10.03.2006

Die Nation als Nebenwirkung der Opposition

zurück

Die Nation als Nebenwirkung der Opposition

Im Büro der kulturpolitischen Wochenzeitung Nasha Niva („Unser Feld“) im Zentrum von Minsk herrscht emsiges Treiben. Hier treffen sich die Anhänger der nationalen Bewegung Weißrusslands. Studenten besuchen einen Abendkurs der verbotenen Volksuniversität, ehrenamtliche Helfer tüten Exemplare der Zeitung ein.

Wie alle unabhängigen Medien ist auch Nasha Niva vom öffentlichen Pressevertrieb ausgeschlossen. „Sechzehn Zeitschriften sind verboten“, sagt Andrej Dynko, der junge Chefredakteur des Blattes. „Fast alle erschienen in weißrussischer Sprache.“

Die nach dem Zerfall der Sowjetunion begonnene Politik der Förderung einer nationalen Sprache und Identität endete mit dem Machtantritt Alexander Lukaschenkos. Er setzte die russische Sprache als „zweite Amtssprache“ neben Weißrussisch wieder in ihren alten Stand. Dabei ist die Gleichstellung nur eine Fiktion. Zwar gibt es einige amtliche Schreiben oder Beschriftungen in weißrussischer Sprache, doch in den öffentlichen Medien und in der Verwaltung wird ausschließlich Russisch benutzt.

Russisch bestimmt das öffentliche und gesellschaftliche Leben – jedenfalls in den Großstädten. Lukaschenko, dem auch immer wieder weißrussische Wörter in sein Russisch hineingeraten, erklärte unterdessen, dass es nur zwei Sprachen gebe, die den Bedürfnissen der modernen Welt entsprächen: Russisch und Englisch.

Exemplarisch ist die Geschichte des Nationalen Belarussischen Lyzeums, das sich bei seiner Gründung 1990 offiziell als Nachfolger einer mehr oder weniger klandestin operierenden Schule aus den 1980er-Jahren deklarierte. Das alternative Ausbildungsinstitut diente damals der sprachlichen Aus- und Weiterbildung und erwarb sich als neben den staatlichen Einrichtungen bestehendes Gymnasium unter der Leitung von Wladimir Kolas einen Ruf, der weit über die Zahl der eingeschriebenen Studenten hinausreichte.

Die Lehrkräfte des Lyzeums wurden denn auch bald gebeten, Schulbücher in weißrussischer Sprache zu verfassen. Zwei Monate nach seiner Wahl erließ Lukaschenko jedoch eine erste Verordnung für das Bildungswesen, die alle nach 1991 veröffentlichten Lehrbücher verbieten wollte. Doch am Ende scheiterte die Regierung mit diesem Vorstoß, weil es nicht genug alte Bücher gab, um die neuen zu ersetzen.

Der Unterricht findet jetzt zu Hause statt

Trotz regelmäßiger Demonstrationen der Dozenten, Eltern und Schüler des Lyzeums und nachdrücklicher Unterstützung durch zahlreiche belarussische Intellektuelle musste das Lyzeum im Juni 2003 schließen. „Wenn man sich heute einer nicht genehmigten Organisation anschließt, riskiert man sechs Monate bis zwei Jahre Gefängnis“, erklärt ein Vertreter der Schule. „Wir gehen das Risiko ein und machen trotzdem weiter.“ Nach zwei Jahren in Privatwohnungen hat die Untergrundschule inzwischen ein kleines Haus gefunden – in einem Vorort von Minsk.

15 Jahre nach der Unabhängigkeit fällt die Definition einer weißrussischen Identität immer noch schwer. Den Weißrussen fehlt eine Nationalgeschichte, auf die sie sich berufen können. An der Schnittstelle mächtiger Reiche gelegen, gehörte das weißrussische Territorium im Mittelalter lange zum Kiewer Reich. Dann geriet es im 13. Jahrhundert unter den Einfluss der damaligen Großmächte Polen und Litauen. Im 16. Jahrhundert gehörte es zum Königreich Polen-Litauen. Und nach den polnischen Teilungen Ende des 18. Jahrhunderts wurde Weißrussland Teil des Zarenreichs. In der Folge erlebte das Land eine intensive Russifizierung.

Ende des 19. Jahrhunderts entstand eine nationale, in erster Linie kulturelle Bewegung im Land. Im Ersten Weltkrieg und im russischen Bürgerkrieg war Belarus zwar Schlachtfeld, jedoch kein eigenständiger Akteur, obwohl es kurze Zeit (1918/19) eine unabhängige Weißrussische Volksrepublik gab. Im Vertrag von Riga wurde Weißrussland 1922 zwischen Polen und der UdSSR aufgeteilt. Nach dem Ribbentrop-Molotow-Pakt besetzte die UdSSR 1939 den vorher zu Ostpolen gehörenden Landesteil und schlug ihn der Weißrussischen Sowjetrepublik zu. Im Sommer 1941 folgte dann die Invasion der deutschen Wehrmacht.

1945 war die Weißrussische Sozialistische Sowjetrepublik ein verwüstetes Land. Fast ein Viertel der Bevölkerung hatte den Krieg nicht überlebt. Zu den Opfern zählte vor allem die jüdische Bevölkerung, die vor dem Krieg in den meisten Städten – Minsk, Grodno, Witebsk (wo Marc Chagall geboren ist) – die Bevölkerungsmehrheit ausmachte. Weißrussland war einst „Ansiedlungsrayon“ gewesen, wo der Zar die jüdische Präsenz tolerierte. Mit der fast völligen Vernichtung der Juden Weißrusslands im Zweiten Weltkrieg verschwand auch ein bedeutender Teil der weißrussischen Geschichte und Kultur.

Weißrussische Kultur war vor allem Folklore

Von 1945 bis 1990 wurde das Land nachhaltig industrialisiert. Die Russifizierung ging weiter, und die Sowjetisierung in Stadt und Land löste die traditionellen Bindungen auf. Die lokale kommunistische Führung tat nichts dagegen. Weißrussisch als Sprache und die Kultur des Landes wurden offiziell geschützt, doch im Grunde sind sie heute nichts als Folklore.

In den 1980er-Jahren und verstärkt nach der Katastrophe von Tschernobyl (1986), von der weißrussische Gebiete stark betroffen waren, entstanden die ersten Dissidentengruppen. Sie orientierten sich nationalistisch, um sich von Russland abzugrenzen und einen Bezug zu Mitteleuropa zu gewinnen. Die Wiederentdeckung einer nationalen Identität wurde in den ersten Jahren der Unabhängigkeit gefördert, doch nur eine Minderheit glaubte an das nationale Projekt. Den meisten war es zu vage und ungewiss. Die Bewegung löste sich auf, als Lukaschenko an die Macht kam.

Der neue Präsident setzte von Anfang an eher auf Sowjetnostalgie als auf russischen Nationalismus. Liolik Uschkin, Redakteur bei Nasha Niva, meint sogar: „Lukaschenko möchte sich als Alternative zu Putin präsentieren. Genau so ist auch das Projekt einer Union mit Russland zu verstehen. Lukaschenko träumt davon, an der Spitze eines neuen, großen Staates zu stehen, der beide Länder vereint“, erläutert er. „Das Ziel ist aber nicht, Belarus zu einer russischen Provinz zu machen.“ Da eine politische Union mit Russland unmöglich scheint, betonen die Herrschenden die spezifische Position des Landes, das „weder West noch Ost“ sei.

Die Sowjetnostalgie bleibt dennoch die wichtigste ideologische Quelle des Regimes. Sie rankt sich um die Erfahrungen des Zweiten Weltkriegs und den Kampf der weißrussischen Partisanen gegen die Deutschen. Nicht einmal die orthodoxe Kirche in Belarus ist unabhängig. Der heutige Metropolit von Minsk, Filaret (ehemals Abgeordneter des Obersten Sowjet der UdSSR), verhält sich zum Patriarchen in Moskau ebenso loyal wie zur Regierung Lukaschenko.

Hoffnungsvoll verweist Andrej Dynko die Ukraine: „Vor zehn Jahren sprach in Kiew noch niemand Ukrainisch auf der Straße. Heute ist Kiew, dank der entschiedenen Förderung der nationalen Identität, eine weitgehend ukrainophone Stadt.“ Für ihn sind die Ukraine und Weißrussland Nationen, die erst noch vollendet werden müssen. Er glaubt, die Entstehung der Nation gehe mit der Demokratisierung einher: „Vielleicht ist die Regierung Lukaschenko die historische Chance für Belarus, sich in Opposition zu diesem Regime zu konstituieren.“

Alexandre BilletteJean-Arnault Derens

Le Monde diplomatique vom 10.03.2006, von Alexandre Billette und Jean-Arnault Derens