Vorurteil und Stolz
Zur Unverträglichkeit von Religion und Humor von Tahar Ben Jelloun
Ich komme gerade aus dem als gemäßigt geltenden Marokko zurück nach Paris. Der in Marokko praktizierte Islam ist unauffällig und moderat (auch wenn am 16. Mai 2004 Selbstmordattentäter aus den Slums von Casablanca Bomben in einem Restaurant im Stadtzentrum gezündet und vierzig Menschen getötet haben). In Marokko, das zivilisatorisch und wirtschaftlich eng mit Europa verbunden ist, wird seit einigen Wochen heftig über die Mohammed-Karikaturen diskutiert. Die einhellige Meinung lautet: Ihre Veröffentlichung war ein unerträglicher Angriff auf den islamischen Glauben. Die marokkanische Wochenzeitung Le Journal hat die berüchtigten Karikaturen nachgedruckt, woraufhin vor dem Redaktionsgebäude in Casablanca eine Protestkundgebung stattfand.
Die Menschen sind schockiert und wütend, und wer auch nur versucht, über die Sache zu diskutieren, gilt schon als Atheist, als jemand, der dem Westen und seiner Verachtung für die arabische und islamische Welt das Wort redet. Es ist schwierig zu erklären, dass Journalisten im Westen unabhängig und keinem Minister, nicht einmal dem Staatspräsidenten Rechenschaft schuldig sind. Und es ist schwierig, von politischer Manipulation, vom Ausnutzen eines Fehlers oder von schlichter Ignoranz zu sprechen, die mit Ungeschicklichkeit einhergeht. Man könnte meinen, die islamische Welt habe nur auf diesen Zwischenfall gewartet, um laut und zornig alles herauszuschreien, was sie vom Westen und von den westlich geprägten Muslimen trennt.
Je größer die kulturelle Leere, umso stärker der Bezug auf die Religion. Wenn die Menschen in ihren Heimatländern kulturelle Erlebnisse in ihrer Unterschiedlichkeit und Vielfalt „konsumieren“ könnten, wenn sie täglich die Wahl zwischen hunderten von Theater- und Konzertsälen hätten, wenn sie Ausstellungen von Malern aus aller Welt besichtigen könnten, kurz: wenn ihr Geist Nahrung durch kulturelle Werke und Produktionen erhielte, müssten sie sich nicht auf die Religion konzentrieren, in der sie nicht nur Frieden, sondern auch Antwort auf alle sie beschäftigenden Fragen zu finden meinen.
In einem Gespräch mit Studenten der Technischen Universität in Tanger hat mir kürzlich ein junger Mann, der Elektroingenieur werden will, erklärt: „Für uns ist der Islam keine Religion, er ist unsere Verfassung. Er gibt uns eine Moral, Gesetze, Rechte und eine Kultur!“ Ich habe ihm gesagt, dass er Glauben und Wissenschaft verwechselt. Überzeugen konnte ich ihn nicht.
Der Karikaturenstreit zeigt, welch tiefer Graben zwischen der islamischen Welt und dem Westen klafft, wie groß die Unwissenheit, die Ängste und Missverständnisse, aber auch die Ressentiments auf beiden Seiten sind. In den marokkanischen Großstädten fanden friedliche Demonstrationen statt, obwohl zum Beispiel Casablanca sich immer stärker globalisiert, dem Vorbild westlicher Großstädte nacheifert und die Leute mit Begeisterung westliche Markenartikel – ob gefälscht oder nicht – kaufen und obwohl auch hier der technische Fortschritt allen das blitzschnelle und leichte Kommunizieren ermöglicht. Aber vielleicht trügt der Schein. Das grundlegende Problem ist ein anderes, es liegt in der Identität eines Volkes, das mit seiner Religion, dem Islam, verschmilzt. Das schafft eine Schizophrenie, ein Zugleich von zwei entgegengesetzten Weltanschauungen in ein und derselben Person.
In Europa gelten die Anerkennung des Individuums, der Rechtsstaat und die Prinzipien der Gedanken- und später auch der Religionsfreiheit als Grundlage der Demokratie. In Frankreich gingen lange und zähe Kämpfe voraus, ehe am 9. Dezember 1905 das Gesetz zur Trennung von Kirche und Staat in Kraft trat. In der arabischen Welt gibt es das Individuum als einzigartige und herausragende Einheit noch nicht: Jeder Mensch definiert sich dort in Bezug auf seine Familie, seinen Klan oder seinen Stamm.
Ich möchte das an einem persönlichen Beispiel erläutern: 1974 schrieb ich für die Pariser Tageszeitung Le Monde eine Reportage über die Pilger in Mekka. Es war die erste derartige Reportage in einer westlichen Zeitung, und ich erzählte darin, als wie hart ich die Pilgerfahrt empfunden hatte, kritisierte deren Organisation und prangerte die Schlamperei der Saudis an. Die Reportage kam in Europa gut an, sorgte in der arabischen und islamischen Welt jedoch für großen Wirbel. Die saudischen Behörden wandten sich informell an das marokkanische Königshaus, damit ich bestraft würde. Die Marokkaner beruhigten die Saudis und ließen meinem Vater ausrichten, er solle seinen Sohn besser erziehen. Damals gab es noch keine islamistische Bewegung. Ein paar marokkanische Gesandte hielten mir eine Standpauke, das war alles. Auf diese Weise wurde nicht ich als Individuum, sondern wurden mein Land und meine Familie zur Verantwortung gezogen.
Der Fall Salman Rushdie war weit schwerwiegender. Ein Kind aus dem Hause des Islam wurde bestraft. Niemand hat das Recht, Zweifel zu äußern oder die Grundlagen des Islam in Frage zu stellen, wenn er der „Umma“ angehört. Wäre Rushdie nicht muslimischer Herkunft gewesen, hätten sie ihn vielleicht einfach ignoriert.
Bei den Karikaturen des Propheten liegen die Dinge anders. Erst Monate nach der Veröffentlichung kam es zum Eklat. Leute mit politischen Absichten stürzten sich darauf und nutzten die Sache ohne Zögern aus. Das betrifft vor allem Syrien und den Iran. Wenn Demonstranten die Konsulate nordeuropäischer Länder anzünden und deren Flaggen zerreißen, so tun sie das, weil sie nicht wissen, dass es Journalisten in diesen Ländern freisteht, zu schreiben oder zu zeichnen, was sie wollen. Eine solche Freiheit gibt es nur in wenigen arabischen Ländern. Die Journalisten leiden unter der Einmischung der Politiker in ihre Arbeit, manchmal werden sie wegen einer Reportage oder Analyse, die den Machthabern missfällt, vor Gericht gezerrt. Ein jordanischer Journalist hat völlig zu Recht gefragt: Was ist schwerwiegender: Zeichnungen veröffentlichen oder terroristische Attentate verüben?
Während des Ramadan fasten fromme Muslime einen Monat lang von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang. Die Nichtgläubigen müssen sich verstecken und dürfen ihre Andersartigkeit in keiner Weise zeigen. Das gesamte Volk ist dem gleichen Ritus unterworfen. Wenn ein Einzelner sich absondert, etwa indem er auf der Straße raucht, wird das vom Gesetz geahndet (ein Jahr Gefängnis, je nach Land) und die Passanten könnten ihn misshandeln.
Der Karikaturenstreit gehört in diesen Kontext der Nichtanerkennung des Einzelnen, der Kluft zwischen dem Westen und der islamischen Welt, der gegenseitigen Unkenntnis. Er ist ein Zeichen des tiefen Unbehagens, das die arabischen Völker schon lange und insbesondere seit den Attentaten des 11. September verspüren.
Nach den Kreuzzügen hatte die katholische Kirche die islamische Welt stigmatisiert. So stellte im Jahr 1415 der italienische Maler Giovanni Da Modena den Propheten Mohammed auf einem (von Dantes Divina Commedia inspirierten) Fresco dar, das er „Der Prophet in der Hölle“ nannte. Man sieht, wie der Körper des Propheten von den langen Händen des Teufels in den Abgrund gezogen wird. Dieses Bild, auch eine Art Karikatur, ist nur einigen Eingeweihten bekannt. Es ist grotesk, ohne jede Harmonie und zeigt die deutliche Absicht, Muslime zu beleidigen und zu demütigen. Heute ist es in einer Kirche versteckt. Besser, man vergisst es.
Anlässlich der Karikaturen in der dänischen Zeitung musste ich an dieses Bild denken. Auch sie hätte man lieber ignorieren sollen. Wenn man mit Gleichgültigkeit und Nichtbeachtung auf sie reagiert hätte, wären sie schnell in Vergessenheit geraten. Natürlich hat das, was sie zeigen und unterstellen, keinen realen Bezug zur Person des Propheten. Aber Religionen sind humorlos, sie dulden nicht, dass man sich auf ihre Kosten amüsiert. Erinnern wir uns an Umberto Ecos Buch „Der Name der Rose“. Dort wird deutlich, dass auch in einem christlichen Kloster nicht gelacht werden darf. Manchmal ist Lachen eine Waffe gegen den Fanatismus, aber es kann auch mehr Fanatismus provozieren.
Wirklich beunruhigend sind jedoch nicht die dummdreisten Zeichnungen, sondern die hysterischen Reaktionen auf sie. Die muslimischen Gläubigen fühlen sich verachtet und ungerecht behandelt. Ich habe Leute sagen hören: „Der Islam wird von manchen Westlern bekämpft, weil er immer stärker wird in der Welt. Deshalb unterstützen die USA weiterhin Israel und sind im Irak einmarschiert!“ Manche Menschen im Westen fühlen sich bedroht von dieser Wut. Ein französischer Journalist hat sogar schreiend im Fernsehen kundgetan: „Der Islam hat uns den Krieg erklärt!“ Natürlich pochen die europäischen Journalisten auf ihrer Rede- und Meinungsfreiheit, und sie sprechen von Laizität, davon, dass schon Voltaire ein Theaterstück über Mohammed geschrieben hat, und loben den Mut von Salman Rushdie und sogar den des niederländischen Filmemachers Theo van Gogh.
Doch Freiheit heißt nicht überall das Gleiche. Keine Religion duldet Zweifel oder Sarkasmus. Martin Scorseses Film „Die Passion Christi“ hatte bei den Christen gewalttätige Reaktionen hervorgerufen, und in Paris wurde in einem Kino, in dem er lief, eine Bombe gezündet.
Die Karikaturen haben ein Tabu gebrochen: das Verbot der bildlichen Darstellung des Propheten. Der Islam verbietet die Darstellung des Propheten aus einem hehren Grund: Der Prophet ist einer der höchsten Geister, ein Gipfel an Spiritualität, der jegliche bildliche Darstellung transzendiert und unter keinen Umständen auf ein Bild reduziert werden kann, und sei es noch so genau. In dem syrischen Film „Le Messager“ (Der Bote) von Al Akkad ist der Prophet nicht dargestellt, gezeigt wird nur der Schatten der Kamelstute, die ihn getragen haben soll. Die Anwesenheit des Propheten wird ein einziges Mal suggeriert, ohne dass er körperlich gezeigt würde. Es gibt persische Illuminationen, die den Propheten und seine Jünger zeigen, aber das sind keine ihn ins Lächerliche ziehenden oder als Terroristen darstellenden Karikaturen. Ich erinnere mich, wie ich als Kind in meinem Zimmer eine Darstellung des Propheten Abraham hängen hatte, der sich mit einem Messer in der Hand anschickt, seinen Sohn zu opfern, und ein Engel schwebt mit einem Opferlamm vom Himmel herab, um den Sohn zu retten. Dieses Bild wurde überall verkauft, und niemand regte sich darüber auf. Aber das war zu einer anderen Zeit.
Warum also dieses Feuer? Manche Muslime sind empfindlich, das heißt verletzlich. Sie wollen, dass der Westen damit aufhört, Islam und Terrorismus gleichzusetzen. Sie haben genug von der Stigmatisierung, die sie zu Verdächtigen abstempelt. Im März 2004 habe ich trotz meines französischen Passes fast eine Stunde in einem Raum des Flughafens Newark verbracht, nur weil ich in einem arabischen und islamischen Land geboren bin. Ich habe diese Stunde der Verdächtigung als traumatisch in Erinnerung.
Warum Millionen von Menschen in ihrem Glauben verletzen? Meinungsfreiheit bedeutet nicht Freiheit, zu diffamieren, lächerlich zu machen und vor allem nicht einen Propheten mit einer Bombe über dem Kopf abzubilden, das heißt, ihn als Terroristen darzustellen.
Symbole sind etwas Heiliges. Laizität hat doch nur einen Sinn, wenn sie Religionen achtet und schützt. Wo religiöse Überzeugungen und Leidenschaften im Spiel sind, ist es sinnlos, den Hass zu schüren. Bekanntlich waren in der Geschichte immer wieder Menschen bereit, für ihren Glauben zu sterben, so irrational er in den Augen der anderen auch sein mochte.
Wenn die arabischen und islamischen Länder eines Tages zur Trennung von Kirche und Staat finden sollen, kann dies nur durch Bestrebungen der Araber und Muslime selbst geschehen. Der Westen muss endlich aufhören, auf diese Menschen herabzuschauen. In Frankreich kam die Trennung von Kirche und Staat erst nach langen und furchtbaren Kämpfen zustande. Wir dürfen nicht vergessen, dass die arabische Welt noch nicht so weit ist. Im Karikaturenstreit haben Unkenntnis und Vorurteile über die Vernunft gesiegt. Es wird Zeit, dass sich die Gemüter wieder beruhigen, denn ohne Toleranz wird das Zusammenleben unmöglich.
Aus dem Französischen von Christiane Kayser © Le Monde diplomatique, Berlin Tahar Ben Jelloun ist Schriftsteller. Er wurde in Fes, Marokko, geboren und lebt in Tanger und Paris.