Baustelle Kurdistan
von Ece Temelkuran
Wie soll ich denn meine Frau hierher bringen? Hier hält es doch keine türkische Frau aus.“ Im „Pushi“, dem schicksten Restaurant von Erbil im kurdischen Nordirak, wird es plötzlich still, als der Oberkellner Bekir merkt, was er gerade gesagt hat. Bekir ist Kurde, er stammt aus Diyarbakir in der Osttürkei. „Ist Ihre Frau denn Türkin?“, frage ich ihn. Bekir muss lachen: „Ich wollte nur sagen, dass keine kurdische Frau es hier lange aushält.“ Wir lachen beide zufrieden, wie Leute, die irgendwo in der Fremde jemanden aus der Heimat getroffen haben.
Ich muss dazu zwei Dinge sagen: Erstens bin ich keine Kurdin, und zweitens ist für Bekir das Land, in dem er sich befindet, nicht unbedingt die Fremde; schließlich sind wir in Kurdistan. Oberkellner Bekir und die anderen Kurden aus der Türkei, die wegen eines Jobs nach Erbil gekommen sind, regen sich immer darüber auf, wie „unterentwickelt“ die Kurden „hier drüben“ seien. Manchmal lassen sie sich auch zu Sprüchen hinreißen wie: „Die können hier nicht mal anständig essen.“
Während ich ihnen zuhöre, kommt mir der Gedanke, dass sie sich, weil sie aus der Türkei gekommen sind, hier im Irak wie Europäer vorkommen. Zugleich fällt mir wieder ein, wie ich wenige Monate zuvor in den Straßen von Semdinli überall das Wort „Kurdistan“ gehört hatte. Semdinli ist eine Kleinstadt im äußersten Südosten der Türkei. Hier hatte es im November letzten Jahres einen Bombenanschlag gegeben, was zu einer erneuten Debatte über die Kurdenfrage in der Türkei geführt hat (manche meinen, finstere Mächte des türkischen Militärs hätten die Bombe gelegt).
Kurz danach war ich an einem kalten, sonnigen Tag in Semdinli mit Jugendlichen ins Gespräch gekommen, die gegen die Bombenattentate auf die Straße gegangen waren. Sie deuteten begeistert hinüber zum Efkar Tepe, einem Bergzug in Richtung der irakischen Grenze, und sagten aufgeregt: „Wir wollen weg von hier, nach Kurdistan, wo wir unter eigener Flagge leben, unsere eigene Sprache sprechen können. Wir wollen uns nicht länger wie Verbrecher fühlen müssen – ständig Gewalt fürchten müssen, nur weil wir Kurden sind. Also werden wir über die Berge nach Kurdistan gehen.“
Und sie deuteten auf die Berge, als liege dahinter das Gelobte Land. So wie junge Menschen überall auf der Welt denken, sie könnten anderswo ein besseres Leben finden, so glaubten auch diese 16-jährigen Oberschüler, sie würden eines Tages alles hinter sich lassen, was die Türkei ihnen und ihren Vorfahren angetan hat, und in Kurdistan ein neues Leben beginnen. In Semdinli, das dem Besucher wie eine Geisterstadt vorkommt, träumen sie von einem irdischen Paradies und greifen, um ihrem Traum Substanz zu verleihen, auf eine Geschichte zurück, die längst zur Legende geworden ist.
Die Geschichte geht so: Ein junger Kurde verliebt sich in die Tochter eines türkischen Gendarmen. Aber weil er Kurde ist, verweigert der Vater die Heirat. Doch eines Nachts besorgt sich der junge Kurde ein weißes Pferd, setzt das Mädchen hinter sich und entführt es über die Grenze. Heute lebt das junge Paar glücklich und zufrieden in Kurdistan.
Während der sieben Tage, die ich in Kurdistan war, hielt ich die ganze Zeit Ausschau nach diesem jungen Mann, den die Leute in Semdinli immer nur als „Freund eines Freundes“ bezeichnet hatten. Allen Menschen, mit denen ich sprach, erzählte ich die Geschichte von dem jungen Kurden, doch niemand hatte je von ihm gehört. Am offensten äußerte sich ein Kurde aus der Türkei. Agit studiert an der Universität von Erbil und ist der offizielle Sprecher der kurdischen Studenten und Jugendlichen, die aus der Türkei gekommen sind. Seine erste Reaktion war: „Wäre diese Geschichte wirklich geschehen, wüssten wir bestimmt davon.“ Und dann erzählte er, was es bedeutet, als kurdischer Jugendlicher in der Türkei aufzuwachsen: „Ich weiß nicht, vielleicht wäre aus uns etwas ganz anderes geworden, wenn wir nicht ständig in dieser Angst gelebt hätten. Wir hätten nicht diese innere Wut entwickelt. Und vielleicht würden wir dann auch nicht solche Geschichten erfinden.“
Im irakischen Kurdistan, dem Traumland der türkischen Kurden, gibt es keine Furcht. Nur Träume; und die Baustellen, die zu den Träumen gehören. Kurdistan ist eine einzige große Baustelle. Vor jedem größeren Bauprojekt sieht man große Schautafeln, die auf computersimulierten Bildern zeigen, wie der Wohnkomplex einmal aussehen wird, wenn er fertig ist, während hinter den riesigen Schautafeln nur öde Flächen liegen. Die Menschen, die auf den Bildern zwischen den Häusern flanieren, haben blonde Haare und blaue Augen. Sie scheinen dem Gedächtnis dieser Computer entsprungen zu sein und sehen überhaupt nicht wie Kurden aus, auch nicht wie der junge Kurde, der aus der Türkei gekommen ist, mit der Tochter des Gendarmen hinter sich auf dem Pferd.
Ganz andere Gesichter sehen die Männer und Frauen auf den Straßen von Erbil auf den Bildern, die sie von den Straßenhändlern erstehen. Einer dieser Händler zeigte mir das Bild, das seine kurdischen Kunden am häufigsten kaufen. Es zeigt einen kleinen Jungen in zerlumpter Kleidung, der mit dem Rücken zum Betrachter durch eine halb geöffnete Tür in ein Schulzimmer schaut, in dem gleichaltrige Kinder unterrichtet werden. Der Händler erklärte mit die „Legende“: „Dieser Junge war ein Schafhirte. Er konnte es sich nicht leisten, zur Schule zu gehen, und die anderen Kinder wollten ihn nicht in der Klasse haben. Also ging er jeden Morgen zur Schule und lauschte dem Unterricht durch die halb offene Tür. Später wurde er dank dem Wissen, das er sich durch den Türspalt hindurch erworben hatte, zu einem weisen Mann.“
Die weißen Haare bekam der Peschmerga erst im Büro
Doch die Zeit ist vorbei, da die Kurden glaubten, sie könnten „weise“ werden, indem sie sich ihre Bildung durch den „Türspalt“ der Zivilisation aneignen, umzingelt von den drei mächtigen Staaten Syrien, Türkei und Iran und unterdrückt von einem Tyrannen wie Saddam. Nach Auskunft des Straßenhändlers ist es heute ein ganz anderes Bild, das die Kurden am liebsten kaufen und in ihren Wohnungen aufstellen. Es zeigt rechts einen Großvater mit weißem Haar und weißem Bart, in der Mitte einen Fluss und links einen jungen Mann auf einem weißen Pferd, im Vordergrund ein schmuckes Häuschen und davor eine schöne Frau mit einem Baby auf dem Arm. Es sieht so aus, als hätten die Kurden die Zeit der Angst hinter sich gelassen, wie der alte Mann, der in die Vergangenheit zurückblickt. Und als gehöre das vor lauter Angst und Gewalt schlohweiß gewordene Haar in die Vergangenheit, auf die andere Seite des Flusses. Aber was erwartet die Kurden auf dieser Seite, in der Gegenwart?
Als ich Molla Bahtiyar fragte, wann sein Haar weiß geworden sei, lachte er: „Als ich noch in den Bergen kämpfte, hatte ich kein einziges weißes Haar. Das fing erst an, als ich dieses Büro bezogen habe.“ Bahtiyar war ein hoher Funktionär der Patriotischen Union Kurdistans (PUK) von Dschalal Talabani und kämpfte 17 Jahre lang als Peschmerga in den Bergen. Heute gehört er zu den Politikern, die Verantwortung für ein Land tragen, das dabei ist, seine Institutionen aufzubauen. Die Sprache des Marxismus-Leninismus hat er abgelegt, dafür preist er jetzt gern die Segnungen der Globalisierung. Vielleicht ist sein Haar deshalb weiß geworden. Sein Lachen gefriert, als ich die nächste Frage stelle: „Glaubst du nicht, dass ihr aufgrund eurer Zusammenarbeit mit den USA jetzt im Nahen Osten allein und isoliert seid?“
Bahtiyar antwortet wie ein Parteiredner: „Welches andere Volk im Nahen Osten hat man so abgeschlachtet wie unseres? Wo waren denn all die Nationalisten? Wo waren die Linken? Wo waren die Muslime? Als uns Saddam zu Hunderttausenden abgeschlachtet hat, hat da irgendjemand irgendwas unternommen? Ja ja, es wäre schön, wenn wir nicht mit den USA kooperieren müssten, aber das war eine Frage auf Leben und Tod. Wir hatten keine Wahl.“
Im Café sitzen die alten Männer vor dem Fernseher und verfolgen aufgeregt den Prozess gegen Saddam, wie einen spannenden Film im Freilichtkino. Zugleich reden sie davon, dass sie die Amerikaner irgendwann nach Hause schicken werden. Alle Leute, mit denen man in Kurdistan ins Gespräch kommt, haben einen heimlichen Hass auf die Amerikaner. Aber weil sie um die Realitäten im Nahen Osten wissen, bleiben sie fürs Erste ruhig, scheinen die US-Soldaten auf den Straßen sogar zu schätzen. Doch auf denselben Straßen hört man ständig diese eine Geschichte von der jungen Kurdin, die in Erbil als Sängerin in einem abgelegenen Hotel auftrat, in dem amerikanische Soldaten einquartiert waren. Als sie das Hotel wieder verließ, hatten vierzig Amerikaner sie vergewaltigt.
Im Nahen Osten ist vierzig eine besondere Zahl. Sie begegnet einem in Märchen, Legenden und Geschichten und steht für eine unglaublich große Menge. Aber ist diese Geschichte wahr? Nun, wenn die Geschichte von dem kurdischen Jungen, der mit einem türkischen Mädchen aus Semdinli durchgebrannt ist, für die jungen Männer von Semdinli wahr ist, dann ist die Geschichte von der vergewaltigten Sängerin in Kurdistan nicht weniger wahr. Denn im Nahen Osten werden die Geschichten in dem Augenblick wahr, in dem sie erzählt werden, und je öfter man sie weitererzählt, desto wahrer werden sie. In gewisser Weise wird die Wirklichkeit in dieser Region auf solchen Geschichten erbaut.
Wenn die Gerüste abgebaut und die Häuser dahinter hochgezogen sind, werden wir sehen, wie viel Wahrheit in den Geschichten über die Amerikaner steckt, die derzeit viel Geld in die Bauprojekte im Traumland Kurdistan investieren. Wahrer als alles andere ist heute jedenfalls: Die Zusammenarbeit mit den USA ist eine politische Last, und sie lastet auf dem Gewissen sowohl der Kurden in der Türkei als auch der Kurden im Irak.
Unter den irakischen Kurden beginnt jetzt – nachdem die Fundamente für Kurdistan gelegt sind – eine ernste Diskussion, das politische Nachdenken über die Zusammenarbeit mit den USA. Seit es auf den Bauplätzen vorangeht und der nahöstliche Staub, den der Krieg aufgewirbelt hat, sich zu setzen beginnt, kommen die entscheidenden Fragen hoch: Kann man ein Land der Träume gemeinsam mit denen aufbauen, die im Nahen Osten so ausnahmslos alle Träume zerschlagen haben? Wie werden sich die Kurden, die Verdammten des Nahen Ostens, in Zukunft orientieren? Dies ist heute die quälendste Frage – sowohl für die zornigen, politisierten türkischen Kurden aus Semdinli, für die das Kurdistan jenseits der Grenze ein „Land der Wunder“ ist, als auch für die führenden Politiker im Nordirak, also etwa für Dschalal Talabani und Masud Barsani, den Führer der Kurdischen Demokratischen Partei (KDP).
Die Antwort weiß vielleicht ein Mann namens Safacan, der uns eines Abends in Erbil begegnet. Das Erbil International Hotel ist der einzige Ort, wo es nach der Saddam-Ära und dem Kriegsende wieder eine Art Nachtleben gibt. Hier kann man rund um die Uhr beobachten, wie arabische Geschäftsleute flüsternd und händeschüttelnd ihre Geschäfte abschließen oder Verträge aushandeln. Und man ahnt, dass hier viel Geld über den Tisch geht.
Wo Geld ist, da ist das Vergnügungsgewerbe nicht weit. Safacan betätigt sich seit langem als „Organisator“ solcher Vergnügungen. Er bringt Tänzerinnen und Sängerinnen von Bagdad nach Kurdistan. Das tut er natürlich auch für diejenigen Besatzer, die solche orientalischen Freuden auskosten wollen. Safacan kann Geschichten über die Amerikaner erzählen, die sonst keiner kennt.
Die Kurden und der Fluch des Propheten
„Wir wollen gerade aus Bagdad abfahren, und ich habe fünf Tänzerinnen dabei. Aber die amerikanischen Soldaten lassen uns nicht raus. Der befehlshabende Offizier sagt: ‚Wie soll ich wissen, dass Sie nicht Sarkawi entführt haben?‘ (das ist der berüchtigte Al-Qaida-Anführer im Irak). Ich antworte: ‚Diese Mädchen sind Tänzerinnen. Was hat Sarkawi mit denen zu tun?‘ Aber der Kerl scheint völlig unbeeindruckt. Und so lasse ich, direkt am Checkpoint, inmitten einer Horde Soldaten, die Mädchen aus dem Auto steigen und sage zu ihnen: ‚Tanzt!‘ Und die Mädchen fangen an zu tanzen, am Checkpoint. Eine halbe Stunde lang haben sie für die Amerikaner getanzt. Dann hat man uns weiterfahren lassen.“
In ganz Europa galten die Kurden bislang als „Freiheitskämpfer“. Heute kooperieren sie allerdings mit einer anderen Sorte von „Kämpfern für Freiheit und Gerechtigkeit“, die man in aller Welt schmäht und fürchtet. Deshalb unterlaufen ihnen jetzt Geschichten wie die mit den Tänzerinnen.
Die Kurden wissen freilich besser als alle anderen, dass sie es in diesem Teil der Welt noch nie leicht hatten. Ohne den nächsten Karikaturenstreit auslösen zu wollen, gebe ich jetzt eine Geschichte weiter, die unter den Kurden kursiert. Als der Prophet Mohammed seine Abschiedspredigt hielt, versammelte er Araber, Türken und Kurden um sich. Die Araber fragten weinend: „Warum verlässt du uns?“ Der Prophet entgegnete ärgerlich: „Was wollt ihr denn? Ich hab euch schließlich den Koran in eurer eigenen Sprache geschenkt.“
Die Türken begannen zu jammern: „Was wird aus uns, wenn du nicht mehr bist?“ Da drückte der Prophet den Türken eine Verpflichtung auf: „Ihr sollt das Schwert ergreifen und für diese Religion kämpfen. Das könnt ihr am besten – ihr seid Kämpfer.“
Weil die Kurden als Letzte dran waren, nörgelten sie herum. Das erboste den Propheten so sehr, dass er sie anbrüllte: „Verdammt sollt ihr sein mit eurem Gejammer! In Zukunft wird euer Brot auf dem Pferd reiten, ihr aber sollt zu Fuß laufen!“ Demnach liegt es also an diesem „Fluch des Propheten“, dass die Kurden jahrhundertelang ums nackte Überleben kämpfen mussten.
Wenn man einen Witz aus einer anderen Sprache übersetzt, fügt man gern entschuldigend hinzu: „Natürlich klingt er in der Originalsprache witziger.“ Das gilt auch für diese Anekdote. Aber nehmen nicht alle Geschichten, Legenden und Realitäten im Nahen Osten eine andere Bedeutung an, wenn man sie in eine europäische Sprache übersetzt? Haben die Kurden in Europa, fern ihrer Heimat, nicht lange Zeit für das Ziel gekämpft, ihr Land auf Begriffe und Ideen zu gründen, die durchs Übersetzen eine andere Bedeutung angenommen hatten? Jetzt aber müssen die Kurden, deren Existenz stets ignoriert wurde und die brutale Massaker überstehen mussten, ihre Sache in der eigenen Sprache anpacken. Sie müssen es um der Träume der jungen Kurden aus der Türkei willen, die auf ihren weißen Pferden in das Gelobte Land reiten wollen. Und ebenso um der irakischen Kurden willen, die auf der anderen Seite des Flusses zurückgeblieben sind. Weil sie entweder ihr Leben in den Bergen gelassen haben, oder weil sie erleben mussten, wie ihre Bärte weiß wurden.
Aus dem Englischen von Niels Kadritzke © Le Monde diplomatique, Berlin Ece Temelkuran lebt als Autorin in Istanbul und ist Kolumnistin der Tageszeitung Milliyet.