Afrika – die Verfugung des Hier mit dem Anderswo
von Achille Mbembe
Ob in der Literatur, in der Philosophie oder in der Kunst – fast ein Jahrhundert lang wurde der afrikanische Diskurs von drei politisch-intellektuellen Paradigmen beherrscht, die sich im Übrigen nicht wechselseitig ausschlossen.
Zum einen gab es mehrere Spielarten eines antikolonialen Nationalismus, die ihrerseits die Bereiche Kultur, Politik, Wirtschaft und Religion nachhaltig beeinflusst haben. Zum anderen gab es mehrere Ansätze, Marx neu zu lesen, was dazu führte, dass verschiedene Spielarten eines „afrikanischen Sozialismus“ entstanden. Zum Dritten gab es eine panafrikanische Strömung, die zwei Typen von Solidarität beförderte: Die eine gründete sich auf die „Rasse“ und war transnational, die andere gründete sich auf dem „Internationalismus“ und war antiimperialistisch.
Bis heute, zu Beginn des 21. Jahrhunderts, hat sich diese intellektuelle Landschaft kaum verändert, untergründig jedoch sind große soziale und kulturelle Umwälzungen am Werk. Die Kluft zwischen der gesellschaftlichen Wirklichkeit einerseits und den geistigen Werkzeugen, mittels deren die Gesellschaften ihre Zukunft anpacken können, andererseits kann kulturell und mental durchaus gefährlich sein. Längst haben sich die drei oben genannten Paradigmen institutionalisiert und sind derart erstarrt, dass die heutigen Veränderungen mit den genannten Werkzeugen kaum mehr glaubhaft analysiert werden können. Die institutionellen Träger funktionieren fast ausnahmslos nach den Prinzipien der „angestammten Privilegien“. Sie blockieren sowohl jedwede Erneuerung der Kulturkritik als auch jedwede Erneuerung der künstlerischen wie philosophischen Kreativität, kurz, sie mindern unsere Fähigkeit, einen Beitrag zur zeitgenössischen Reflexion über Kultur und Demokratie zu leisten.
Betrachtet man den umfassenden und tiefgreifenden Wandel der jüngsten Zeit, so scheinen mir zwei Aspekte von besonderer Bedeutung für das kulturelle Leben und die ästhetische wie politische Schöpfungskraft der kommenden Jahre. Zuallererst geht es um die Frage: „Wer ist Afrikaner“ – und wer nicht?
In den Augen vieler ist afrikanisch, wer „schwarz“ und folglich „nicht weiß“ ist. Gradmesser der Authentizität ist die Intensität der (schwarzen) Hautfarbe. Nun haben aber die verschiedenen Menschen tatsächlich verschiedenste Verbindungen zu Afrika oder haben zumindest auf verschiedene Weise etwas mit Afrika zu tun – etwas, was sie eo ipso ermächtigt, für sich eine „afrikanische Staatsbürgerschaft“ einzufordern. Natürlich gibt es jene, die wir „die Schwarzen“ (nègres) nennen; sie sind in einem der afrikanischen Staaten geboren, leben dort und sind dort Staatsbürger. Aber auch wenn diese Schwarzen die Mehrheit der Bevölkerung des Kontinents bilden, sind sie dennoch weder die einzigen Bewohner noch die einzigen Kunst- und Kulturschaffenden Afrikas.
Andere Bevölkerungsgruppen – aus Asien, den arabischen Staaten oder aus Europa – haben sich aus verschiedenen Gründen zu verschiedenen Zeiten in verschiedenen Gegenden Afrikas niedergelassen. Manche, wie die Araber und die Europäer, sind als Eroberer, Kaufleute oder Glaubenseiferer gekommen. Andere, wie die Afrikaaner/Buren oder die Juden, sind unter teils tragischen historischen Umständen gekommen, sei es, um Elend und Verfolgung zu entrinnen, sei es in der schlichten Hoffnung auf ein friedliches Leben oder eben schlicht aus Gier nach Reichtümern. Wieder andere – etwa die zumeist als willfährige Arbeitskräfte ins südliche Afrika eingewanderten Malaien, Inder und Chinesen – haben sich im Rahmen verschiedener Migrationsströme in Afrika eine neue Heimat gesucht. In jüngster Zeit sind Libanesen, Syrer, Indopakistaner und hier und dort auch ein paar hundert oder tausend Chinesen aufgetaucht. All diese Menschen haben ihre Sprache, ihre Sitten, ihre Essgewohnheiten, ihre Kleidermoden und ihre Art, zu beten, mitgebracht – kurz: ihre Lebensformen und Arbeitsweisen. Die Beziehungen dieser verschiedenen Diasporagruppen zu ihrer jeweiligen Ursprungsgesellschaft sind außerordentlich komplex. Viele betrachten sich ganz und gar als Afrikaner, auch wenn sie woanders noch ein Anderswo in Reserve haben.
Aber Afrika war nicht nur lange Zeit das Ziel vieler Bevölkerungsbewegungen und Kulturströme, der Kontinent ist seit Jahrhunderten auch Aufbruchsort; von hier aus zog man in verschiedenste Gegenden der Welt. Dieser Prozess der mehrere Jahrhunderte währenden „Streuung“ (dispersion) hat im Laufe der Neuzeit drei Routen benutzt: die Sahara, den Atlantik und den Indischen Ozean. Ein Ergebnis dieser Streuung etwa war die Entstehung der schwarzafrikanischen Diaspora in der Neuen Welt, und ein wichtiger Beitrag in diesem Prozess der Streuung war die Sklaverei, die Afrikaner nicht nur in die westliche, sondern auch in die arabisch-asiatische Welt brachte. Aufgrund dieser „Zirkulation von Welten“ sind heutzutage an fast jedem Fleck der kapitalistischen und islamischen Welt Spuren Afrikas aufzufinden. Auf die Zwangsverschleppungen früherer Zeiten folgten wesentlich durch die Kolonisierung bedingte Migrationsbewegungen. Heute leben Millionen Menschen afrikanischer Herkunft als Bürger in den verschiedensten Ländern der Welt. Wenn es um die künstlerische Kreativität im heutigen Afrika geht oder gar um die Frage, wer „Afrikaner“ und was „afrikanisch“ ist, wird dieses historische Phänomen der „Zirkulation von Welten“ meistens mit Schweigen übergangen.
Aus der Sicht Afrikas hat das Phänomen der Zirkulation von Welten mindestens zwei Gesichter: Das eine ist die bereits erwähnte Streuung, das andere ist das Eintauchen (immersion). Bei der Streuung der Völker und Kulturen ging es historisch gesehen nicht nur darum, dass es Menschen gab, die sich, von außerhalb kommend, bei uns angesiedelt haben. Vielmehr waren bereits die präkolonialen afrikanischen Gesellschaften von Anfang an dadurch gekennzeichnet, dass die Menschen innerhalb des gesamten Kontinents permanent in Bewegung waren. Die Geschichte Afrikas ist eine Geschichte von aufeinander prallenden Kulturen, geprägt vom Mahlstrom der Kriege, von Invasionen, Migrationen, Mischehen, von Glaubenslehren, die man sich zu Eigen macht, von Techniken, die man austauscht, von Waren, mit denen man Handel treibt. Die Kulturgeschichte des Kontinents ist ohne das Paradigma des Umherziehens, der Mobilität und der Ortsveränderung kaum zu verstehen.
Gerade diese Kultur der Mobilität wurde zur Kolonialzeit durch die moderne Institution der Grenzziehung zum Erstarren gebracht.
Wenn man von dieser Geschichte des Umherziehens und der Mobilität spricht, ist immer wieder von „Mischungen“, „Amalgamen“ und „Überlagerungen“ die Rede. Man kann den Fundamentalisten des „Brauchtums“ und der „Autochthonie“ entgegenhalten, dass es die so genannte Tradition in Wirklichkeit gar nicht gibt. Egal worum es geht: um den Islam, das Christentum, die Art, sich zu kleiden, Geschäfte zu machen, zu reden oder sich zu ernähren – nichts von alledem hat letztlich die Dampfwalze der Hybridisierung und der Trivialisierung unbeschadet überstanden. Dies hatte bereits vor der Kolonisierung stattgefunden. Es gibt eine präkoloniale afrikanische Moderne, die in der zeitgenössischen Kreativität Afrikas bislang nicht wahrgenommen und bewertet worden ist.
Das andere Gesicht der „Zirkulation von Welten“ ist, wie erwähnt, das Eintauchen. Hier geht es um Minderheiten, die, von weit her kommend, in unterschiedlichem Ausmaß auf dem Kontinent Fuß fassten. Mit der Zeit hatten sich ihre Beziehungen zu den jeweiligen (europäischen oder asiatischen) Ursprungsländern unerhört verkompliziert, und unter dem Einfluss geografischer, klimatischer und menschlicher Bedingungen wurden sie zu kulturellen „Hybriden“, egal wie lautstark gerade die Euroafrikaner – „Kolonisation verpflichtet“ – unablässig auf ihre rassisch begründete Überlegenheit pochten und ihre Andersartigkeit, ja ihre Verachtung alles „Afrikanischen“ und „Eingeborenen“ zum Ausdruck brachten. Dies betrifft gerade und insbesonders die „Afrikaaner“, wie sich im südlichen Afrika die Weißen selbst nannten. Die gleiche Ambivalenz findet sich bei den Indern, wie bei Libanesen und Syrern. Obwohl sie meistens die Lokalsprachen sprechen und die Sitten des Landes weitgehend kennen oder sogar praktizieren, leben sie in relativ geschlossenen, endogamen Gemeinschaften.
Es ist also nicht nur so, dass sich heute ein Teil der afrikanischen Geschichte anderswo, außerhalb von Afrika, befindet, sondern es ist auch so, dass es eine Geschichte der übrigen Welt gibt, die wir zwangsläufig mitgestalten und die sich hier auf unserem Kontinent abspielt. Alles in allem hat unsere Art des In-der-Welt-Seins, des Selbst-Welt-Seins sowie unsere Art, die Welt zu bewohnen, immer unter dem Zeichen, wenn nicht der kulturellen „Hybridisierung“, so doch zumindest einer „Verfugung“ der verschiedenen Welten gestanden, in einem langsamen, manchmal inkohärenten Tanz, dessen Ausformungen wir zwar nicht selbst haben frei wählen können, die wir jedoch mehr recht als schlecht in den Griff bekommen haben und uns dienstbar machen konnten.
Das Wissen um diese Verfugung des Hier mit dem Anderswo, das Wissen um die Gegenwart des Anderswo im Hier – und umgekehrt –, diese Relativierung der ursprünglichen Wurzeln und Zugehörigkeiten, diese Art, absichtsvoll das Fremde, den Fremden und das Ferne anzunehmen, diese Fähigkeit, sein eigenes Gesicht in dem des Fremden wiederzuerkennen, die Spuren des Fernen in der nächsten Umgebung zu würdigen, sich Unvertrautes zu Eigen zu machen und mit dem zu arbeiten, was gemeinhin als Gegensatz erscheint – eine derartige kulturelle, historische und ästhetische Empfindsamkeit ist gemeint, wenn man den Begriff „Afropolitanismus“ gebraucht.
Die zweite wichtige Umstrukturierung (reconfiguration) hat mit dem deutlichen Aufblühen des nativistischen Reflexes zu tun. Nativismus in seiner mildesten Version tritt auf als eine Ideologie, die Differenz und Vielfalt glorifiziert und für die Rettung als bedroht angesehener Bräuche und Identitäten kämpft. Aus nativistischer Sicht beruhen die politischen Kämpfe und Zugehörigkeiten auf einer Unterscheidung zwischen Autochthonen und Allochthonen (Einheimischen und Auswärtigen), also zwischen denen „von hier“ und denen „von anderswo“. Dabei vergessen die Vertreter des Nativismus, dass die Bräuche und Traditionen, auf die sie sich berufen, in ihrer stereotypen Form oft nicht von den Eingeborenen selbst, sondern in Wirklichkeit von Missionaren oder Siedlern erfunden wurden.
In der letzten Hälfte des 20. Jahrhunderts konnte man fast überall auf dem Kontinent eine Form des „Biorassismus“ – Autochthone gegen Allochthone – beobachten, die sich politisch aus einer Selbstwahrnehmung als Opfer und dem daraus abgeleiteten Ressentiment speist. Bekanntlich wendet sich die Gewalt der Opfer nur selten gegen die tatsächlichen Schinder, vielmehr wird sie fast immer gegen einen imaginären Schinder gerichtet, und dieser imaginäre Schinder, ist, welch ein Zufall, fast immer ein noch schwächerer, also seinerseits bereits ein Opfer – meist sind es Menschen, die mit der ursprünglichen Verletzung nichts zu tun haben. Wie man in vielen Ländern (nicht nur in den afrikanischen) beobachten kann, tragen alle Opferideologien einen genozidären Impuls. Sie erzeugen eine Kultur des Hasses, deren unglaubliche Zerstörungskraft wir nicht nur in Ruanda erfahren mussten.
Afropolitanismus ist etwas anderes, als es der Panafrikanismus oder die Négritude war. Afropolitanismus ist eine Stilistik, eine Ästhetik und eine gewisse Poetik der Welt: ein In-der-Welt-Sein, das aus Prinzip jegliche Form der Opferidentität ablehnt – auch wenn wir deshalb die Ungerechtigkeiten sowie die Gewalt, die unser Kontinent und seine Menschen durch den von der Weltgeschichte aufgezwungenen Lauf der Zeit erlitten haben, durchaus nicht ignorieren. Afropolitanismus ist außerdem eine politische und kulturelle Haltung zu Fragen der Nation, der „Rasse“ und der Differenz überhaupt. Angesichts der Tatsache, dass unsere Staaten reine und überdies recht junge Erfindungen sind, haben sie streng genommen nichts an sich, was uns vereinnahmen könnte, einen Kult um sie zu errichten – auch wenn wir dem Schicksal unserer Staaten deswegen nicht gleichgültig gegenüberstehen.
Was den „afrikanischen Nationalismus“ betrifft, so war er ursprünglich eine mächtige Utopie, die über eine grenzenlose emanzipatorische Kraft verfügte – der Versuch, uns selbst zu begreifen, vor der Welt zu bestehen und uns in Würde aufzurichten, als bloße menschliche Wesen. Aber sobald der Nationalismus zur offiziellen Ideologie eines plündernden Staates wurde, verlor er seinen ethischen Kern und verschrieb sich dem Dämon, der „die Finsternis durchstreift und das Tageslicht scheut“. Gerade unser menschliches Angesicht, unser Mensch-Sein bleibt bis heute das Hindernis, gegen das Nationalismus und Nativismus ständig anrennen. Auch die vom Panafrikanismus verkündete Solidarität der „Rasse“ entgeht diesem Dilemma nicht. Sobald das heutige Afrika sich der eigenen, es konstituierenden Vielfalt bewusst ist (einschließlich der Vielfalt der „Rassen“), kann man den gesamten Kontinent nicht länger nur über die schwarzafrikanische Solidarität definieren. Wie kann man im Übrigen übersehen, dass diese so laut vorgetragene Solidarität sich längst selbst ins Unrecht gesetzt hat, weil nach dem Ende der direkten Kolonialherrschaft eine andere Gewalt herrscht: die des Bruders gegen den Bruder ebenso wie die des Bruders gegen die Mutter und die Schwestern?
Wir müssen also andere Wege suchen, um das Geistesleben in Afrika wiederzubeleben – und damit eine Kunst, eine Philosophie und eine Ästhetik zu ermöglichen, die in der Welt im Allgemeinen etwas Neues und Bedeutendes beizutragen haben. Heutzutage leben viele Afrikaner außerhalb von Afrika. Andere haben sich aus freiem Willen entschieden, auf dem Kontinent zu bleiben, aber sie leben nicht notwendig in dem Land, in dem sie das Licht der Welt erblickten. Mehr noch, viele von ihnen haben das Glück, mehrere Welten kennen gelernt zu haben; sie haben nie wirklich aufgehört, hin und her zu reisen, und haben sich über den Umweg dieser Mobilität (Bewegungsfreiheit) einen ungeheuer geschärften Blick und einen enormen Empfindungsreichtum angeeignet. Fast all diese Menschen sprechen mehr als eine Sprache. Sie sind dabei – vielleicht ohne es zu wissen –, eine neue transnationale Kultur zu schaffen, die ich „eine afropolitane“ nennen möchte.
Unter ihnen sind viele, die bei dem, was sie täglich tun, nicht nur mit dem benachbarten Dorf, sondern mit der ganzen Welt mithalten müssen. Dieser weltoffene Geist ist besonders ausgeprägt bei Künstlern, Musikern und Komponisten, Schriftstellern, Dichtern und Malern – bei jenen Geistesarbeitern, die in der postkolonialen Finsternis Wache halten. Auf einer anderen Ebene kann man heutzutage bereits einige wenige Metropolen als „afropolitan“ bezeichnen. In Westafrika haben Dakar und Abidjan in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts diese Rolle gespielt, wobei die senegalesische Hauptstadt das kulturelle Pendant zu dem geschäftstüchtigen Abidjan darstellte. Doch mittlerweile ist Abidjan bedauerlicherweise vom Krebs des Nativismus zerfressen. In Ostafrika war es Nairobi, Handelszentrum und regionaler Sitz verschiedener internationaler Organisationen.
Das Zentrum des Afropolitanismus par excellence ist heutzutage das südafrikanische Johannesburg. In dieser auf den Schleifstein einer gewalttätigen Geschichte gedrückten Stadt entsteht derzeit eine völlig unbekannte, neuartige afrikanische Moderne, die mit dem bis dato Gesehenen kaum etwas gemein hat. Sie speist sich aus einer Vielfalt der Rassen und ihres kulturellen Erbes, einer energievollen Wirtschaft und einer liberalen Demokratie; der Konsum, dem hier gefrönt wird, ist direkt Teil des globalen Warenflusses. Was hier entsteht, ist eine Ethik der Toleranz, die das Zeug haben könnte, die kulturelle Kreativität in Afrika auf ähnliche Weise neu zu beleben, wie es seinerzeit Harlem oder New Orleans in den USA getan haben.
© Le Monde diplomatique, Berlin Wir danken Achille Mbembe für die Überlassung der Rechte. Aus dem Französischen von Grete Osterwald