09.04.2010

Ablenkung mit Burka

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Ablenkung mit Burka

Wahrscheinlich sind die Franzosen besser darüber informiert, wie viele Burkas in ihrem Land getragen werden (die genaue Zahl von 367 beruht auf einer verdächtig akkuraten Aufstellung des Inlandsnachrichtendienstes), als darüber, dass ihre Regierung gerade 20 Milliarden Euro aus der Staatskasse verschenkt hat.

Vor 18 Monaten traf die französische Regierung die Entscheidung, ihre Hilfe für die in Not geratenen Banken nicht etwa an eine Kapitalbeteiligung zu koppeln, die sie mit gutem Gewinn wieder hätte verkaufen können. Sie gewährte den Banken stattdessen einen Kredit, und zwar zu unerwartet günstigen Bedingungen. Inzwischen haben die Besitzer der Bankaktien 20 Milliarden Euro verdient. Das entspricht nahezu dem Defizit der Sozialversicherung im letzten Jahr von 22 Milliarden Euro.

Die Wahlerfolge des Front National und der extremen Rechten in ganz Europa haben auch damit zu tun, dass die Öffentlichkeit durch nebensächliche Polemiken abgelenkt ist, die zu Tode geritten werden, während wichtige Fragen unter den Tisch fallen, weil sie angeblich für Normalsterbliche viel zu kompliziert sind.

Nun will sich Nicolas Sarkozy nach seinem Fiasko bei den Regionalwahlen der Rentenreform zuwenden. Da dies in sozialer und finanzieller Hinsicht ein delikates Thema ist, kann man davon ausgehen, dass die französische Regierung die Burka-Debatte wiederbeleben wird, um das Publikum vom Wesentlichen abzulenken.

Wer dieses rhetorische Manöver unterlaufen will, muss sich deshalb keineswegs auf das schlüpfrige Terrain begeben, ein derart obskurantistisches Symbol zu verteidigen oder gar die Feministinnen und Feministen, die sich gegen die Burka wehren, als rassistisch zu bezeichnen.

Und doch kommt man nicht umhin, eine Rechte nur noch komisch zu finden, die sonst überall als Stütze der christlichen Kirchen, ihrer moralischen Ordnung und des Patriarchats agiert, jetzt aber auf einmal ihre laizistischen, feministischen und freidenkerischen Überzeugungen entdeckt. Der Islam scheint auch in dieser Hinsicht Wunder zu wirken.

1988 wurde George H. W. Bush Präsident der Vereinigten Staaten. Vorausgegangen war ein Wahlkampf von bemerkenswerter Demagogie. So hatte Bush zum Beispiel gefordert, das Verbrennen des Sternenbanners unter Strafe zu stellen. Von diesem „Delikt“ gab es damals pro Jahr vielleicht ein halbes Dutzend Fälle. Im US-Kongress stimmten später 90 Prozent der Volksvertreter für ein entsprechendes Gesetz, das anschließend vom Obersten Gerichtshof kassiert wurde.

Zur selben Zeit kam einer der größten Wirtschaftsskandale der USA ans Tageslicht: Der Kongress sorgte für die „Deregulierung“ der Sparkassen, so dass diese von Spekulanten ausgeplündert werden konnten. Das entsprechende Gesetz hatten Volksvertreter durchgebracht, deren Wahlkämpfe diese Spekulanten finanziert hatten.

1988 hatte fast niemand über die Gefahr dieses Großbetrugs diskutiert, obwohl sie durchaus bekannt war. Das Thema war zu kompliziert, das Volk sorgte sich mehr um die Verteidigung der Fahne.

Der Sparkassenskandal hat die Steuerzahler der USA 500 Milliarden Dollar gekostet. Bald werden wir wissen, was sich unter der französischen Burka versteckt. Und was uns das kosten wird.

Serge Halimi

Le Monde diplomatique vom 09.04.2010, von Serge Halimi