12.05.2006

Zeit für Schurken

zurück

Zeit für Schurken

Jean Baudrillard

Ehre erweisen sollten wir Herrn de Villepin dafür, dass er sich auf dem Altar der Macht geopfert hat. Zumal er es nicht in erster Linie aus persönlichem Ehrgeiz tat, sondern um zu beweisen, dass es noch Macht gibt und dass folglich die Idee der Macht noch zu retten ist, auch wenn sich die politische Landschaft in völliger Auflösung befindet. In seinem Fall ist das besonders dramatisch, da er es im Namen des globalen Liberalismus tat, der mehr oder weniger überall der Ausübung realer politischer Macht ein Ende setzt. Gänzlich ironisch wird die Situation dadurch, dass auch die Jugend und die Studenten für die Errettung einer alten Idee kämpfen, für die Idee der Revolte nämlich, um den Nachweis zu erbringen, dass am Grunde dieser stagnierenden und vermodernden Gesellschaft – die als einzige Ideale Komfort, Leistung und Sicherheit kennt – noch eine lebendige und unhintergehbare Kraft der Verweigerung und der Subversion am Werke ist. Das Komischste und Bedauerlichste aber ist, dass die Jugend dabei genau jene Lebens- und Gesellschaftsmodelle ökonomischer Arbeits- und Lebensbeschaffung einfordert, auf denen die Langeweile und die Entzauberung der heutigen Gesellschaft beruhen.

Der Befund ist zunächst ziemlich befremdlich: Wir haben es mit einem farcenhaften Ereignis zu tun, bei dem der eine das Melodram der Macht spielt, die anderen das der Revolte, wobei weder der eine noch die anderen als historische Akteure in Erscheinung treten. Wir haben es also mit einer „schizophrenen Farce“ zu tun, wie wir sie von Ceronetti kennen, mit einem Trompe-l’Oeil, das beide Seiten darüber hinwegtäuscht, dass längst das Ende (politischer) Macht und Gegenmacht gekommen ist. Diese Farce täuscht sowohl jene, die sie vermeintlich ausüben, als auch jene, die sich ihr unterwerfen zu müssen glauben. Ein theatralisches Duo ohne Überzeugungskraft. Vielleicht einfach deswegen, weil es zwar ein Subjekt der Geschichte, nicht aber unbedingt ein Subjekt des Endes der Geschichte gibt.

So weit eine erste Auslegung. Ganz anders sieht es aus, wenn man das Ereignis nicht frontal, sondern im Profil betrachtet, das heißt, wenn man es radikal von allen angegebenen Beweggründen trennt, die es zu einem Nullsummenspiel machen. Wenn man es in den Zusammenhang von Ereignissen desselben Typs stellt oder es als atypisches Ereignis denkt und versucht, in ihm ein Symptom der politischen und sozialen Krise zu erblicken. Der „21. April“, das „Nein zum Referendum“, die Novemberunruhen, die Krämpfe um den Ersteinstellungsvertrag: lauter komplizenhafte Ereignisse, lauter mehr oder weniger blinde, unvorhersehbare und widerständige Ereignisse, die ich „Schurkenereignisse“ nennen möchte. Nach dem Vorbild der „Schurkenstaaten“, die sich der globalen Ordnung und ihrem hegemonialen Zugriff entziehen, betreten diese Ereignisse eine politische Szene, die längst aufgegeben und entwertet wurde. Ihr Auftreten ändert nichts an den Gegebenheiten, denn diese Szene verdient nicht, geändert zu werden. (Das dürfte der Grund sein, weshalb die Studenten im Unterschied zu denen von 68 die politische Frage nicht stellen, da ihr Gegenüber letztlich über so wenig Macht verfügt, dass der Wunsch nach Umsturz gar nicht erst aufkommt.)

Die neuen Konvulsionen werden sich nicht in den Ablauf historischer Ereignisse einschreiben. Doch sie zeugen, weit jenseits des Politischen, von einer viel tieferen Reaktion oder Abreaktion angesichts einer unerträglich gewordenen Weltordnung. In diesem Stadium sind die Akteure ohne Belang. Ob es jene sind, die am 21. April Le Pen gewählt haben, oder die „reaktionären“ EU-Gegner, die mit Nein gestimmt haben, ob die Barbaren der Vororte oder die demonstrierenden Studenten – auch die vorgetragenen Motive (die zumeist lächerlich und irreal sind) zählen wenig; was zählt, ist, dass solche Schurkenereignisse (rogue events) vorübergehend den Lauf der Farce- und Phantomereignisse (fake events, ghost events) unterbrechen: die Routine von Wahlen, Korruption, digitaler Revolution usw., die unsere Zeitungsspalten tagaus, tagein füllen.

Im Übrigen lässt sich der Begriff „Schurkenereignis“ weit über die politische Szene hinaus verlängern. Auch Vogelgrippe, Rinderwahnsinn, Erdbeben und Naturkatastrophen gehören irgendwie dazu. Kein Wunder, dass der Tsunami zur Achse des Bösen gerechnet wird (und bei der Vogelgrippe ausgerechnet die Wildenten Virus und Terror verbreiten). Eingeläutet wurde diese neue Serie unkontrollierbarer Parallelereignisse, wie kann es anders sein, durch das Großereignis vom 11. September, das den weltumspannenden Antagonismus eröffnete, der weniger auf politischer, ökonomischer oder sozialer als vor allem auf symbolischer Ebene ausgetragen wird – zwischen einer Macht, die auf totale Realitätskontrolle abzielt, und einer dunklen Gegenmacht, nämlich der Welt, die der eigenen Globalisierung blind widersteht. Dies geht nicht in Termini des Gewaltverhältnisses vor sich, denn das Duell ist asymmetrisch.

An diesem Punkt sollte das System, das von der Revolution nichts mehr zu fürchten hat, sich eher vor dem hüten, was dort in der Leere entsteht. Denn je mehr die fundamentalistische Gewalt des Systems sich intensiviert, umso mehr Singularitäten werden sich dagegen erheben, und umso mehr Schurkenereignisse wird es geben. Die Ereignisse in unserem kleinen Land mögen uns unbedeutend erscheinen (was sie in gewisser Weise tatsächlich sind); aber anders betrachtet sind sie es, die den entscheidenden geistigen Aufstand gegen das Schlimmere entfachen können.

Die Macht selbst oder das, was von ihr übrig ist, hat nur mehr präventive polizeiliche und Sicherheitsfunktion: Sie muss die Spuren dieser außergewöhnlichen Ereignisse annullieren, liquidieren, beseitigen. Die Ursachen freilich lassen sich unmöglich beseitigen: Dazu müsste man alle Gegebenheiten ändern; nun lebt aber die Macht, wie sie ist, von der verfahrenen Situation, sucht die Situation zu entschärfen, ihr Erscheinungsbild zu retten (und genau dies geschieht gegenwärtig in Frankreich). Bekanntermaßen aber bringen alle diese Rückgewinnungsverfahren nur weitere, weitaus schlimmere Ereignisse hervor. Von daher gilt es, hinter den ideologischen Herausforderungen beider Seiten und hinter dem Verwirrspiel der Medien zu erkennen, um welche globale Situation es geht: um die Konfrontation zwischen einer Hegemonialmacht, jener Herrscherin über die Gewaltverhältnisse, und einem unhintergehbaren Widerstand, der sich allüberall einstellen kann. Auf dieser Ebene ist das Spiel noch nicht aus und die Spannung total.

Aus dem Französischen von Michaela Ott © Le Monde diplomatique, Berlin Aus: Libération, 14. April 2006. Von Jean Baudrillard erscheint demnächst: „Die Intelligenz des Bösen“, Wien (Passagen) 2006.

Le Monde diplomatique vom 12.05.2006