10.01.2014

Yalda in Teheran

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Yalda in Teheran

von Marmar Kabir

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Zu Beginn des Winters feiern wir Yalda, die längste Nacht des Jahres, eines der vier großen traditionellen Feste. Mein Vater weilt nicht mehr unter uns. Auf seinem Platz, dem geschnitzten, mit abgewetztem Samt bezogenen Sessel hinten im Wohnzimmer, sitzt jetzt mein Onkel. Er besitzt weder das Format noch die Redegewandtheit seines älteren Bruders. Sein schlecht geschnittener und schlecht gebügelter grauer Anzug wird an der Taille von einem gefälschten Versace-Gürtel aus hellbraunem Leder zusammengehalten. Er ist pensionierter Lehrer und fährt jetzt Taxi mit seinem alten, im Iran zusammengebauten Peugeot, um über die Runden zu kommen. Seine Frau ist nach Deutschland gezogen, zu den Kindern, die dort arbeiten, und er lebt in seiner Wohnung im Zentrum von Teheran mit einer anderen Frau. Er hat sie auf Zeit geheiratet, das soll aber geheim bleiben.

Ich habe einen Eintopf mit Auberginen und Pute gemacht, das billige Fleisch ist in den Fleischerläden von Teheran wegen der irrsinnig hohen Preise sehr angesagt. Meine Mutter hat auf dem staatlich subventionierten Markt Granatäpfel und Wassermelonen besorgt, sie sind zwar von mittelmäßiger Qualität, aber sie tun es auch – es ist nun einmal Brauch, an Yalda Früchte zu essen, die innen rot sind, und wir versuchen uns daran zu halten. Wir werden uns auch etwas für die Zukunft wünschen, und Herr Jafari, ein alter Freund meines Vaters, wird nach dem Zufallsprinzip eine Seite in den Gedichten von Hafis aufschlagen und die Verse deuten, um uns eine Antwort und ein wenig Hoffnung zu geben; auch das ist ein Ritual dieses Abends.

Meine Tante sitzt neben meiner Mutter und wartet geduldig darauf, dass man sie bittet, mit ihrer hohen Stimme etwas zu singen. Sie hat einen herrlichen Nusskuchen gebacken. Ihr Mann spricht mit meinem Onkel und schneidet die Wassermelone in gleichmäßige Scheiben. Er hat eine Zulieferfirma, aber wegen des Handelsembargos erhält er immer weniger Aufträge.

Meine Mutter leidet an Arthrose, sie hat eigentlich keine Lust mehr zu solchen Feiern, aber sie klagt nicht. Sarvenaz, meine Kollegin aus Shiraz, die allein in Teheran lebt, macht Fotos, wie wir alle zusammen rund um Obst und Kuchen sitzen, und stellt sie gleich bei Facebook ein. In allen Häusern lädt man jetzt Fotos von Wassermelonen und Granatäpfeln hoch, künstlich lächelnde Münder mit glänzendem Lippenstift, geglättetes, gebleichtes Haar, öffentliches Familienglück, um möglichst viele „Gefällt mir“-Klicks zu bekommen, vor allem von den Verwandten und Freunden, die voller Heimweh im Exil hocken.

Unsere Fotos konkurrieren mit den prächtigen Festen der iranischen Diaspora in Los Angeles, wo sich gewaltige Weihnachtsbäume mit den schön verzierten Granatäpfeln und Wassermelonen des Yalda-Fests vereinen. Fotos, die den Neid all derer wecken werden, die irgendwo auf der Welt verloren sind und wenigstens so mit ihren Lieben verbunden sein wollen. Solche wie meine ledige Tante Mojgane, die schon in den 1980er Jahren das Land verlassen hat und als Informatikerin in Dänemark lebt, wo sie ihre langen einsamen Abende am Computer verbringt. Meine Mutter schlägt ihr immer noch Heiratskandidaten vor: einen ehemaligen politischen Gefangenen, jetzt Geschäftsmann, einen geschiedenen Ingenieur, einen gemäßigten Muslim, einen ehemaligen Offizier – alle würden gern zu ihr nach Dänemark kommen.

Mein Cousin Faramarz kommt spontan mit zwei Freunden. Kaum ist er durch die Tür, sprudelt er heraus, wie er letzte Woche in Täbris zusammen mit anderen Fußballfans ein paar Minuten vor dem Anpfiff in einer Spontanaktion den Schnee vom Spielfeld geräumt hat, damit das Spiel von Tractorsazi stattfinden konnte. Die Handys der drei geben pausenlos Signale von sich, Glückwünsche zur Yalda-Nacht. Sie tippen und reden gleichzeitig in voller Lautstärke. Der Eintopf wird nicht für alle reichen, mit Sarvenaz’ Hilfe brate ich noch Hackbällchen aus Putenfleisch und backe Brot aus dem Gefrierschrank auf.

In der Küche hören wir, wie mein Onkel erzählt, was er von seinen Taxikunden gehört hat: über die Rolle Russlands, die Pläne Obamas für den Mittleren Osten, die Position Frankreichs. Er versucht zu argumentieren und verheddert sich nur in seinen Geschichten, ohne zum Ende zu kommen. Herr Jafari sagt ihm, er soll abwarten, was die Zukunft bringt, und sich nicht aufregen und seine Aufmerksamkeit wieder Hafis zuzuwenden. Herr Jafari lässt sich nur auf Debatten ein, wenn er sie selbst angezettelt hat, und dann landet er bei einer seiner Geschichten vom Iran-Irak-Krieg oder aus dem Evin-Gefängnis. In den 1980er Jahren war er als begeisterter junger antiamerikanischer Revolutionär an die Front gegangen, um den „vom Imperialismus aufgerüsteten irakischen Feind“ zu stoppen; es folgten fünf Jahre Gefängnis wegen seiner militanten Vergangenheit. Er lernte Französisch von einem Mithäftling, der in Belgien studiert hatte, und wehrte sich, so gut er konnte. Als man ihn 1989 freiließ, musste er den Kerkermeistern schwören, dass er regelmäßig beten und sich von seinen alten Kameraden fernhalten werde. Die meisten von ihnen wurden hingerichtet, weil sie die beiden Bedingungen nicht akzeptierten. Herr Jafari züchtete dann Hühner, reparierte Computer, installierte Satellitenschüsseln auf versteckten Dächern, handelte mit Mobiltelefonen und spekulierte sogar an der Börse. Seit Kurzem verkauft er Bücher in einem Supermarkt und hat einen Kreis von Dichtern um sich versammelt. Er liest jetzt Hafis, und seine Stimme klingt immer eindrucksvoller: „Auch wenn dein Nachtlager nicht sicher ist und dein Ziel noch fern, wisse, dass es keinen Weg ohne Ende gibt. Sei nicht traurig.“

Vor dem Abendessen nimmt meine Mutter ihre rosa Krillölkapseln ein, die sie wegen des Embargos für teures Geld auf dem Schwarzmarkt kaufen muss. Das Mittel beruhigt sie mehr, als es ihr hilft, ihre Schmerzen von den abgenutzten Gelenken und von der Last ihres Lebens lindert es nicht, aber sie hat die Werbung für diese Pillen im Satellitenfernsehen gesehen und lässt sich nicht mehr davon abbringen.

Ein paar Fotos von unserem schön hergerichteten Essen mit strahlenden Gesichtern drumherum werden ins Netz gestellt. Herr Jafari singt mit starkem Akzent ein Lied von Georges Brassens: „Un p’tit coin d’parapluie“ („Ein Stück vom Paradies / für ein Stück des Paraplüs / Sie hatte was von einem Engel …“), bewegt dazu seinen Kopf und macht Grimassen. Niemand versteht den Text, aber alle applaudieren, und meine Tante singt das neueste Lied von Ebi. Die Melodie eignet sich eigentlich nicht zum Tanzen, aber mein Onkel erhebt sich trotzdem.

Sarvenaz filmt das ganze Geschehen und stellt es ins Netz – sofort kommen die „Gefällt mir“-Meldungen. Mein Cousin schlägt vor, wir sollten ausgehen und den weiteren Abend bei einem Freund verbringen. Sarvenaz ist sofort begeistert und schließt sich im Bad ein, um sich wieder aufzuhübschen. Meine Mutter bittet Herrn Jafari, noch zu bleiben, ich kann mich nicht zurückhalten und werfe ihr einen besorgten Blick zu. Mein Onkel möchte auch bleiben, aber niemand bittet ihn darum. Also zieht er langsam seinen grünbraunen Regenmantel an und umarmt uns reihum zum Abschied. Mein Cousin flüstert ihm ins Ohr: „Beeilen Sie sich, man wartet auf Sie!“ Meine Tante und ihr Mann wollen den langen Festabend nicht beenden, bevor sie nicht ein zweites Mal gesungen hat; sie bitten ihren Sohn, nicht zu spät nach Hause zu kommen.

Beim Freund meines Cousins hört man laute Musik, Tabakrauch mischt sich mit dem Parfüm der perfekt geschminkten jungen Frauen. Fast alle tanzen. Sarvenaz verschwindet in der wogenden Menge. Nima, der Freund meines Cousins, bemerkt meine Verunsicherung und fragt, ob ich nicht lieber hinausgehen und frische Luft schnappen möchte. Ich zögere, aber dann stimme ich zu. Wir gehen zu Fuß zum Park Gheytarieh, es ist kalt, die Autos schlängeln sich durch die engen Straßen, zu dieser späten Stunde sind nur noch wenige Passanten unterwegs. Ich hege keinerlei Gefühle für Nima, aber ich möchte lieber an seiner Seite gehen, als den ganzen Abend lang mit steifem Lächeln schlecht gekleidet herumzustehen und mich fehl am Platz zu fühlen. Er versucht, das Schweigen zwischen uns zu brechen, das immer drückender wird, und erzählt von seinem Betriebswirtschaftsstudium und seiner Teilzeitstelle als Handelsvertreter in der Firma seines Schwagers. Dann erklärt er mir, er setze große Hoffnung auf das Abkommen mit dem Westen vom 24. November.

Zweifelnd betrachte ich die riesige Werbung für Tefal an der Fassade des Einkaufszentrums gegenüber dem Park – das Zentrum ist trotz Sanktionen voller Importwaren, zwischen der Yalda-Dekoration in den Schaufenstern stehen Weihnachtsmänner. Ich antworte ihm, man müsse sich schon freuen, dass es keine Militärschläge gebe. Es tut mir leid, dass ich so wenig zur Unterhaltung beitrage, aber es gelingt mir einfach nicht, ich bin nicht mit dem Herzen dabei. Nach einem kleinen Rundgang vor dem Park, bei dem er mehr spricht als ich, begleitet er mich nach Hause, ein wenig verärgert wegen meiner Distanziertheit.

Ich freue mich über die Ruhe und schalte den Rechner an: Immer noch keine Nachricht. Ich räume das Wohnzimmer auf und wasche das Geschirr ab, den grauen Himmel durchbricht ein schwaches Licht. Ich kann es durch die durchsichtige alte Gardine des Wohnzimmers sehen, ich weiß nicht, ist es der anbrechende Tag oder ein verirrter Sonnenstrahl am Himmel von Teheran?

Aus dem Französischen von Sabine Jainski Marmar Kabir ist Übersetzerin für Le Monde diplomatique auf Farsi. © Le Monde diplomatique, Berlin

Le Monde diplomatique vom 10.01.2014, von Marmar Kabir