische) Marktwirtschaft für untrennbar erklären und Loblieder auf den Kapitalismus singen. Basisaktivisten mit hohem Reflexionsniveau, von denen man gern richtungweisende Interpretationen des revolutionären Prozesses lesen würde, betätigen sich unermüdlich als Organisatoren. Sie machen also lieber Tag für Tag neue Erfahrungen, statt zu versuchen, diese dann auch einmal zu verallgemeinern. Das lässt den Ideologen freien Raum: Da gibt es merkwürdige externe Sinnstifter der bolivarianischen Revolution, die sich einer recht eigenwilligen Terminologie bedienen, um eine Art Schrumpfmarxismus mit obskurantistischen Versatzstücken als Quintessenz des Chavismus zu verkünden.

Und die internationale Solidarität? In Erinnerung an Chile und Nicaragua sollte es doch möglich sein, nicht wieder alle Fehler zu wiederholen, die in früheren Solidaritätsbewegungen begangen wurden: das Hochjubeln von Führergestalten politisch-militärischer Organisationen, die blinde Identifizierung mit den Kämpfern anderswo, die immer schon deshalb im Recht sind, weil sie dem US-Imperialismus mutig widerstehen, die Übernahme aus der Mode gekommener realsozialistischer Rituale, die ihre erste Blüte in der Stalinzeit hatten. Auf dieser Linie liegt für mich die Wiederaufnahme der Tradition der Weltjugendfestspiele, die 1947 als Jubelveranstaltung für Josef Stalin begonnen hatten. Hugo Chávez hat es eigentlich nicht nötig, sich auf diese Weise unter der Regie bewährter Jugendfunktionäre bejubeln zu lassen.

Realsozialistische Rituale haben etwas von einer ansteckenden Krankheit, die alle uns bekannten Befreiungsbewegungen infiziert hat, besonders wenn sie die Regierungsgewalt übernommen haben. Sie kommen der Autoritätsgläubigkeit einer neu entstehenden Schicht mittlerer Funktionäre entgegen, die mit verbalem Radikalismus ihre Denkfaulheit und Inkompetenz verschleiern. Es steht zu befürchten, dass auch unter dem Regime von Hugo Chávez eine solchen Schicht entsteht. Dass also die Pflege realsozialistischer Bräuche wieder aufgenommen wird, verstärkt durch eine problematische Art internationaler Solidaritätsbekundung und die Anlehnung an das offizielle Kuba. Dagegen steht bis heute die aufopferungsvolle Arbeit einer Vielzahl von Aktivisten an der sozialen Basis, die neue Formen autonomer Organisation hervorgebracht haben und am Leben halten. Dass unter der Präsidentschaft von Hugo Chávez ein Spielraum für solche Aktivitäten geschaffen und bis heute erhalten worden ist, halte ich für sein wichtigstes Verdienst.

© Le Monde diplomatique, Berlin Eine ausführliche Fassung dieses Textes erschien in: „Jahrbuch Lateinamerika“ Nr. 29, „Neue Optionen lateinamerikanischer Politik“, Münster (Westfälisches Dampfboot) 2005. Klaus Meschkat ist emeritierter Professor für Soziologie, er lehrte an der Universität Hannover.

Le Monde diplomatique vom 10.02.2006, von Klaus Meschkat