13.04.2006

Wo sind die Petrodollars geblieben?

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Wo sind die Petrodollars geblieben?

Algerien braucht Leute, die das Geld sinnvoll ausgeben von Jean-Pierre Séréni

Algerien kassiert, wie die anderen Opec-Staaten auch, dank der gestiegenen Weltmarktpreise für Rohöl US-Dollar en masse. Von 8 Milliarden Dollar im Jahr 1998 und 13 Milliarden 1999 stiegen die Öleinnahmen 2004 auf 32 Milliarden und 2005 auf knapp 45 Milliarden Dollar. In diesem Jahr werden sie sicher weiter klettern. Schon jetzt ist diese vierte Runde starker Ölpreissteigerungen, die im Sommer 2003 einsetzte, also kurz nach dem Sturz des Saddam-Regimes im Irak durch US-Truppen, prägnanter und länger andauernd als ihre drei Vorläufer.

Diesem Ölpreisschock hat es der algerische Präsident Abdelaziz Bouteflika zu verdanken, dass er endlich die finanziellen Probleme lösen kann, die ihm seit seinem Amtsantritt im Frühjahr 1999 zusetzten. Damals meinte ein enger Mitarbeiter des Staatschefs: „Die Kassen sind leer, das Ausland hat kein Vertrauen, die externen Schulden zwingen uns in die Knie, die öffentlichen Betriebe vergeuden unsere kargen Finanzreserven.“ Und im November 1999 kam Kemal Dervis, der Mann der Weltbank für die arabische Welt, in Algier vorbei und riet zu Sparpolitik und Bescheidenheit: „Streichen Sie elf der zwanzig laufenden Großprojekte, und tun Sie was für die Landwirtschaft, für die Wasserreserven und für das soziale Netz …“

Früher waren die knappen Kassen das Problem, heute sind es die sprudelnden Einnahmen. Die Demokratische Volksrepublik Algerien hat genug Geld, um den Wirtschaftsaufschwung zu finanzieren und die durch den blutigen Bürgerkrieg gespaltene Gesellschaft zu befrieden. Aber inzwischen geht es darum, den unerwarteten Geldsegen optimal zu nutzen und ihn nicht zu verschleudern, wie es bei früheren Ölkrisen geschah.

Während der ersten Ölkrise 1973 bis 1974 entwickelte Algerien den Ehrgeiz, zum Japan Afrikas zu werden. Die zusätzlichen Einnahmen aus dem Export der fossilen Brennstoffe flossen überwiegend in den Kauf „schlüsselfertiger“ Fabriken. Algerische Delegationen reisten durch die Industriestaaten und kauften dort nur das Beste und häufig auch nur das Teuerste. Die neuen Fabriken produzierten vor allem Eisen, Aluminium, Düngemittel, Papier, Chemieprodukte und Lastkraftwagen. Viele dieser Fabriken entstanden in verarmten Regionen, wo die Arbeitskräfte nur gering qualifiziert und mit moderner Technologie nicht vertraut waren. Deswegen verzögerte sich in vielen Fällen die Aufnahme der Produktion. Noch bevor die Schwerindustrie in die Gänge kam, sanken die Ölpreise wieder. Das bescherte dem Land eine bedrückende Erblast: Die Staatsbetriebe machten Verluste, Industrieanlagen blieben unausgelastet, und die Auslandsschulden stiegen ins Unermessliche, weil man für die Industrialisierung Kredite aufgenommen hatte.

Kurz vor der zweiten Ölkrise von 1979 bis 1982 wechselte die politische Führung des Landes. Als Nachfolger des forschen Houari Boumedienne, der 1978 starb, war der blasse Chadli Benjedid verzweifelt bemüht, sich Legitimität zu verschaffen. Mit den steigenden Öleinnahmen finanzierte seine Regierung den massenhaften Import von Konsumgütern. Die Algerier, die das nötige Geld hatten, konnten sich freuen: In den staatlichen Geschäften waren Kühlschränke, Fernsehgeräte und Autos zu haben. Doch dieses Importprogramm war befristet und wurde nicht fortgesetzt.

Den dritten Ölpreisschock in den Jahren 1991 und 1992 hat die Mehrheit der Bevölkerung kaum mitbekommen. Die Mehreinnahmen in Höhe von 3 bis 4 Milliarden US-Dollar dienten dazu, einen Teil der rückständigen Zahlungen zu begleichen, die 1984/1985 nach dem Sinken der Ölpreise aufgelaufen waren. Die Regierung wollte die Umschuldung der externen Kredite um jeden Preis verhindern, denn die Wirtschaft sollte nicht unter die Kuratel von IWF und Weltbank geraten. Die Alternative war das „neue Profil“ – ein diskretes Arrangement mit der französischen Bankgesellschaft Crédit Lyonnais, mit dem zugleich die Außenstände bei französischen Unternehmen beglichen wurden.

Doch was man mit dieser Übereinkunft hatte verhindern wollen, trat am Ende dann doch ein. Im April 1994, mitten in der Welle terroristischer Anschläge, war kein Geld mehr in der Staatskasse, um die Ladung Grieß eines Frachtschiffs zu löschen, das in Algier auf Reede lag. Die Regierung musste die Umschuldung und die damit einhergehenden Bedingungen am Ende doch akzeptieren.

Elf Jahre später schwimmt Algerien geradezu im Geld: Die staatlichen Devisenreserven übersteigen 55 Milliarden US-Dollar und decken die Importe für mehr als zwei Jahre; bei der Zentralbank hat der Staat einen Schatz aufgehäuft, der den Steuereinnahmen eines Jahres (ohne das Ölgeschäft) entspricht; die externe Verschuldung (16,4 Milliarden US-Dollar Ende 2005 gegenüber 24 Milliarden 1990) stellt kein Problem mehr dar. Selbst der Pariser Kreditversicherer Coface, der für Unternehmen und Banken die Risiken der Exportmärkte evaluiert, bescheinigt Algerien im Hinblick auf die „gut aufgestellte“ Wirtschaft des Landes ein geringes Risiko.

Symbol dieses unerwarteten Reichtums ist der zu 100 Prozent in Staatsbesitz befindliche Ölkonzern Sonatrach. Er liegt inzwischen auf Rang 12 der weltweit größten Mineralölkonzerne, ist ein führender Erdgasanbieter (nach Russland zweitgrößter Erdgaslieferant für Europa und zweitgrößter Flüssiggasanbieter in den USA) und bietet neben Rohöl noch eine breite Palette von Exportprodukten an (Kondensat, Flüssiggas, Raffineriegüter, Petrochemie). In den letzten Jahren kooperiert Sonatrach auch immer stärker mit ausländischen Konzernen.

Erst 1986, 15 Jahre nach den Verstaatlichungen und dem Abzug der französischen Techniker, hatte Algier in der Sahara erstmals Prospektionen durch ausländische Ölunternehmen zugelassen. Kleine US-amerikanische Firmen nutzten diese Chance als Erste. Den größten Glücksgriff machte die Firma Andarko, die mehrere große Erdölvorkommen im Osten Algeriens entdeckte. 1991 setzte die Regierung trotz heftiger Proteste der Bevölkerung die Politik der Öffnung fort. 2000 legte der neue Energieminister Chekib Khalil einen Gesetzentwurf vor, der die Sonatrach „normalisiert“, ihr also die alten, quasi hoheitlichen Rechte entzieht. Früher hatte der Staatskonzern von ausländischen Firmen Gebühren erhoben und eigenständig Bohrgenehmigungen vergeben.

Jetzt sollte der Staatskonzern internationaler Konkurrenz ausgesetzt werden. Doch als der Konzernchef zurücktrat und die Gewerkschaft protestierte, knickte die Regierung ein. Das Gesetz wurde 2005 aber doch noch verabschiedet. Ob es die erwarteten Früchte trägt, wird sich erst zeigen müssen. Auf jeden Fall haben die Entwürfe der Jahre 1986 und 1991 zur Ankurbelung der Rohölproduktion beigetragen. Sie hat sich in 20 Jahren praktisch verdoppelt.

Trotz des Petrodollarsegens bleibt das Alltagsleben für die Menschen extrem schwierig. Das ruft den Unmut der Bevölkerung hervor: Es kommt immer häufiger zu Straßensperren, zur Besetzung von öffentlichen Gebäuden oder sogar Brandstiftung, zu Entführung von Politikern oder zu gewalttätigen Demonstrationen, die nicht selten mit Krawallen enden.

Die Probleme gleichen sich überall im Land: kein Wasser, kein Strom, keine Wohnung, keine Arbeit, keine Kanalisation, keine Straßen. Die ökonomische Unsicherheit der 1990er-Jahre trieb Millionen Menschen vom Land in die Slums der Städte. Diese Menschen können nicht verstehen, warum Algerien reich ist und die Algerier arm sind.

Angesichts der Tatsache, dass das Pro-Kopf-Einkommen nach Angaben des Nationalen Statistischen Amtes innerhalb von zwei Jahren um 31,3 Prozent gestiegen ist, fragt man sich, warum die Regierung nichts unternimmt, um Millionen Jugendlichen, die Arbeit und ein Dach über dem Kopf suchen, zu helfen. Stattdessen lässt der Staat diese Jugendlichen von der Polizei drangsalieren. Sie wurde in den letzten Jahren drastisch verstärkt: Von 1980 bis heute ist die Zahl der Polizisten von 30 000 auf 120 000 angestiegen, und bis 2009 will die Regierung weitere 45 000 Sicherheitskräfte rekrutieren.

Warum beschränken sich die Herrschenden darauf, auf Bedürfnisse, die sie durchaus befriedigen könnten, mit Repression zu reagieren? Die Regierung beließ es bislang lediglich dabei, das Staatsbudget enorm auszuweiten. Im Frühjahr 2005 legte sie ein Programm für die Jahre 2005 bis 2009 auf, das mit einem Volumen von 55 Milliarden Dollar den Wirtschaftsförderungsplan von 2001 fortschreiben soll. Das 2005 verabschiedete und 2006 in Kraft getretene Finanzgesetz hat die Staatskasse großzügig aufgefüllt: Für Infrastrukturprogramme stehen 28 Prozent mehr als 2005, doppelt so viel wie 2004, zur Verfügung. Zum ersten Mal in der Geschichte des algerischen Haushalts ist dieser Etatposten damit besser ausgestattet als der für die laufende Verwaltung.

Und das ist noch nicht alles. Der erste Ministerrat, den Präsident Bouteflika im Januar 2006 einberief, verabschiedete ein Sonderprogramm von 5 Milliarden Dollar zugunsten des algerischen Südens. Dem sollen weitere Programme folgen, zum einen für die Atlas-Hochebene, eine traditionell sehr arme Gebirgsregion, und zum anderen für die Kabylei, die durch die Kämpfe zwischen Armee und Islamisten in den letzten Jahren besonders gelitten hat.

Doch die Bewilligung von staatlichen Geldern bedeutet noch lange nicht, dass auch nur der Beginn der Arbeiten bevorsteht. Überall werden die Investitionen durch mangelndes Know-how verzögert. Das Problem ist nicht das Geld, sondern die Fähigkeit, es sinnvoll auszugeben. Viele der Wilayas (Bezirke) und erst recht die APC (Gemeinden) können ihre Budgets für Anlagen und Ausstattung gar nicht umsetzen, weil die qualifizierten und kompetenten Führungskräfte fehlen, die für die Beantragung und für das Management der Projekte nötig sind. Noch dramatischer ist die Lage in einigen technischen Ministerien (Verkehr, Industrie, Wasserwirtschaft u. a.), die wegen häufiger Ministerwechsel schlecht organisiert sind oder unter der Last unvollendeter, vor zehn oder zwanzig Jahren begonnener Programme zusammenbrechen. Das gilt zum Beispiel für die U-Bahn von Algier, die 2008 in Betrieb gehen soll, oder den neuen Flughafen im Vorort Dar-el-Beida. Ihre Unfähigkeit, die geplanten Großprojekte zu realisieren, begründen die Bauunternehmen häufig mit dem Hinweis auf bürokratische Hemmnisse, verschleppte Zahlungen und böswillige Funktionäre.

Die Nachfrage ist riesig, doch das Angebot bleibt gering. Einzelne Stimmen innerhalb wie außerhalb des Landes plädieren für eine sparsamere Umsetzung des Etats für 2006 und schlagen vor, einen Teil der frei werdenden Finanzmittel zur Förderung anderer Wirtschaftssektoren und für Aktivitäten jenseits des Ölsektors einzusetzen. Das wäre eine sinnvolle Sache, damit die Bürokraten nicht alle anderen gesellschaftlichen Akteure an den Rand drängen. Fragt sich nur, wer auf diese Stimmen hört.

Aus dem Französischen von Lilian-Astrid Geese Jean-Pierre Séréni, Journalist und Autor (mit Ania Francos) von „Un Algérien nommé Boumediene“, Paris (Stock) 1976.

Le Monde diplomatique vom 13.04.2006, von Jean-Pierre Séréni