10.03.2006

Falsche freie Wahl

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Falsche freie Wahl

von Ignacio Ramonet

Demokratie ist selten in der Geschichte. Schon allein deshalb, weil kein Regime dem Ideal der Demokratie je voll gerecht wurde. Denn das bedeutet ja völlige Ehrlichkeit der Mächtigen gegenüber den Schwachen, radikale Sanktionen gegen Machtmissbrauch und die Erfüllung von fünf Minimalkriterien: freie und geheime Wahlen, eine organisierte und freie Opposition, reale Chancen eines politischen Wechsels, eine unabhängige Justiz sowie freie Medien.

Trotz ihrer empirischen Mängel entwickelte die demokratische Regierungsform einen Anspruch auf Universalität, der nach dem Ende des Kalten Kriegs und der Auflösung der Sowjetunion neuen Auftrieb bekam. Vom „Ende der Geschichte“ war damals die Rede, da für alle Staaten der Welt der Zustand höchsten Glücks in Form von Marktwirtschaft und repräsentativer Demokratie erreichbar sei.

Diese Kombination wurde zum unhinterfragten Dogma, in dessen Namen George W. Bush den Einsatz militärischer Gewalt im Irak legitimiert und das Pentagon die Häftlinge in Guantánamo einer unmenschlichen Behandlung jenseits aller Rechtsnormen unterwirft.

Trotz derart schwerwiegender Verstöße gegen demokratische Grundsätze maßen sich die USA die globale Definitionshoheit in Sachen „Demokratie“ an. Heute ist es in Washington Usus, politische Gegner als undemokratisch, als „Paria-Staaten“ oder als „Bastionen der Tyrannei“ zu bezeichnen, wogegen sie sich nur durch die Abhaltung „freier Wahlen“ schützen können. Vorausgesetzt allerdings, die Wahlen bringen auch das richtige Ergebnis.

In Venezuela wurde Hugo Chávez zweimal zum Staatspräsidenten gewählt. Obwohl internationale Beobachter dabei keine Unregelmäßigkeiten feststellten, sieht man Chávez in Washington weiterhin – nachdem man 2002 sogar einen Staatsstreich gegen ihn organisiert hatte – als „Gefahr für die Demokratie“.

Dass demokratische Wahlen nicht ausreichen, zeigen auch die Beispiele Iran, Palästina und Haiti. Die iranischen Wahlen im Juni 2005 fanden alle ganz wunderbar, solange der Favorit des Westens, Rafsandschani, als sicherer Wahlsieger galt. Als dann Mahmud Ahmadinedschad gewann, kippte die Stimmung. Heute wird der Iran verteufelt – wobei freilich betont werden muss, dass Ahmadinedschads Äußerungen über Israel nicht hinnehmbar sind.

Obwohl Teheran den Nichtverbreitungsvertrag unterzeichnet hat und bestreitet, die Bombe herstellen zu wollen, unterstellt der französische Außenminister dem Iran, „ein geheimes militärisches Nuklearprogramm“. Und als hätten die Wahlen nicht stattgefunden, bat US-Außenministerin Condoleezza Rice den US-Kongress um die Freigabe von 75 Millionen Dollar zur „Förderung der Demokratie“ im Iran.

Auch im Fall Palästina, wo die USA und die EU seit langem „wirklich demokratische“ Wahlen forderten, lehnen sie nun das Ergebnis ab, weil ihnen der Wahlsieger, die islamisch-nationalistische Hamas, nicht gefällt – die in der Tat furchtbare Attentate auf israelische Zivilisten begangen hat.

In Haiti schließlich wollte die „internationale Gemeinschaft“ vor den Präsidentschaftswahlen vom 7. Februar unbedingt einen Wahlsieg von René Préval verhindern, weil der spätere Wahlsieger Beziehungen zu Expräsident Jean-Bertrand Aristide unterhält, der ebenfalls demokratisch gewählt, aber 2004 gestürzt worden war.

Von Winston Churchill stammt der Spruch: „Demokratie ist die schlechteste Regierungsform – außer all den anderen Formen, die von Zeit zu Zeit ausprobiert wurden.“ Wobei heute offenbar am meisten stört, dass man bei Wahlen das richtige Ergebnis nicht vorab festlegen kann.

Le Monde diplomatique vom 10.03.2006, von Ignacio Ramonet