09.04.2010

Erzieherische Gewalt

zurück

Erzieherische Gewalt

von Bruno Preisendörfer

Ritter wurden nicht geschlagen. In einer Instruktion für die Direktion der Ritter-Akademie zu Berlin befahl Friedrich der Zweite, vulgo: der Große: „Es ist den Erziehern bei Gefängnisstrafe verboten, ihre Zöglinge zu schlagen; es sind Leute von Stand, denen man Seelenadel einflößen muss; man muss ihnen Strafen auflegen, welche den Ehrgeiz stacheln, nicht aber solche, die sie erniedrigen.“

Kinder ohne Adel indessen konnten die Lehrer prügeln wie die Bauern ihr störrisches Vieh. Die Kanaille steht so niedrig, dass sie nicht erniedrigt werden kann. Noch 1809, ein Vierteljahrhundert nach Friedrichs Tod, schrieb ein Gutachter anlässlich der Diskussion um eine neue Gesindeordnung, es sei zu bezweifeln, „dass der gemeine Mann im preußischen Staate schon den Grad von Kultur erreicht habe, nur aus Pflicht und Ehrgefühl allein die Motive zur Pflichterfüllung herzunehmen. […] Die Sektion des Cultus und öffentlichen Unterrichts wird erst gewirkt haben müssen, ehe wir das Züchtigungsrecht werden abschaffen können.“

Abgeschafft wurde das Züchtigungsrecht in Deutschland vor knapp zehn Jahren. Im November 2000 führte das „Gesetz zur Ächtung der Gewalt in der Erziehung“ zu einer Neufassung von Paragraf 1631, Absatz 2 des Bürgerlichen Gesetzbuchs: „Kinder haben ein Recht auf gewaltfreie Erziehung. Körperliche Bestrafungen, seelische Verletzungen und andere entwürdigende Maßnahmen sind unzulässig.“

Weil dieser Schritt erst vor zehn Jahren erfolgte, lässt sich diese Historie nicht damit abtun, das alles seien alte Geschichten.

Außerdem löste diese Neufassung von § 1631 Abs. 2 eine Neufassung ab, die selbst nur zwei Jahre alt war. Denn erst 1998 war der Paragraf so umformuliert worden: „Entwürdigende Erziehungsmaßnahmen, insbesondere körperliche und seelische Misshandlungen, sind unzulässig.“

Die Ersetzung der ‚Misshandlung‘ von 1998 durch die deutlichere und zugleich weiter gefasste ‚Bestrafung‘ im Jahr 2000 war ein kleiner Schritt für die Juristen, aber ein großer Schritt für die Kinder.

Die Verschiebung hin zum Recht des Erzogenen weg vom Recht des Erziehers wird noch deutlicher, vergleicht man die 2000er Fassung des Paragrafen mit der aus dem Jahr 1896: „Kraft Erziehungsrechts darf der Vater angemessene Zuchtmittel gegen das Kind anwenden.“ Der Vater, nicht die Mutter! Der Mutter war es beschieden, die Kinder zur Brust zu nehmen und ihnen ins Gewissen zu reden, den Gürtel von der Hose schnallen konnte und durfte nur der Vater.

Zeitlich ziemlich genau in der Mitte zwischen dieser Festschreibung des väterlichen Züchtigungsrechtes 1896 und der Festschreibung des kindlichen Rechts auf gewaltfreie Erziehung im Jahr 2000 hatte das väterliche Züchtigungsrecht wegen der mütterlichen Gleichberechtigung seine Exklusivität eingebüßt. Das Gleichstellungsgesetz vom Juli 1958 drückte auch den Müttern den Stock in die Hand.

Doch blieben die meisten von ihnen bei der nachhaltigeren Methode des Liebesentzugs. Erst wenn das nicht fruchtete, behalfen sich die Mütter mit der Androhung der Strafe, die dann der Vater zu vollstrecken hatte. „Warte nur, bis Papa nach Hause kommt“ – wer aus meiner Generation kann von sich behaupten, dies nie aus dem Mund der Mutter gehört zu haben. Gestählt vom Lebenskampf, dem das liebende Weib im Heim am Herd nicht ausgesetzt war, trat am Abend der Ernährer ins Familienidyll und nahm mit harter Hand die Abstrafung vor, was das weiche Mutterherz nicht fertigbrachte. Das mag eine Karikatur sein – aber eine bürgerlich-rechtlich abgesicherte.

In der Schule wurde die Generation derjenigen, denen nun so langsam die ersten Enkel ins Haus stehen oder bereits ans Herz gewachsen sind, noch in Gegenwart des Stockes erzogen, auch wenn der Stock meistens nicht mehr deutlich sichtbar in der Ecke stand. Im Übrigen tat es auch ein Lineal, mit dem auf die Innenhand, bei besonders schlechtem Benehmen (der Schüler) oder bei besonders schlechter Laune (der Lehrer) auch auf die Fingernägel geschlagen wurde.

Derlei war bis weit in die 1960er Jahre hinein üblich und abgesichert durch das Gewohnheitsrecht. So nannten Juristen dieses Unrecht, an das sich die Leute gewöhnt hatten. Jedenfalls galt das in den unteren wie den oberen Klassen der Volksschule, wie die pädagogische Institution für die Kinder einfacher Leute in den 50ern und Anfang der 60er noch brutal offen und ehrlich hieß.

Die Volksschule fürs Volk, die Mittelschule für die Mittelschicht, die Oberschule den Honoratioren und der Oberschicht. Die Volksschüler wurden von Volksschullehrern geprügelt, die Mittelschüler von Mittelschullehrern und die Oberschüler überhaupt nicht.

Nicht in den oberen Klassen – in den unteren schon. Die Strafrituale, die vor allem in den geschlossenen Kloster- und Internatsanstalten mit zölibatärer Inbrunst am Knabenkörper vollzogen wurden, galten nicht als Ärgernis, und keinem dieser furchtbaren Erzieher wurde, wie es im Matthäus-Evangelium über diejenigen heißt, die Kindern Böses tun, „ein Mühlstein an den Hals gehängt“, um „in die Tiefe des Meeres versenkt“ zu werden.

Erst die antiautoritäre Bewegung hat diese Übergriffe, die wegen ihrer Alltäglichkeit gar keine waren, moralisch diskreditiert und pädagogisch unmöglich gemacht. Von den angeblich harmlosen Kopfnüssen, die überforderte Pauker beim Marsch in der Institution zwischen den Bankreihen nach links und rechts austeilten, bis zur demütigenden Abstrafung mit dem Stock – die Strafe als Fortsetzung der Erziehung mit körperlichen Mitteln verlor an Legitimität.

Aber sie verschwand nicht. Die schwarze Pädagogik zog sich in die Grauzonen zurück, in die Nischen der Gewalt, ob in Familien, hinter Klostermauern oder in den Büros der Edelinternate. Das Interesse am Thema erlosch. Im letzten Drittel der 70er konnte eine Publikation wie die „Schwarze Pädagogik“ der im Januar 2010 verstorbenen Autorin Katharina Rutschky noch zum Erfolgsbuch werden. Aber seit Mitte der 80er war das Thema nicht mehr modisch.

In den 90ern schließlich begann mit dem 68er-Bashing jene Renaissance einer als Wertevermittlung verschleierten Autorität, die heute in den sogenannten bildungsnahen Schichten Mainstream ist und Bücher wie „Lob der Disziplin“ von 2006 zu Bestsellern machte. Von der Nervensäge Alice Miller („Am Anfang war Erziehung“) zur Nervensäge Bernhard Bueb – welch ein Abstieg.

Doch nun ist es wegen der zahllosen Priesterhände an Knabenleibern zu einer Reanimierung des Themas Strafe und Gewalt gekommen. Der Skandal-Appeal des sexuellen Missbrauchs stellte auch den institutionellen Machtmissbrauch auf die Bühne der öffentlichen Erregung. Die vor allem in Klosterschulen, Internaten und Heimen über Jahrzehnte herrschende Strafroutine wird nun schrecklich erschrocken diskutiert, als habe man von all dem nichts gewusst.

„An der Situation von Fürsorgezöglingen ist ablesbar, welche Erziehungsvorstellungen in einem Staat herrschend sind.“ Das ist ein Zitat aus der Diskussion, die vor vierzig Jahren geführt wurde. „Was gemeinhin für Missstände in den Heimen gehalten wird, ist deren Praxis und Prinzip.“

Die beiden Sätze stammen aus den „Vorbemerkungen“ des Drehbuchs zu Ulrike Meinhofs Fernsehfilmprojekt „Bambule“ mit den Mädchen und jungen Frauen des Westberliner Fürsorgeheims Eichenhof. Der erste Satz ist falsch, der zweite richtig. Falsch ist der erste, weil er in schwungvollem Reduktionismus alles ‚gesamtgesellschaftlich‘ über einen Kamm schert und nicht mehr unterscheidet, wer wann wie von wem zu was erzogen wird. Der zweite Satz ist richtig, weil er darauf hinweist, dass die Zwangsinstitution als ganze das Problem ist, nicht bloß der einzelne Missstand in ihr.

Dass der Film „Bambule“ verfemt wurde, hatte nicht nur mit Meinhofs Flucht in den Terrorismus zu tun, sondern auch mit der Vorbehaltlosigkeit, mit der sie die institutionelle Erziehung als das Einüben in Verhältnisse beschrieb, in denen die Macht von anderen ausgeübt wurde.

Heute, da Eltern vor Gericht ziehen, wenn ihr Sohn von einer Lehrerin etwas zu heftig am Arm gepackt wird und ein Bluterguss zurückbleibt, kann man den Eindruck bekommen, die Schlagersängerutopie von den Kindern an der Macht sei Wirklichkeit geworden. Und wenn an der Schule totgeschossen wird, sind nicht die Lehrer die Schützen. Doch das sind wirklich Einzelfälle. Die institutionelle Gewalt hingegen kehrt in all den gar nicht so alten Erziehungsgeschichten wieder, die nun einer vom pädagogischen Sexus geschockten Öffentlichkeit erzählt werden.

Bruno Preisendörfer, geboren 1957, ist Schriftsteller und Herausgeber von www.fackelkopf.de in Berlin. 2008 erschien von ihm „Das Bildungsprivileg. Warum Chancengleichheit unerwünscht ist“ (Eichborn). © Le Monde diplomatique, Berlin

Le Monde diplomatique vom 09.04.2010, von Bruno Preisendörfer