12.03.2010

Brief aus Madrid

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Brief aus Madrid

von Gregor Ziolkowski

Der Häuserkampf um Madrid ist in eine ruhigere Phase getreten. Noch vor Wochen hätte man meinen können, die halbe Innenstadt stehe zum forcierten Verkauf. Es konnte einem geradezu unheimlich werden unter dem optischen Bombardement der „Zu verkaufen“-Schilder. Wo lebt man eigentlich, wenn man in einer Stadt lebt, die zur Hälfte verschleudert werden soll?

Die Schilder waren erschienen, kaum dass die Krise nicht mehr wegzureden war. In Spanien schlug sie vor allem als Bau- und Immobilienkrise ein, arbeitskraftintensiv insbesondere der erste Bereich, woraufhin die Arbeitslosenzahl auf mittlerweile stolze vier Millionen gestiegen ist.

Aber nicht die Arbeitslosen waren es in der Regel, die plötzlich aus Geldnot ihre Unterkünfte veräußern wollten. Vielmehr bestand eine der Geldvermehrungstechniken der Betuchten in den Jahren des Booms darin, Wohnungen zu kaufen, sie möglichst ungenutzt ein Weilchen zu halten, um sie dann mit astronomisch anmutendem Gewinn wieder zu verkaufen. Jahrelang hat das gut funktioniert.

Die ganze Spekulationsmasse ergoss sich plötzlich, frisch ausgerufen die Krise, auf den Markt. Wer da hatte, wollte schnell abstoßen und einstreichen, solange die Preise noch richtig weit oben waren, jedenfalls auf dem Papier. Doch der Gegner war wachsam. Die potenziellen Käufer gingen in Deckung und spähen seither nach dem Moment, da die Preise in den Keller sausen, weil die Experten von einer Million Wohnungen in ganz Spanien reden, die zunächst – und wohl mit herben Verlusten – unters Volk gebracht werden müssen, bevor der Markt wieder Impulse bekommt. Aus den „Zu verkaufen“-Schildern wurden „Zu vermieten“-Schilder, aber auch die sind inzwischen kaum mehr zu sehen. Der Immobilienmarkt ist ein winterlicher Stellungskrieg, seine Akteure belauern einander in ungemütlichen Straßenzügen und Hauseingängen, in Immobilienbüros und Internetportalen.

Ach, die Krise! Mancher kann das Wort nicht mehr hören. In einer Madrider Bar steht am Eingang in diesem gestelzt amtlichen Ton, der Ironie signalisiert: „Hier sind Gespräche über jegliches Thema zulässig, nur über die Krise nicht!“ Der Aufforderung zu folgen, das kostet natürlich Anstrengung, denn was, wenn nicht lamentieren, tut man am liebsten an solchen Orten?

In der Bar „El Negro“ kann davon keine Rede sein. Der Laden brummt wie eh und je, zwischen Mitternacht und dem Grauen des Morgens tummelt sich hier Theatervolk, das durchaus auch Fernsehvolk und also prominent ist, und genießt seine Freizeit. Man kann rauchen (was man will), und da die Verschärfung des Antitabakgesetzes unlängst verschoben wurde, wird das wohl noch einige Zeit so bleiben. Die Legende dieses Orts erinnert ein wenig an die Jahre, als Ernest Hemingway oder Ava Gardner durch die Stadt gestreift sind.

Aber ohne eine kleine Kriegslist ist das nicht zu haben: „El Negro“ heißt nicht „El Negro“, die Bar wird nur so genannt. Recht eigentlich ist sie namenlos, dabei doch öffentlich und ohne weiteres zugänglich. Um einzutreten, muss man nicht mehr tun als eine Tür öffnen, an der ein schwarzdunkles Schild ohne jede Aufschrift hängt.

Aber die Kultur lebt auch jenseits der Subventionen des Theaterbetriebs. Und manchmal lebt sie eher schlecht. Antonia Moya betreibt eines der Flamenco-Lokale, nach denen interessierte Touristen gern fragen: Nicht zu folkloristisch soll es sein, aber doch authentisch, „echt“. Und natürlich nicht zu teuer. Das alles gibt es, mitten in der Stadt, dabei irgendwie versteckt, so dass auch Taxifahrer gelegentlich in Nöte geraten. Die Adresse Plaza de España 9 ist nicht einfach anzusteuern, wer jedoch zu Fuß geht, wird mit hübschen Ansichten belohnt. Am Palacio Real und an der Plaza de Oriente, wo Franco gern sein Volk zusammenrief, vorbei, durch die Sabatini-Gärten, und schon ist man in „Las Tablas“ angekommen.

Jeden Abend gibt es Flamenco, und zwar vom allerbesten. Man erkennt das ganz ohne Mühe, selbst wenn man zwischen Fandango, Soleá oder Bulería nicht so genau zu unterscheiden weiß. Sobald sich die Körperhaare aufrichten, spürt man, dass man keinem dieser billigen teuren Touristenspektakel aufgesessen ist.

Ach, es ließe sich lange schwärmen vom Gesang des Manuel Palacín oder der Gitarre von Niño „Pepón“ Manuela und von der tiefen Lebensweisheit, die sich in einem Tanz der Hausherrin Antonia Moya mitteilt! Auch von den Nächten, in denen nach der allabendlichen Vorstellung junge Musiker und Tänzer auf die Bühne kommen, um auf sich aufmerksam zu machen. Und von der neuesten Erfindung des Hauses, Wein zu verkosten und dabei jedem Tropfen einen bestimmten palo, einen Flamenco-Stil, zuzuordnen und aufzuführen. Aber die rauen Zeiten bringen triste Nachrichten ins Haus. Unlängst mussten zwei reguläre Abendvorstellungen ausfallen, weil sich einfach kein Publikum einstellte.

Über zu wenig Aufmerksamkeit musste sich Baltasar Garzón, Spaniens berühmtester Ermittlungsrichter vom Nationalen Gerichtshof, kaum je beklagen. Sein Vorgehen gegen Diktatoren und ihre Helfer in Chile oder Argentinien, aber auch gegen die eigene – auch damals sozialistische – Regierung, als diese illegale Killerkommandos zur Liquidierung von ETA-Terroristen ausschickte, haben dem Mann Weltruhm eingebracht. Jetzt meinen viele, er sei zu weit gegangen. Mit seinen Ermittlungen zu den Verbrechen der Franco-Diktatur habe er die Grenze überschritten, von nun an werde zurückgeschossen. Und tatsächlich feuert Spaniens Rechte aus allen Rohren, denn bei Franco hört schließlich der Spaß auf!

Rechtsbeugung lautet der Vorwurf, der zur Amtsenthebung des Richters führen soll. Er stützt sich vor allem auf das Amnestiegesetz von 1977, das, ein Jahr vor der spanischen Verfassung verabschiedet, Ermittlungen gegen Francos Verbrechen und seine Schergen ausschließt. Aber Richter Garzón fand einen anderen Zugang: Sind weit mehr als hunderttausend Opfer von willkürlichen Erschießungen, verscharrt in namenlosem Gelände, nicht Grund genug, von Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu reden, die eben nicht verjähren und von keinem durchaus fragwürdigen Amnestiegesetz gedeckt werden?

Aber abgesehen von der Frage, wie man die Gesetzeslage interpretiert: Garzón handelte auf die Initiative von Hinterbliebenenorganisationen hin, die die Überreste ihrer unter Franco „verschwundenen“ Vorfahren finden und würdig bestatten wollen. Und die dafür eine Rechtsgrundlage brauchen, nicht zuletzt aus dem schlichten Grund, weil geklärt werden muss, wer die Kosten für die Ausgrabungen und Identifizierungen trägt.

Von Schuldfragen war gar nicht die Rede, aber hier, so scheint es, wohnt die Angst der Nachfahren des Diktators. Eine der am massivsten gegen den Richter vorgehenden Organisationen ist die Falange Española, Francos ehemalige Einheitspartei, heute eine Splittergruppe vom ganz rechten Rand.

Im Normalfall würde man dies abtun und auf die Nachricht warten, dass das Verfahren gegen Baltasar Garzón eingestellt wurde. Aber da sind noch zwei Kleinigkeiten, die gegen den Richter anhängig sind. Eine betrifft eine reichlich lächerliche Geldangelegenheit, wegen der man ihm Bestechlichkeit vorwirft, obwohl vom infrage stehenden Geld nicht ein Cent bei ihm gelandet ist.

Die zweite Kleinigkeit wiegt schwerer. Vor ziemlich genau einem Jahr lösten Garzóns Ermittlungen den größten Korruptionsskandal in der Geschichte der spanischen Demokratie aus. Im Zentrum der Affäre steht die konservative Volkspartei (Partido Popular), neben vielen anderen sind auch ranghohe Mitglieder – darunter der Schatzmeister – ins Visier der Ermittler geraten. Garzón hat Gespräche zwischen festgenommenen Verdächtigen und deren Anwälten abhören lassen, weil er vermutete, dass Erstere mit Hilfe Letzterer die Geschicke auch vom Knast aus zu lenken versuchen. Das sei nicht rechtens gewesen. Sollte diese Causa ihren Lauf nehmen, könnte ein gigantischer Fall von Korruption in den Akten verschwinden.

Drei Verfahren, in denen Spaniens Oberstes Gericht gegen Baltasar Garzón ermitteln könnte. Sobald eines davon in aller Form eröffnet wird, wird das Selbstverwaltungsorgan der spanischen Richter Baltasar Garzón wohl seines Amtes entheben. Die Rechte hätte mehr gewonnen als einen Häuserkampf.

Gregor Ziolkowski ist Journalist und lebt in Madrid. © Le Monde diplomatique, Berlin

Le Monde diplomatique vom 12.03.2010, von Gregor Ziolkowski