Alles beim Alten in Großbritannien
Edito
Die Briten haben den Wechsel gewählt, auch wenn der zum ersten Mal die Gestalt einer Koalition annimmt. Aber bekommt Großbritannien damit wirklich eine neue Regierung?
Was tatsächlich zur Wahl stand, machte ein satirisches Wahlplakat deutlich. Es zeigte einen lächelnden Premierminister Gordon Brown und das Zitat: „Ich habe den Abstand zwischen Arm und Reich vergrößert. Geben Sie mir Ihre Stimme.“ In der Tat: Am Ende der konservativen Ära Thatcher/John Major verfügte das reichste Hundertstel der Briten über 17 Prozent des Nationaleinkommens, am Ende der Labour-Ära Blair/Gordon Brown sind es 21 Prozent.
Die Pointe dieses Plakats ist, dass es für die Konservativen warb. Es ist eines von vielen Indizien dafür, dass die beiden bislang dominierenden Parteien eine Abkehr von ihren alten Bindungen und Säulenheiligen vollzogen haben. Thatcher wie Blair sind von gestern, Großbritannien geht neue Wege.
In diesem Wahlkampf traten auf einmal Themen in den Vordergrund, die lange tabu waren: die Klassenfrage, der Staatsinterventionismus, die Gewerkschaften. Die Konservativen hatten sich zunächst auf das Thema Staatsverschuldung und Sparpolitik verlegt, mussten aber umschwenken, als nicht mehr auszuschließen war, dass die Sanierung der Finanzen außer Etatkürzungen auch Steuererhöhungen nötig machen würde. Auf einmal feierten sie den National Health Service, den Maggie Thatcher so verabscheut hatte, und versprachen erhöhte Ausgaben für das staatliche Gesundheitswesen. Am Ende leisteten sie sogar Abbitte für ihre traditionell schwulenfeindlichen Positionen und entdeckten den Umweltschutz.
Auf das bewährte Thema „Sicherheit der Bürger“ wollten die Tories zwar nicht verzichten, aber auch in diesem Bereich sind Unterschiede zum politischen Gegner kaum noch auszumachen. Schließlich war es die Labour Party, die dafür sorgte, dass weitere 1 036 Straftaten in die Liste der Delikte aufgenommen wurden, für die Gefängnisstrafen angedroht werden.
New Labour hatte von Anfang an die Deregulierung vorangetrieben, mit der die Londoner City zur Brutstätte der Finanzmarktturbulenzen wurde. Heute steht Großbritannien kurz vor dem Bankrott, das dramatische Haushaltsdefizit von 11,9 Prozent des Bruttosozialprodukts erinnert an die Verschuldung Griechenlands (13,6 Prozent). Das Parlament reagierte darauf mit der Kürzung der Sozialausgaben. Das war nicht gut für das Image der Abgeordneten, die noch voriges Jahr die öffentlichen Kassen geplündert hatten, um sich die Renovierung ihrer Zweitwohnungen erstatten zu lassen. Jetzt macht sich Labour auf einmal für eine Reindustrialisierung stark – und rügt ab und zu sogar die zuvor gehätschelten Banker.
Die Liberal Democrats haben nicht so gut abgeschnitten, wie sie und viele es erwartet hatten, aber die Rolle des Königsmachers fiel ihnen dennoch zu. Ihr Vorsitzender und Spitzenkandidat Nick Clegg – Sohn eines Bankers, Cambridge-Absolvent, verheiratet mit einer Wirtschaftsanwältin – ließ es sich nicht nehmen, im Wahlkampf linke Töne anzuschlagen. Und so ist es ausgerechnet ein klassischer Zögling der britischen Elite, der heute davor warnt, dass in dem wirtschaftsliberalen Paradies, das Thatcher und Blair geschaffen haben, irgendwann „soziale Unruhen wie in Griechenland“ ausbrechen könnten.
Serge Halimi