13.09.2013

Städte für Touristen

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Städte für Touristen

von Katharina Döbler

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Auch Gemeinplätze sind irgendwann überholt. Zum Beispiel der, dass Reisen bilde. Lange Zeit hingen ja viele Leute, vom Handwerksgesellen bis zum Bildungsbürger, dieser Überzeugung an. Und als ihr Kronzeuge gilt, wen wundert’s, natürlich der Geheimrat Goethe, der im Jahr 1786 in die Postkutsche stieg und über Wochen langsam bis nach Rom gondelte. Sein weimarischer Horizont weitete sich dabei dergestalt, dass er mit seinen Eindrücken und Einsichten ein vielhundertseitiges Buch füllen konnte und dass in der Folge sogar Weimar, das kleine Kaff, einen Hauch von Weltläufigkeit abbekam: Heute reisen die Italiener dorthin.

Nur sehr wenige Menschen hätten den Wunsch – und die Möglichkeit – monatelang unterwegs zu sein. Aber dahin, wo die Zitronen blühn und die Ruinen stehn, wollen doch viele reisen. Etwa zu Beginn des 19. Jahrhunderts fing man an, solche Leute auf der Suche nach Sonnenlicht und Kulturerbe „Touristen“ zu nennen. Mit zunehmendem Wohlstand in den Ländern des Nordens und den entsprechenden technischen Möglichkeiten wurden es immer mehr; im Laufe des 20. Jahrhunderts schließlich entwickelte sich „Tourismus“, auch dank des bezahlten Jahresurlaubs für Arbeitnehmer, zum Massenphänomen. Der Schweizer Claude Kaspar definiert ihn in seinem einschlägigen Lehrbuch von 1996 so knöchern wie unwiderlegbar als „die Gesamtheit der Beziehungen und Erscheinungen, die sich aus der Reise und dem Aufenthalt von Personen ergeben, für die der Aufenthaltsort weder hauptsächlicher und dauernder Wohn- noch Arbeitsort ist“.

Zu solchen temporären Aufenthaltsorten werden inzwischen sämtliche Städte Europas, die ein historisches Zentrum, typische Brauchtümer und irgendein höchstes, ältestes, größtes oder einziges Etwas aufzuweisen haben. Es gibt ziemlich viele solcher Städte, und die Konkurrenz ist entsprechend groß. Denn Tourismus wollen alle, je mehr, desto besser. Touristen wollen bedient, bekocht, beherbergt und amüsiert werden, egal wo, sogar in der Wüste, deshalb schafft Tourismus immer Arbeitsplätze. Er ist die Geldquelle, die umso lieber angezapft wird, je weniger in der Gegend sonst zu holen ist.

Und weil das Argument Arbeitsplatz das schlagendste Argument überhaupt ist, stellt sich jede Stadt darauf ein: Macht die Eisbuden auf und die Andenkenläden! Macht aus Plätzen Straßencafés und aus malerischen Straßen Amüsiermeilen! Die Kreditkarten kommen!

Da Plätze und städtisches Leben – im Gegensatz zur Natur – anscheinend als unendliche Ressource betrachtet werden, ist dem Treiben keine Grenze gesetzt. Da propagiert niemand sanften oder nachhaltigen Tourismus.

Wie sehr sich eine Stadt durch diese willkommen geheißene Invasion verwandeln kann, sieht man am deutlichsten in den alten Zentren Mitteleuropas: Bis vor etwa zwanzig Jahren kannten sie dergleichen nicht – der reale Sozialismus wollte weder Kommerz noch Kultur auf seinen öffentlichen Plätzen, die meistens öde, windig und wenig einladend wirkten. In Prag oder Budapest saß man auf Brunnenrändern und kaufte nichts. Cafés und Wirtshäuser waren selten, die wenigen aber viel frequentiert und für alle bezahlbar.

Heute sind die schönsten Plätze dort von Restaurantstühlen überwuchert, Markisen verdecken den Blick, und dumpfe Retortenmusik wummert einem um die Ohren. Für Einheimische ist eine Tasse Kaffee in den traditionellen Caféhäusern nicht mehr zu bezahlen. In den vernachlässigten Straßen außerhalb des Zentrums begegnet man schlafenden Katzen und Biertrinkern, die misstrauisch von einer unklaren Beschäftigung aufblicken. Die einzig sichtbare Aktivität ist die Bewegung, mit der jemand einen Eimer Wasser über den Bürgersteig gießt. Es ist, als sei alles Leben aufgesogen von der großen internationalen Party, die in den verwaisten historischen Altstädten Europas für zahlende Gäste gegeben wird.

Natürlich bin ich selbst eine von denen, die mit Rucksack, Kamera und Kreditkarte in schöne alte Städte reisen, staunend und neugierig, angewiesen auf Unterkunft, Essen und Erklärungen. Ich kaufe Mitbringsel für Verwandte, ich sitze im Café. Und finde die vielen anderen Touristen lästig.

Als Einzelerscheinung wären solche wie ich kein Problem; aber in Massen sind wir ein Schwarm, der die Stadt ruiniert, gnadenlos wie die Heuschrecken. Was übrig bleibt, wenn der Tourismus einen Ort vollständig übernommen hat, kann man in Rothenburg ob der Tauber oder auf Mykonos besichtigen: Die Steine und Gassen sind noch da, aber sie sind nur noch Verkaufsfläche. In den Häusern wohnt niemand mehr, die als Bewohner kostümierten Verkäufer simulieren ein Leben, das es nicht mehr gibt.

Einer der schönsten Plätze, die ich kenne, ist der Rynek Glówny von Krakau. Vor ungefähr zwanzig Jahren sah er aus wie ein großzügiger Saal mit sparsamem Mobiliar, in dem gerade kein Fest stattfand. Er war weit, ohne im mindesten öde zu sein. Seine Leere wirkte luxuriös und das Gebäude der Tuchhallen in seiner Mitte wie ein exquisites Möbelstück. Ein paar wenige farbige Blumenstände schmückten ihn. Die würdevollen und blassen Fassaden sahen aus wie ältere Herrschaften, die eine Menge erlebt, aber immer auf sich gehalten haben. Hinter manchen verbarg sich diskret ein Restaurant oder Café. Ab und zu trat eine Häuflein Pilger oder Touristen aus der Marienkirche und zog fotografierend über den Platz. Man hörte den Wind und die Menschenstimmen. Das ist lange her.

Noch früher war Krakau ein Handelszentrum, der Rynek ein viel besuchter Marktplatz; die Tuchhallen sind Vorläufer der Shoppingmalls, auch wenn, ästhetisch betrachtet, Welten dazwischen liegen.

Heute ist das Zentrum von Krakau wieder kommerziell bedeutsam, aber das Geschäft, das hier brummt – was heißt brummt: es lärmt, es wummert, es kreischt und jodelt –, ist, was wohl, der Tourismus. Im alten Festsaal ist nun auch die Party im Gange, mit ihrem Bassgewummer und Gedudel, ihren Verkaufsständen, Menschenmassen mit Fähnchen und ohne, Pferdekutschen, Straßenkünstlern. Der Platz selbst mit seiner ehrwürdigen Eleganz ist unter all den Markisen und schrillen Schirmen, unter all dem Gewimmel fast nicht mehr sichtbar. Seine Fassaden sind perfekt restauriert und so glatt, dass sie an nichts mehr erinnern.

Wie bei vielen anderen alten Stadtplätzen ist seine Schönheit zur Attraktion geworden und die Attraktion zum Geschäft. Die Nachfrage nach Schönheit und Geschichte ist – Reisen bildet! – groß, das Angebot an Fastfood, Getränken, Markenwaren und touristischen Begleitartikeln unermesslich. Und es ist, im Großen und Ganzen, dasselbe in Barcelona, Budapest oder Berlin.

Ach, Berlin! Hierher kommen Touristen von überall, längst ziehen die Ströme von Süden nach Norden und von Osten nach Westen, und es werden jedes Jahr mehr. Und die Stadt? Stellt sich darauf ein: Auf dem ehemaligen Mauerareal am Checkpoint Charlie zum Beispiel, dort, wo sich sowjetische und amerikanische Panzer praktisch Geschützrohr an Geschützrohr gegenüberstanden, befindet sich heute eine Wurstbudenagglomeration von sagenhafter Dichte, die von aufgeklebten historischen Schwarzweißfotos umgeben ist: Panzer, Stacheldraht, Curry mit oder ohne Darm.

Eine Simulation des Kontrollhäuschens wurde etwas versetzt aufgestellt, damit der Verkehr besser fließt. Und wie er fließt: Busse, Bierbikes, Trabis. Es ist ein bunter, billiger Zirkus, zusammengestellt aus ein paar disparaten historischen Objekten. So hat die Stadt einen der wichtigsten Orte ihrer Geschichte einer völlig beliebigen Kommerzialisierung überlassen, im Namen des Arbeitgebers Nummer eins, des Tourismus.

Aber ist es wirklich das, was die Touristen wollen? Wurst mit Bildern? Sie werden nicht gefragt. Sie bekommen etwas vorgesetzt, eine Stadtsimulation, und zwar die Version, mit der am einfachsten und schnellsten Geld zu verdienen ist: die des allgegenwärtigen, zwingenden Konsums. Ihre Architektur und ihre Geschichte werden, so sie überhaupt noch sichtbar sind, als Reproduktionen feilgeboten. Für Bildung, dieses nur mit einigem Zeitaufwand zu erwerbende Gut, ist da gar kein Platz. Wo in einem so veränderten öffentlichen Raum können sich Menschen – Gäste wie Einheimische – noch niederlassen, ohne nachdrücklich zum Erwerb, zum käuflichen Erlebnis genötigt, wenn nicht gar gezwungen zu werden? Wer Kunde im Café Central ist, darf sich gern auf dem Marktplatz aufhalten. Wer Eintritt zahlt, auch in der Kirche.

Das zweckfreie Schlendern, das Herumsitzen und das Dem-ganz-normalen-Leben-Zusehen, das einmal eine Lieblingsbeschäftigung von Touristen in der Stadt war, wird schon deshalb schwierig, weil das ganz normale Leben in einer zur Verkaufsfläche mutierten Innenstadt nicht mehr stattfindet. Irgendwann in diesem schleichenden Prozess merkt man, dass der Raum der Stadt mit seinem Mobiliar – den Gebäuden, dem Straßenpflaster, den Bänken, Brunnen und Bäumen – nicht mehr für alle da ist. Er muss sich bezahlt machen, vielfach, und Arbeitsplätze schaffen: Arbeitsplätze für Leute, die sich ihre eigene Stadt dann nicht mehr leisten können.

So kommt die Stadt sich selbst abhanden. Und die Touristen müssen feststellen, dass sie um das, was sie erleben wollten, betrogen sind.

© Le Monde diplomatique, Berlin

Le Monde diplomatique vom 13.09.2013, von Katharina Döbler