12.03.2010

Ein Recht auf Arbeit für die Bauern

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Ein Recht auf Arbeit für die Bauern

Gegen Hunger und Armut auf dem Land vermögen die vielen Sozialprogramme in Indien bislang kaum etwas von Rainer Hörig

Rajkumar Mudhi ist einer der wohlhabenderen Bauern in Mudhidhi, einem kleinen Dorf im ostindischen Jharkhand. Er wohnt in einem gepflegten Haus, im Hof steht ein Fahrrad, aber das Geld reicht hinten und vorne nicht. „Von dem, was unser Land abwirft, kann meine Familie nicht leben“, klagt Mudhi. „Deshalb müssen wir auswärts arbeiten. Im Januar, wenn wir die Ernte eingebracht haben, fahren wir immer die hundert Kilometer nach Bishnupur, wo es Arbeit in einer Ziegelei gibt. Dort wohnen wir alle für sechs Monate in einer Blechhütte in der Ziegelei. Ich forme Ziegel, die meine Frau Dulali auf dem Kopf zum Brennofen trägt. Die Kinder, na ja, die spielen irgendwo in der Nähe.“ Wenn die nächste Regenzeit anfängt, kehren die Mudhis heim, um ihre Felder zu bestellen. Das in der Ziegelei verdiente Geld, ein paar tausend Rupien, brauchen sie für den Kauf von Saatgut und Düngemittel.

In den meisten Regionen Indiens regnet es nur während der drei bis vier Monsunmonate. Sind die Felder einmal abgeerntet, bleibt den Bauern nichts anderes übrig, als auf die nächste Regenzeit zu warten, es sei denn, sie verfügen über eine Bewässerungsanlage. Die Ernteerträge sind in der Regel schnell verbraucht oder verkauft, sodass in den Trockenmonaten März bis Juni Millionen Männer und Frauen auf Arbeitssuche in die Städte ziehen.

Seit 2006 betreibt die Regierung großen Aufwand, um Arbeitsmöglichkeiten in den Dörfern zu schaffen. Das nach dem „Vater der Nation“ benannte Beschäftigungsprogramm „Mahatma Gandhi National Rural Employment Guarantee Scheme“, kurz MGNREGS, das in den 300 ärmsten Distrikten des Landes gestartet und inzwischen auf das ganze Land ausgedehnt wurde, garantiert jedem ländlichen Haushalt 100 Tage Beschäftigung im Jahr zu einem festgesetzten Mindestlohn. Damit erhalten Kleinbauern und Landarbeiter, Handwerker und Tagelöhner zum ersten Mal ein Recht auf Arbeit, wenn auch nur für drei Monate und am unteren Ende der Lohnskala. Gleichzeitig tragen sie zum Aufbau der ländlichen Infrastruktur bei. Neue Straßen entstehen, Kanäle, Stauseen und Bewässerungsanlagen werden gebaut. In Umfang und Reichweite ist dieses Programm einzigartig in der Welt.

Im laufenden Haushaltsjahr 2009/2010 sind 391 Milliarden Rupien, umgerechnet 6,2 Milliarden Euro, für das MGNREGS-Programm veranschlagt. Bislang haben 150 Millionen Menschen einen Berechtigungsausweis, in den die geleisteten Arbeitsstunden eingetragen werden. Allerdings haben nur 45 Millionen tatsächlich eine Arbeit bekommen. Die 100-Tage-Garantie wurde in 6,5 Millionen Fällen tatsächlich umgesetzt. Diese Zahlen mögen auf den ersten Blick nicht sehr beeindruckend wirken, doch sie werden von Jahr zu Jahr besser.

Kritiker aus dem rechten politischen Lager und aus Wirtschaftskreisen halten das Arbeitsbeschaffungsprogramm für Geldverschwendung. Jean Dreze ist Wirtschaftswissenschaftler an der Delhi School of Economics, Mitarbeiter des Wirtschaftsnobelpreisträgers Amartya Sen und einer der geistigen Väter des Programms. Er verweist in einem Artikel für das Nachrichtenmagazin Frontline auf das bisher Erreichte: „Langsam, aber sicher verändert das Gesetz das Leben der Armen auf dem Lande. Die Löhne steigen, die Arbeitsmigration geht zurück, es entstehen produktive Anlagen und Einrichtungen, die Machtverhältnisse verschieben sich.“

Dabei verhehlt Dreze nicht, dass das Milliardenprogramm auch zu Korruption einlädt und es an der effizienten Umsetzung hapert. Dafür macht er vor allem die Landesregierungen verantwortlich, die den von Delhi finanzierten und konzipierten Plan umsetzen müssen. Ein Arbeiter beim MGNRGES habe es schließlich nicht leicht: Oft gibt es zu wenig zu tun, der Arbeitsplatz ist nicht richtig ausgestattet, Löhne werden verspätet ausbezahlt oder die gesetzlichen Mindestlöhne nicht eingehalten. Dreze kritisiert die ausführende Bürokratie scharf und verweist auf drei Hauptprobleme: Erstens wüssten die Leute nicht, wie sie die Arbeiten ausführen sollen, weil die Richtlinien schwammig formuliert seien. Zweitens gebe es kein einheitliches Beschwerdesystem, durch das die MGNREGS-Arbeiter an der Bekämpfung von Missbrauch und Korruption in den Projekten mitwirken könnten. Und drittens fehle eine Evaluierung durch unabhängige Institutionen.

Das Arbeitsbeschaffungsprogramm geht auf ein Wahlversprechen der Kongresspartei aus dem Jahr 2004 zurück, der es damals mit populistischen und sozialistischen Parolen überraschend gelang, die konservative Hindupartei BJP zu entmachten. Die Kongresspartei hatte eine alte Forderung von Gewerkschaften und Nichtregierungsorganisationen (NGOs) in ihr Wahlprogramm aufgenommen. Der erste, noch im Dezember 2004 vorgelegte Gesetzentwurf rief dann aber heftige Proteste von NGOs hervor, die im Juni 2005 eine Tour durch zehn Bundesstaaten organisierten, um für ein wirkungsvolleres Gesetz zu werben. Der Erfolg war bescheiden. So fand die Forderung, dass nicht nur ein Mitglied pro Haushalt, sondern alle Arbeitswilligen Anspruch auf 100 Tage Arbeit für Mindestlohn haben sollten, in dem Gesetz, das das Nationalparlament im September 2005 verabschiedete, keinen Niederschlag. Auch ließ das Gesetz die Machtstrukturen in Dörfern und Behörden, die häufig den Armen Zugang zu Sozialhilfe verwehren, unangetastet.

Nachdem es für 45 Millionen Menschen Arbeitsmöglichkeiten geschaffen hat, kann das MGNREGS-Programm unterm Strich durchaus als Erfolg verbucht werden. Es mindert die Migration, setzt Mindestlöhne durch und gibt vielen Frauen zum ersten Mal die Möglichkeit, eigenes Geld zu verdienen. Und es kommt tatsächlich auch bei den Bedürftigen an. Nach Angaben des federführenden Ministeriums für ländliche Entwicklung machten Frauen 42 Prozent der Begünstigten aus (Haushaltsjahr 2007/08). Adivasi und Dalits stellten demnach zusammen 57 Prozent aller MGNREGS-Arbeiter. Nach Ansicht politischer Beobachter trug die Popularität der MGNREGS-Arbeitsplatzgarantie maßgeblich zur Wiederwahl der Regierungskoalition um die Kongresspartei im Mai 2009 bei. So erfolgreich sind längst nicht alle indischen Sozialprogramme.

Der einfachste und direkteste Weg, um Hunger und Mangelernährung zu bekämpfen, ist die Subventionierung von Lebensmitteln. Bereits seit den 1950er-Jahren erhalten Bedürftige in Indien Grundnahrungsmittel wie Reis, Weizen oder Zucker zu ermäßigten Preisen. Fast eine halbe Million „fair price shops“ wurden dafür eingerichtet. Die Behörden stellen Bedürftigen eine Rationenkarte aus, die zum Bezug subventionierter Nahrung berechtigt. Die Karte ist mittlerweile zu einer Art Personalausweis geworden, die bei vielen Behördengängen vorgelegt werden muss.

Aber es ist ein offenes Geheimnis, dass ein nicht unwesentlicher Teil der für die Armen bestimmten Lebensmittel auf den freien Markt umgeleitet und zu höheren Preisen verkauft wird. Außerdem besitzen längst nicht alle Bedürftigen die Rationenkarte, während sich viele Mittelschichtsfamilien dieses Privileg erschleichen können.

Im Oktober 2007 schlug der Zorn der Armen über das ineffiziente System in öffentliche Gewalt um. In Westbengalen und Bihar wurden hunderte „fair price shops“ geplündert oder verwüstet, ihre Besitzer tätlich angegriffen. Berichte der für die Entwicklung des Landes zuständigen Nationalen Planungskommission bestätigen, dass bis zur Hälfte der subventionierten Nahrungsmittel auf dem Weg vom Lagerhaus zum „fair price shop“ verschwinden. Eine 2009 in Delhi durchgeführte systematische Befragung von Slumbewohnern ergab, dass nicht einmal jede zweite Familie eine Rationenkarte besitzt.

Witwenpensionen, Ausbildungshilfen für Kinder, verbilligte Lebensmittel, Schwangerenberatung, subventioniertes Kochgas – die Liste der Sozialprogramme in Indien ist schier endlos. Wohlfahrtsprogramme spielen auch als Wahlversprechen eine wichtige Rolle. Sobald die Politiker an der Macht sind, verlieren sie schnell das Interesse an dem Thema. Trotz des soliden Wirtschaftswachstums, das Indien zu verzeichnen hat, und zahlreicher gut gemeinter Programme ist die Anzahl der Armen im Lande in den vergangenen zwanzig Jahren nur unwesentlich gesunken.

Die Gründe dafür sind vielschichtig: Viele Programme erreichen ihre Adressaten nicht, weil der Verwaltungsapparat ineffizient, korrupt und verkrustet ist. Hinzu kommt, dass ganze Bevölkerungsgruppen und Minderheiten aufgrund von Kaste, Religion und Geschlecht sowohl wirtschaftlich benachteiligt als auch sozial diskriminiert sind. Und dagegen lässt sich mit Gesetzen nicht viel ausrichten. Die traditionellen Eliten schaffen es in vielen Fällen, die Wohlfahrtsprogramme für sich selbst zu nutzen, wie etwa bei der Verteilung von verbilligten Lebensmitteln. Viele der Bedürftigen kennen ihre Rechte nicht und nehmen die Programme gar nicht in Anspruch. Wenn sie es trotzdem wagen, scheitern sie oft an arroganten und korrupten Beamten und umständlichen Verfahren. Ein weiteres Problem besteht darin, dass die Zahl der Armen in Indien – und damit der Menschen, die auf die Hilfe der Programme angewiesen sind – sehr umstritten ist.

In den frühen Jahren der indischen Republik wurde Armut anhand der täglich aufgenommenen Kalorienmenge gemessen. Später rechnete man die Kalorien in Geldbeträge um, wobei die üblichen Marktpreise zugrunde gelegt wurden. Heute werden auch Wohnverhältnisse, Schulbildung und Arbeitsverhältnisse einbezogen. Bei einer solchen Vielzahl von Maßstäben und Berechnungsmethoden lassen sich kaum Vergleiche ziehen, schon gar nicht über größere Zeiträume hinweg.

Wirtschaftsliberale und Globalisierungsbefürworter weisen gern darauf hin, dass Wachstum auch zur Verringerung der Armut führt. In Indien jedoch klaffen die Zahlen eklatant auseinander. Während das Wirtschaftswachstum in den vergangenen zehn Jahren zwischen 5 und 9 Prozent lag, hat sich die Zahl der Armen kaum verringert. Anfang 2010 legte die Nationale Planungskommission neue Zahlen vor, die nicht nur Aufwendungen für Nahrungsmittel, sondern auch für Schulbildung und Gesundheitsdienste berücksichtigen. Wer weniger als 15 Rupien am Tag hat (das entspricht kaufkraftbereinigt etwa 1,25 US-Dollar), lebt unter der Armutsgrenze. Für 15 Rupien bekommt man auf dem Markt nicht einmal ein Kilo Reis.

Heute leben in Indien offiziell insgesamt rund 446 Millionen Menschen in Armut: 41,8 Prozent der Landbewohner und 27,5 Prozent der Städter, im Landesdurchschnitt sind es 37,2 Prozent. Im Jahr 1993/94, als die ökonomische Öffnung begann, betrug ihr Anteil (nach derselben Methode berechnet) 45,3 Prozent und damit gerade 8 Prozentpunkte mehr als heute – wahrlich kein gutes Zeugnis für die bisherige, auf „Stempelgeld“ basierte Sozialpolitik.

Nach jahrelangen Kampagnen von NGOs sowie intensiven parlamentarischen Beratungen erlangte im Oktober 2005 das Recht auf Information landesweit Gesetzeskraft. Seither sind alle Bürgerinnen und Bürger berechtigt, staatliche Behörden über ihre Arbeit oder bestimmte Projekte zu befragen und Akteneinsicht zu verlangen. Das hilft ihnen, ihre Interessen wahrzunehmen, und setzt der Korruption ein wirksames Aufklärungsinstrument entgegen. Obwohl immer wieder Versuche unternommen werden, das Recht auf Information einzuschränken oder zu unterhöhlen, konnten starke zivilgesellschaftliche Kräfte, verbündet mit wichtigen Politikern, eine Verwässerung des Informationsrechtes bislang verhindern. Insbesondere bei der Kontrolle von MGNREGS-Projekten hat sich das Instrument bewährt.

Der erste Schritt zu Transparenz

Im Jahr 2002 beschloss das indische Parlament auf Vorschlag der konservativen BJP-Regierung einstimmig, das Recht auf Bildung in der Verfassung zu verankern. Spätere Congress-Regierungen unter Premier Manmohan Singh berieten und verwarfen seit 2005 etliche Entwürfe. Erst im August 2009 konnte ein Gesetz, das das Recht auf kostenlose Bildung garantiert, im Parlament verabschiedet werden. Alle Kinder zwischen 6 und 14 Jahren haben seitdem Anspruch auf einen Schulplatz, staatliche Grundschulen müssen bestimmte Mindeststandards erfüllen und private Schulen – die nicht an die Quotenregelungen für Dalits und Adivasi gebunden sind – ein Viertel ihrer Kapazitäten für Kinder aus armen Familien zur Verfügung stellen.

In den letzten Jahren sind die Lebensmittelpreise in Indien um bis zu 25 Prozent jährlich gestiegen. Besonders für die Armen wird es immer schwerer, erschwingliche Lebensmittel aufzutreiben. Studien bestätigen, dass die durchschnittliche Kalorienaufnahme, besonders auf dem Land, zurückgeht. Der Hunger wird also nicht weniger, er droht, im Gegenteil weitere Kreise zu ziehen. Angesichts dieser Gefahr wird zunehmend über ein Recht auf Nahrung debattiert.

Obwohl viele Ministerien in der Armutsbekämpfung aktiv sind, hat sich die Lage auch sechzig Jahre nach Inkrafttreten der indischen Verfassung nicht spürbar gebessert. Zwar konnte der prozentuale Anteil der Armen an der Bevölkerung von rund 50 auf jetzt offiziell knapp 40 Prozent gedrückt werden. Da aber die Bevölkerung gleichzeitig wuchs, leben heute insgesamt mehr Arme in Indien als zur Zeit der Unabhängigkeit. Den Schaden, den die Industrialisierung und Globalisierung in traditionellen Gemeinschaften angerichtet haben und weiterhin anrichten, können alle Wohlfahrtsprogramme zusammen nicht wettmachen. Vielerorts verarmen ganze Bevölkerungs- oder Berufsgruppen, etwa wenn Bergbaukonzerne dutzende von Adivasi-Dörfern zerstören oder Töpfer, Weber, Schmiede durch billige Importwaren vom Markt verdrängt werden.

Das Recht auf Arbeit, auf Schulbildung, vielleicht bald auch auf Nahrung – mit den neuen Programmen zur Armutsbekämpfung vollzieht Indiens Regierung einen Strategiewechsel. Statt auf kostspielige Subventionen und korruptionsanfällige Förderprogramme zu setzen, wird Hilfe zur Selbsthilfe (empowerment) geleistet und den Armen ein Rechtsanspruch auf Unterstützung (entitlement) eingeräumt. Vielleicht muss Rajkumar Mudhi eines Tages nicht mehr nach Bishnupur reisen, um in der Ziegelei zu schuften. Und vielleicht kann er eines Tages seine Kinder zur Schule schicken.

Rainer Hörig lebt als freier Korrespondent in Pune. © Le Monde diplomatique, Berlin

Le Monde diplomatique vom 12.03.2010, von Rainer Hörig