09.06.2006

Neue Exportschlager auf dem Drogenmarkt

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Neue Exportschlager auf dem Drogenmarkt

Die Erfolgsstatistik im Kampf gegen den Rauschgifthandel und das organisierte Verbrechen in Mexiko sah noch nie so gut aus: Fünfzehn tote oder verhaftete „capos“ seit 2000, 51 Geldwäscher und 189 Drogenfunktionäre aus dem Verkehr gezogen. Bei Unterstaatsanwalt José Luis Santiago Vasconcelos laufen alle Fäden zusammen: Seit Beginn der Präsidentschaft von Vicente Fox, sagt er, wurden nicht nur die großen Kartelle ihrer Anführer beraubt, sondern auch alle wichtigen korrupten Seilschaften in den Behörden ausgehoben.

Die Fortschritte der von Fox gegründeten Antidrogeneinheit AFI und der Generalstaatsanwaltschaft sind so überzeugend, dass inzwischen auch die US-amerikanische Drug Enforcement Administration (DEA) eng mit den Mexikanern kooperiert. Seit 2000 verlor das Tijuana-Kartell nicht nur seine Bosse Ramón und Benjamin Arrelano, sondern auch die Hälfte seines Führungsstabs. Das Kartell von Juárez – in den 1990er-Jahren führend im Handel mit Kokain – hat in den vergangenen sechs Jahren wichtige Leute verloren: „El Metro“, einen ehemaligen Polizisten und Anführer einer Untergruppe in Cancún, Mario Villanueva, Gouverneur des Staates Quintana Roo, der die Machenschaften in Cancún deckte, und Rodolfo Carrillo, Bruder des 1997 verstorbenen Kartellgründers. Der Boss des Golf-Kartells, Osiel Cardenas, und mehrere seiner Statthalter sitzen heute im Gefängnis. Der militärische Nachrichtendienst hat einen korrupten Kavalleriegeneral enttarnt, der für die Überwachung der US-Grenze im Staat Tamaulipas zuständig war. Im Staat Sinaloa hat er ein ganzes Bataillon aufgelöst, das Mohn- und Cannabiskulturen schützte. Der Polizeichef des Staates Morelos musste zurücktreten, obwohl er über gute Beziehungen zur Regierungspartei PAN verfügte.

Ein Machtvakuum nach dem Tod der Barone

Die Erfolgsmeldungen blenden allerdings eine gefährliche Entwicklung aus: Das Verschwinden der großen Drogenbarone hinterlässt ein Machtvakuum und hat eine Neuorganisation des Vertriebs zur Folge, die sich noch schwerer kontrollieren lässt als bisher. Im Staat Sinaloa, wo sich die Wege des mexikanischen Rauschgifthandels kreuzen, haben ehemalige Handlanger ein eigenes Kartell gegründet und machen nun den alten Clans ihre Pfründen streitig. Ismael Zambada García alias „El Mayo Zambada“ hat dem Tijuana-Kartell einen Teil des pazifischen Korridors abgerungen. Joaquín Guzmán Loera, auch „Chapo Guzmán“ genannt, entkam wenige Monate nach dem Amtsantritt von Präsident Fox aus dem Gefängnis. Seither attackiert er mit seiner Bande von Emporkömmlingen die Erben des 1997 verstorbenen Rauschgiftkönigs Amado Carrillo. Guzmán spekuliert auch auf das Golf-Kartell, seit dessen Boss verhaftet ist.

Was den Drogenfahndern ihre Arbeit wesentlich erschwert, ist das diskrete Auftreten der neuen Drogenhändler. Schluss mit den protzigen Geländewagen und den Goldketten der Gründerväter! Der letzte dicke Fisch, der den Staatsanwälten im November 2005 ins Netz ging, studierte an der Universität und lebte diskret in einer bescheidenen Mittelklassewohnung der Hauptstadt, obwohl er Geldwäsche in riesigem Umfang praktizierte und einen ehemaligen leitenden Mitarbeiter der mexikanischen Nationalbank zu seinen Assistenten zählte. Der Strukturwandel bei den Kartellen und Familienclans hat zur Folge, dass die einstigen Hierarchien tendenziell in lose miteinander verbundene Zellen zerfallen. Osiel Cardenas unterhielt noch eine Prätorianergarde zum Schutz der Bosse und der Ware, die sich aus Deserteuren einer Sondereinheit der Armee zusammensetzte. Diese so genannten zetas machten sich nach Cardenas’ Verhaftung selbstständig und rissen die Kontrolle über sein ehemaliges Revier Tamoulipas an sich. Seither kämpfen sie in Acapulco und Michoacán auch gegen das Netzwerk von Chapo Guzmán. Auf dem ehemaligen Gebiet der Familie Carrillo hat sich unter den Brüdern Arriolo ein neuer Clan festgesetzt, der den Fahndern noch vor sechs Jahren so gut wie unbekannt war. Schließlich gibt es noch etliche kleinere Banden wie die „Azteken“, die früher als Dealer arbeiteten und heute große Sendungen über die Grenze nach Texas schmuggeln.

Zu Zeiten des PRI-Regimes standen die Drogenbarone von Juárez oder der Golfregion in direktem Kontakt mit den Machthabern. Die Zusammenarbeit mit den Behörden funktionierte so reibungslos, dass die Mexikaner vom Drogenhandel fast nichts mitbekamen. So flogen zwischen 1990 und 1996 Kolumbianer und Mexikaner Frachten von zehn bis zwanzig Tonnen Kokain aus Südamerika in den Norden Mexikos, von wo sie in Windeseile über die Grenze gelangten. Das wäre ohne die Deckung durch Minister, hohe Militärs, Gouverneure und leitende Drogenfahnder nicht möglich gewesen. Inzwischen, so Unterstaatsanwalt Vasconcelos, ist dieser „Dialog mit den Behörden“ aber weitgehend unterbunden. Wenn man sie auch nicht verhaftete und verurteilte, so wurden die wichtigsten „Drogenpolitiker“ zumindest aus ihren Ämtern gedrängt. In dieser Situation greifen die Schmuggler wieder auf die alten „Ameisen“-Methoden zurück. Zu Land und zu Wasser überziehen ihre Routen vom Süden bis zum Norden das ganze Land.

Die Polizeit arbeitet mehr oder weniger für die Banden

In den kleineren Städten und Häfen des Südens und in Zentralmexiko entstehen neue Basen, zu deren Schutz die Komplizenschaft der Polizei vor Ort erkauft wird. In Bundesstaaten, die wie Tamaulipas und Chihuahua an die USA grenzen, in denen Mohn und Cannabis angebaut werden oder die für die Anlieferung der Ware vom Meer aus wichtig sind (Sinaloa, Guerrero und Michoacán), hat die Korruption sogar alle Ebenen der Verwaltung erfasst. Die Polizei arbeitet hier mehr oder weniger für die Banden. In Nuevo Laredo (Tamaulipas) lieferte sie sich als Verbündete der Zetas mitten in der Stadt eine Schießerei mit den Killern des Sinaloa-Kartells. In Acapulco und Michoacán führen sogar Agenten der AFI gemeinsam mit dem Guzmán-Clan Operationen gegen die Zetas durch.

Zu all diesen Herausforderungen für die Bekämpfer des Drogenhandels kommt noch, dass sich der Markt für Rauschgift rasant verändert. Die Produktion kolumbianischen Kokains ist in den letzten Jahren leicht zurückgegangen – ebenso wie der Kokainkonsum in den USA, wo sich die Jugend inzwischen mehr für synthetische Drogen wie Ice, Crystal, Crank oder Ecstasy interessiert. Die mexikanischen Banden steigen daher auf die neuen chemischen Drogen um, die sich auch billiger herstellen und transportieren lassen.

Dieses Jahr entdeckte die Generalstaatsanwaltschaft zum ersten Mal ein großes Labor für Metamphetamine in Guadalajara, das einem bisher auf Kokainhandel spezialisierten Clan gehörte. Zugleich erlebt der internationale Markt für Marihuana eine Renaissance, und der Kokainkonsum in Mexiko selbst nimmt dramatisch zu. Als Folge bindet die Polizei einen großen Teil ihrer Kapazitäten mit der Verfolgung kleiner Dealer.

Und allzu oft laufen Operationen der AFI und der Armee ins Leere. Dem Generalstaatsanwalt ist es bis heute nicht gelungen, die undichten Stellen in den eigenen Reihen zu finden.

Jean-François Boyer

Aus dem Französischen von Herwig Engelmann Jean-François Boyer ist Journalist und Autor von „La guerre perdue contre la drogue“, Paris (La Découverte) 2001.

Le Monde diplomatique vom 09.06.2006, von Jean-François Boyer