09.06.2006

Hamas und die Last der Macht

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Hamas und die Last der Macht

von Wendy Kristianasen

Selten habe er eine Regierung gesehen, die so unter Druck steht: „Wir werden schlicht an die Wand gepresst. Wir kommen kaum noch zum Luftholen oder zum Nachdenken“, sagt Asis Dweik in Ramallah. Dweik ist Sprecher des Palästinensischen Legislativrats (PLC). Er hat seine akademische Karriere an US-amerikanischen Universitäten gemacht und weiß, wovon er spricht. „Wenn der Westen das Scheitern der Hamas wünscht, bitte schön. Aber es wird kein Beitrag zum internationalen Frieden und Wohlergehen sein, es wird vielmehr die Radikalisierung der Palästinenser fördern. Und den Preis zahlen die Menschen dieser Region.“

Das Geld fehlt ihnen jetzt schon. Zwar hat die Europäische Union versprochen, ihre Finanzhilfe wieder aufzunehmen, doch wie genau das aussehen soll, sagt sie nicht. Und das finanzielle Embargo, das Israel und der Westen über die Hamas-Regierung, die aus den Wahlen im Januar hervorging, verhängte, hat die Lage im Westjordanland und in Gaza bereits dramatisch verschärft. Die Situation hier erinnert an den Irak zu Zeiten des UN-Embargos: Überall fehlt es an Geld und Nahrungsmitteln, an Medikamenten und Benzin, und die Krankenhäuser können nur noch Notfallpatienten versorgen.

Diese Sanktionen richten sich gegen eine Regierung, die das Resultat von transparenten Wahlen ist, die auch Washington gewollt hatte. Doch nach der Wahl zeigen sich die USA und Israel entschlossen, die Autorität der Hamas- Regierung zu untergraben. Das sorgt für Spannungen zwischen der Fatah, dem Präsidenten der Palästinensischen Autonomiebehörde (PA), Mahmud Abbas, und der Hamas.

700 000 Palästinenser sind auf die Gehaltszahlungen der PA angewiesen. PLC-Generalsekretär Mahmud Ramahi erläutert: „Die Zahl der PA-Angestellten ist zwischen 2000 und 2006 von 120 000 auf 167 000 angestiegen; allein 10 000 wurden in den letzten drei Monaten der alten Regierung eingestellt.“ Diese neu rekrutierten Leute sollten der Fatah zum Wahlsieg verhelfen. 2005 waren die Haushaltsausgaben der PA in Höhe von 1,8 Milliarden Dollar durch drei Einnahmeposten abgedeckt: 790 Millionen Dollar durch von Israel überwiesene Zolleinnahmen, 350 Millionen durch das interne Steueraufkommen, der Rest stammte aus internationalen Hilfsgeldern.

Der Erziehungsminister kann keine Lehrer bezahlen

Die PA beschäftigt 70 000 Sicherheitskräfte, 40 000 Lehrer und 9 000 medizinische Fachkräfte. „Die Lehrergehälter machen ein Drittel des Etats aus“, erklärt Nassereddin al-Schair, Vizepremier und Erziehungsminister. „Einige bekommen seit neun Monaten kein Gehalt. Das Ministerium hat nicht einen Dollar mehr. Das wirkt sich auch auf den privaten Sektor aus. Ohne Hilfsgelder sind wir aufgeschmissen. Die Menschen leiden jetzt schon. Wie lange werden sie sich in Geduld üben? Auf uns kommen schwere Zeiten zu, mit sozialen und politischen Unruhen und Streiks.“

Die neue Regierung hat die arabisch-islamische Welt um Hilfe gebeten. Ägypten und Jordanien bleiben aber auf Distanz, wohl aus Angst, auch bei ihnen könnte eine islamistische Regierung an die Macht kommen. Andere Staaten haben Hilfe zugesagt, erläutert Finanzminister Omar Abdel Rasek: „35 Millionen Dollar kamen aus Algerien, noch bevor wir im Amt waren. Die 10 Millionen Dollar aus Russland fließen ins Gesundheitswesen. 70 Millionen Dollar können wir von der Arabischen Liga abrufen. 50 Millionen kommen aus Katar, 20 Millionen aus Saudi-Arabien, 50 oder vielleicht sogar 100 Millionen aus dem Iran und 50 Millionen Dollar aus Libyen. Das Problem ist, wie man die Gelder ins Land bekommt. Auf die Banken, vor allem die US-amerikanischen, wird Druck ausgeübt, keine Hilfsgelder zu transferieren.“

Die USA, die EU und andere internationale Geber verlangen von der neuen Regierung drei Zusagen: Sie müsse der Gewalt abschwören, den Staat Israel anerkennen und die unterzeichneten Vereinbarungen zwischen Palästinensern und Israelis einhalten. An die israelische Seite hingegen wurden keine Forderungen gestellt. Die Bedingungen empören selbst nichtreligiöse Menschen wie Soraida Hussein, eine Frauenrechtlerin aus Ramallah: „Wir müssen uns gegen die Einmischung aus dem Westen wehren. Deshalb stehen wir hinter der Hamas. Die Menschen haben sie gewählt, und wir müssen diese Wahl respektieren.“

Ähnlicher Meinung ist Ghassan Khatib, ehemals Minister der (exkommunistischen) Palästinensischen Volkspartei: „Im Ausland begreift man nicht die Feindschaft, die man hier gegen die USA empfindet. Sollte die Regierung zu Fall kommen, wird die Hamas noch an Stärke und Legitimität gewinnen. Sie wäre der einzige Sieger. Ist den USA das nicht klar?“

Die Spannung im Büro des palästinensischen Ministerpräsidenten Ismail Hanije in Gaza ist mit Händen zu greifen. Hanijes politischer Berater Ahmad Yussef sorgt sich um die Sicherheit seines Chefs. Kurz zuvor hatten ihn Sicherheitsleute der Fatah gehindert, eine von ihnen kontrollierte Zone zu durchqueren. Der Ministerpräsident lässt den Medienzirkus lächelnd über sich ergehen. Er posiert vor dem riesigen Foto der Al-Aksa-Moschee, das hinter seinem Schreibtisch hängt, oder er ruft Romano Prodi an, um ihm zu seinem Wahlsieg zu gratulieren.

Und er drückt sich äußerst bedachtsam aus: „Wir werden das palästinensisch-israelische Abkommen akzeptieren, wenn es unseren Interessen entgegenkommt.“ Die Initiative der arabischen Staaten auf ihrem Gipfeltreffen 2002 in Beirut bewertet er positiv. In der damals formulierten Plattform, die auf der Koexistenz der beiden Staaten Israel und Palästina basiert, sieht er „viele positive Elemente. Falls wir Vorbehalte haben, werden wir die formulieren, wenn Israel zugestimmt hat.“

Ist seine Regierung wirklich schon bereit, sämtliche UNO-Resolutionen zum Israel-Palästina-Konflikt zu akzeptieren? „Wir sind bereit, uns mit ihnen zu befassen und sie ernst zu nehmen, wenn sie den palästinensischen Interessen dienen und wenn Israel sie ebenfalls akzeptiert.“ Gilt das auch für die Resolution 242? „Wenn die Israelis sich zurückziehen, werden wir uns mit der neuen Realität auseinander setzen. Aber die unilaterale Politik, die uns gar nicht einbezieht – wie vorher auch nicht Mahmud Abbas –, ist keine friedliche oder gerechte Lösung.“

In Ramallah geht Finanzminister Abdel Rasek noch ein Stück weiter: „Wir müssen abwarten, was die Israelis uns anbieten. Danach sehe ich kein Problem, mit ihnen zu verhandeln. Aber das kann nicht über die Medien geschehen. Sollte Israel sich einseitig zurückziehen und ein unabhängiger palästinensischer Staat entstehen, könnten wir ohne weiteres einen Waffenstillstand aushandeln oder sogar eine Zweistaatenlösung. Aber der Inhalt muss stimmen: vollständiger Rückzug auf die Grenzen von 1967, auch in Jerusalem, Auflösung der Siedlungen und Abriss der Trennmauer; für die Flüchtlinge die Erlaubnis zur Rückkehr und Kompensationen; und auch für die Leiden unseres Volkes unter der Besatzung muss es Entschädigungen geben.“

Kaum zu glauben, dass dieser freundliche und höfliche Mann noch während des Wahlkampfs im Gefängnis saß. Um sein Regierungsamt antreten zu können, wurde er unter Auflagen freigelassen. Von den 74 Hamas-Abgeordneten des PLC war nur einer nicht im Gefängnis. Es ist fast ein kleines Wunder, dass dieses palästinensische Parlament und seine Ausschüsse in separaten Gebäuden tagen, von denen das eine in Ramallah und das andere in Gaza-Stadt steht. Die gewählten Repräsentanten beider Regionen kommunizieren über einen Videolink, denn den meisten von ihnen haben die israelischen Behörden verboten, die 80 Kilometer israelischen Gebiets zu durchqueren, die den Gaza-Streifen und das Westjordanland voneinander trennen.

Präziser wird der Regierungssprecher in Gaza, Ghazi Hamed: „Wir haben den Europäern gesagt: Wir sind zu politischen Kompromissen bereit. Aber der Westen darf uns nicht immer neue Bedingungen aufdrücken. Und wie können wir ein Abkommen akzeptieren, das Israel nach wie vor ablehnt? Wir sagen ganz klar: Wenn Israel die Resolution 242 akzeptiert, tun wir es auch. Aber Israel sollte den ersten Schritt machen. Wir haben ja kein Land, das wir abtreten können. Das Einzige, was wir aufgeben können, ist unsere Sicherheit.“

Die Palästinenser haben für die Hamas gestimmt, weil diese saubere Hände hatte. Weil sie nicht durch Korruption belastet war, über eine starke soziale Basis verfügt und auf kommunaler Ebene gut gearbeitet hat. Und weil die Strategie der Fatah gescheitert war. Raja Sourani, der das Palestinian Centre for Human Rights in Gaza leitet, meint über die Hamas: „Die Wähler wollen der Hamas eine faire Chance geben, weil hier ganz normale Leute mitarbeiten. Aber die Besatzer sind eben immer noch da: Sie befinden über die Medikamente, die wir unseren Kindern verabreichen. Wir sind hier am Ersticken.“

Und dann schildert er, wie die Palästinenser die letzten Jahre erlebt haben: „Israel nannte Arafat den Paten des Terrorismus und belagerte ihn in Ramallah. Danach kam Abu Masen, mit dem haben sie noch nicht einmal gesprochen. Und jetzt werden wir dafür bestraft, dass wir unseren freien Willen ausgedrückt und die Hamas gewählt haben. Wir gelten also ohnehin als Feind. Aber was jetzt passiert, das sieht ganz so aus, als wolle man Bin Laden auf den Plan rufen.“

Rawja Schawa, eine der wenigen unverschleierten Frauen in Gaza, ist unabhängige Abgeordnete im palästinensischen Parlament: „Ich war gegen die Fatah, weil sie uns als Gesellschaft in die Vergangenheit zurückgezerrt hat. Deswegen haben ja alle für die Hamas gestimmt. Ich werde sie unterstützen, solange sie die Korruption bekämpft. Für eine konservative muslimische Gesellschaft wie die unsere ist die Hamas kein Problem. Sie will ja keinen Staat à la Chomeini aufbauen.“

Diese Aussage würde auch die entschieden weltlich orientierte Khaleda Jarrar aus Ramallah unterschreiben, die für die Volksfront für die Befreiung Palästinas (PFLP) im PLC sitzt: „Die Hamas ist nicht das Problem, sondern die Fatah. Die hat im letzten Parlament ausgesprochen rückschrittliche Reformen vorgeschlagen, zum Beispiel ein Strafgesetz, das auf dem Islam basiert und als Strafmaß für Ehrenmorde eine Höchststrafe von gerade mal sechs Monaten vorsieht.“ Derselben Meinung ist Mariam Saleh. Die neue Frauenministerin, promovierte Expertin für islamisches Recht, wurde für die Hamas in den PLC gewählt: „Wir brauchen Chancengleichheit zwischen Männern und Frauen, eine Reform des Familienrechts und neue Erbschaftsgesetze.“

Die Fatah war ein einziger Selbstbedienungsladen

Überall in Gaza herrscht eine feindselige Stimmung gegen die Fatah. Auch Sufi Abu-Zeid, ehemals Minister in der Fatah-Regierung, hat Arafat am Ende heftig kritisiert. Wird die Fatah ihre politische Auszeit nutzen werde, um sich zu reformieren und die internen Differenzen zu überwinden? „Ich glaube, leider nein“, meint Abu-Zeid. Das Dröhnen der israelischen Artillerie ist hier lauter zu hören als zuvor. Wir befinden uns in der Nähe des sandigen Brachlands, von wo die Milizen der Fatah und des islamischen Dschihad ihre Kassam-Raketen nach Israel hineinfeuern, wobei die meisten ins Meer fallen. Die Granaten der Israelis dagegen schlagen vor allem in den Ortschaften ein, die zu beiden Seiten der Straße zum israelischen Checkpoint Eretz liegen.

Ein Stück weiter, in Sudaniya, besuche ich Khaled al-Yazji, ehemals enger Mitarbeiter Arafats und dann stellvertretender Innenminister unter Abbas. Plötzlich eine ohrenbetäubende Explosion. Kurz darauf die Meldung über das Mobiltelefon: Es war ein Flugzeug oder eine Drohne, aber es wurden keine Kinder verletzt. Al-Yazji redet weiter: „Die Partei war ein einziger Selbstbedienungsladen. Eine kleine Clique hat uns im Stich gelassen. Jetzt müssen sie abtreten. Die Fatah ist unfähig, die PLO-Institutionen zu reformieren, jetzt muss die Hamas ran.“

Auch die Hamas wünscht sich vermutlich ein Ende der Gewalt, insbesondere der Angriffe, die vom Gaza-Streifen ausgehen. Unter vier Augen geben Hamas-Funktionäre zu, dass sie sinnlos sind und sogar eine politische Belastung. Seit über einem Jahr hält sich die Hamas strikt an eine Waffenruhe. Jamil Hilal ist Soziologe und ein unabhängiges Mitglied des Palästinensischen Nationalrats. Er meint, die Hamas müsse jetzt genau sagen, „was sie unter Widerstand versteht, und vor allem, wie sie zu Selbstmordanschlägen steht“.

Am 18. April wurden in Tel Aviv beim schlimmsten Selbstmordattentat seit August 2004 elf Menschen getötet und mehr als sechzig verletzt. Während Abbas den Anschlag als „widerwärtig“ verurteilte, erklärte der Hamas-Sprecher Sami Abu-Zuhri gegenüber BBC International: „Es war ein Akt der Selbstverteidigung, eine natürliche Antwort auf die Aggression Israels.“ Die Palästinenser würden „ihren Widerstand fortführen, doch nur gegen das Militär und gegen die Siedler“. Zwei Tage danach treffe ich ihn in Gaza. Warum er nicht gesagt habe, dass der Islamische Dschihad für den Anschlag verantwortlich war und dass die Hamas sich an den Waffenstillstand hält? „Wir fanden es unangebracht, zu erklären, dass wir für die Waffenruhe sind.“ Warum das? Offiziell habe die Hamas der Gewalt noch nicht abgeschworen.

Doch die Bewegung hat schon einen weiten Weg hinter sich, seit sie den bewaffneten Widerstand für die Rückgewinnung von ganz Palästina propagiert hat. Es dauerte Jahre, bis die Hamas auf der politischen Bühne mitmischte, das heißt aber zugleich: die Anerkennung der Palästinensischen Autonomiebehörde (PA) vollzog, die ja ein Produkt des Oslo-Abkommens war, das von der Hamas früher als „Ausverkauf Palästinas“ denunziert wurde. Die Debatte innerhalb der Hamas wurde dadurch erschwert, dass die einzelnen Führungsgruppen geografisch verstreut lebten: in Gaza, wo die Bewegung zu Beginn der ersten Intifada entstanden war, im Westjordanland und auch außerhalb von Palästina, in Amman und Damaskus. Der überraschende Wahlerfolg vom Januar 2006 traf die Bewegung völlig unvorbereitet und zwang sie, sich vollends in die PA zu integrieren.

Auf kommunaler Ebene verhält sich die Hamas bislang pragmatisch. Sie betont, sie wolle den Palästinensern ihre Vision einer islamischen Gesellschaft nicht aufzwingen. Sie sieht sich selbst als demokratisches Vorbild für die Staaten der Region. Wobei sie im Auge hat, dass im Falle freier Wahlen in den arabischen Ländern die Muslimbruderschaften in Ägypten, Jordanien und anderswo an die Macht kommen würden.

Bei der Wahl des Ministerpräsidenten hat sich der Kandidat der Westjordanlandbewohner, der gemäßigte Ismail Hanije, gegen den erfahreneren, aber auch radikaleren Mahmud Zahhar durchgesetzt, der Außenminister wurde. Der 43-jährige Hanije lebt noch immer in seinem bescheidenen Haus im Lager Schati von Gaza-Stadt, wo er als Flüchtling der zweiten Generation aufgewachsen ist. Zahhar dagegen ist der einzige Überlebende der älteren Hamas-Garde, die durch gezielte israelische Mordanschläge schwer dezimiert wurde.

Als Bewegung hält die Hamas an ihren geheimen Organisationsstrukturen fest, doch jetzt hat sie als Partei auch eine öffentliche und politische Rolle, denn immer mehr ihrer Mitglieder sind in offizielle Ämter eingerückt. Das „politische Außenbüro“ unter Leitung von Chaled Meschal spricht für die Palästinenser, die innerhalb wie jenseits der palästinensischen Gebiete verstreut leben. Das befähigt die Bewegung zu einem breit gefächerten Diskurs. Die Hamas schließt nicht aus, ihre Verfassung zu ändern oder mit Israel auf Grundlage der Grenzen von 1967 zu verhandeln. Doch insgesamt bleibt unklar, wie ihre künftige Politik aussehen wird.

Auf der aktuellen Tagesordnung stehen vor allem der internationale Boykott und die zunehmenden Spannungen zwischen Hamas und Fatah. Einer funktionierenden „Kohabitation“ zwischen beiden Bewegungen steht vor allem die Tatsache im Wege, dass die Bemühungen der Hamas, in die Palästinensische Befreiungsorganisation (PLO) aufgenommen zu werden, vorerst gescheitert sind. Doch obwohl sie nicht zur PLO gehört, sind ihre gewählten Abgeordneten in der palästinensischen Legislative qua Amt zugleich Mitglieder des Palästinensischen Nationalrates (PNC), der höchsten Instanz der PLO. Damit besetzt die Hamas, ohne PLO-Mitglied zu sein, zehn Prozent der Sitze im PNC.

Gegen den Anspruch der PLO, die „einzige rechtmäßige Vertretung des palästinensischen Volkes“ zu sein, hat sich die Hamas lange gewehrt. Doch in der Kairoer Erklärung von 2005, der alle politischen Gruppen der Palästinenser zustimmten, hat sie die PLO endlich anerkannt – zugleich allerdings 40 Prozent der Sitze im Palästinensischen Nationalrat gefordert. Auf die Frage, ob die Hamas bereit sei, an der Reform der PLO mitzuwirken, sagt Ismail Hanije: „Wir sind mehr als bereit. Wir warten nur auf ein Zeichen der PLO.“

Der ehemalige Minister Dr. Ziad Abu-Amr sitzt heute als Unabhängiger im Parlament. In einer Einheitsregierung hätte er gute Chancen, Außenminister zu werden. Er selbst bezeichnet sich als „eine dritte Stimme“. In seinem Büro in Gaza spricht er über den fehlgeschlagenen Versuch, eine Regierung der nationale Einheit zu bilden: „Entscheidend war das politische Programm der Hamas. Sie hätte auf wichtige Posten verzichtet, solange ihr Programm unangetastet geblieben wäre. Wenn die Hamas von Teilung der Macht spricht, meint sie damit, dass sie die volle Entscheidungsgewalt behalten will. Die Hamas hat ehrgeizige Ziele. Es wäre für sie erniedrigend, sich mit den dekadenten Nationalisten zusammenzutun. Und nach ihrem Wahlsieg glaubt sie, dass sie das auch nicht mehr nötig hat.“

Die ersten Spannungen zwischen der Hamas und Präsident Abbas entstanden, als dieser auf Geheiß der Europäer die Kontrolle über den Rafah-Übergang zwischen Gaza und Ägypten übernahm. Die Leute um Ministerpräsident Hanije nahmen diese Regelung zwar hin, waren aber empört, dass sie erst aus den Zeitungen davon erfuhren. Weitere Spannungen produzierte die Entscheidung von Innenminister Said Siam, eine neue, 3 000 Mann starke Spezialtruppe aufzustellen. Die Einheit sollte sich aus den Milizen der unterschiedlichen Fraktionen rekrutieren und unter dem Befehl von Jamal Abu Samahadanah stehen. Der Gründer und Kommandeur des Popular Resistance Committee (PRC) steht auf der israelischen „Wanted“-Liste. Abbas lehnte den Vorschlag sogleich als „illegal und verfassungswidrig“ ab.

Das Programm der Gefangenen als Chance zur Einheit

In Gaza erklärte Khaled Abu Hilal, der Sprecher des Innenministeriums, flankiert von zwei Bodyguards: „Vor Ihnen steht jemand, der sein Amt als Sprecher für die Al-Aksa-Brigaden niedergelegt hat, um als Fatah-Mitglied das Amt des Pressesprechers für einen Hamas-Minister auszuüben. Meine Frau ist Mitglied der Hamas, mein Schwager ist in der PFLP. Aber wir alle sind gegen die Korruption.“ Über die Aufgabe der neuen Truppe meint er: „Die Kräfte würden als Erstes öffentliche Grundstücke zurückfordern, die sich irgendwelche Leute angesichts der herrschenden Anarchie und Gesetzlosigkeit unter den Nagel gerissen haben. Außerdem werden wir illegale Waffen konfiszieren. Wir wollen unsere zerstörte Gesellschaft wieder aufbauen. Das Ganze hat ja nicht nur mit der Besatzung zu tun, sondern auch mit bestimmten Fatah-Leuten.“

Die Spannungen verschärften sich, als in Damaskus Khaled Mishal, der Chef des politischen Büros der Hamas, Präsident Abbas und seine Leute beschuldigte, in Absprache mit Israel und den USA die Regierung zu destabilisieren. Als es zu Zusammenstößen kam, bei denen 40 Menschen verletzt wurden, sagte Abbas die geplanten Aufmärsche der Fatah-Milizen ab. Am 23. April stürmten bewaffnete Fatah-Leute die von der Hamas kontrollierte Stadtverwaltung in Nablus und den Amtssitz des Gesundheitsministers Bassem Naim in Gaza, nachdem dieser eine Kürzung der monatlichen Gesundheitsausgaben um 2 Millionen Dollar angekündigt hatte.

In Ramallah sprach ich über die Rolle von Mishal mit Erziehungsminister al-Schairklar, der die Regierung klar von der Bewegung der Hamas absetzte: „Die Hamas braucht Leute, die im Ausland für die Bewegung sprechen, aber dies hier ist ein interner Dialog. Wir brauchen Khaled Mishal nicht. Er repräsentiert uns nicht“, und mit uns meinte er die Regierung.

Im Lauf des Mai entluden sich die Spannungen zwischen Hamas und Fatah in Zusammenstößen und bewaffneten Attacken, bei denen es zehn Tote gab. Seitdem gibt es Bemühungen, die innere Einheit wiederherzustellen. Es wurde vereinbart, die neue Truppe in die vorhandenen Sicherheitsstrukturen zu integrieren. Am 25. Mai fand in Gaza und Ramallah ein zweitägiger (über Video zusammengeschalteter) „Nationaler Dialog“ statt, mit allen politischen Gruppen, aber auch Vertretern der Zivilgesellschaft, Geschäftsleuten und Akademikern.

Ziel war die Einigung auf ein gemeinsames Programm aller Palästinenser. Als erster Schritt in diese Richtung gilt eine Erklärung, die am 11. Mai im israelischen Hadarim-Gefängnis von inhaftierten Führern der palästinensischen Fraktionen erarbeitet wurde. Zu den Unterzeichnern gehörten Vertreter des Islamischen Dschihad, vor allem aber der Fatah-Führer Marwan Barghuti und Sheik Abdel Halek von der Hamas. Das Papier impliziert die Anerkennung eines unabhängigen Staats Palästina auf dem gesamten 1967 von Israel besetzten Territorium, fordert aber auch das Recht auf Rückkehr der palästinensischen Flüchtlinge und die Freilassung der palästinensischen Häftlinge. Außerdem mahnt es eine beschleunigte Reform der PLO an.

Präsident Abbas stellte auf der Konferenz ein überraschendes Ultimatum: Ein Ausschuss unter seiner Führung soll die Erklärung der Hadarim-Insassen absegnen. Sollte man sich nicht einigen, wäre innerhalb von 40 Tagen ein Referendum abzuhalten.

Ob die Hamas ein solches Ultimatum akzeptieren kann, bleibt abzuwarten. Obwohl sie dem Plan in den meisten Punkten zustimmt, hat sie ihn als Ganzes nicht akzeptiert. Würde eine Einigung eine Art Machtaufteilung innerhalb der Palästinensischen Autonomiebehörde bedeuten, die eine Auflösung der PA-Strukturen noch verhindern könnte?

Abdel Rasek ist optimistisch: „Eine Kooperation zwischen der Regierung und dem Präsidenten könnte zu einer Regierung der nationalen Einheit führen – falls wir zu ideologischen Kompromissen bereit sind. Dann könnten wir flexiblere Positionen beziehen. Die Hamas allein kann das nicht.“

Ein solches Szenario konnte aus der Sackgasse herausführen. Doch sind die Hamas und die Fatah zu den nötigen Zugeständnissen bereit? Realistischer dürfte ein Kompromiss sein, der in Richtung nationale Einheit geht und bei dem die Hamas einige Ministerien an die anderen Gruppen abtritt.

Und wenn es nicht dazu kommt? „Wir würden uns in Ehren zurückziehen“, meint Ghazi Hamed. Und Finanzminister Abdel Rasek erklärt: „Wenn die Regierung scheitert, wird es immer noch eine starke Hamas geben und den Palästinensischen Legislativrat und die Besatzung. Doch das politische System würde zusammenbrechen.“

Dann aber müssten, technisch gesehen, die Israelis wieder die Verwaltung der palästinensischen Gebiete übernehmen. Diese mögliche Perspektive hat eine neue Debatte über die Rolle der Palästinensischen Autonomiebehörde ausgelöst. Sie könnte, wenn der politische Prozess, aus dem sie erwachsen ist, am Ende wäre, im Grunde nur noch Gehälter auszahlen. Die Hamas dagegen würde weiterexistieren.

Aus dem Englischen von Elisabeth Wellershaus Wendy Kristianasen ist Journalistin und betreut die englische Ausgabe von Le Monde diplomatique.

Le Monde diplomatique vom 09.06.2006, von Wendy Kristianasen