09.07.2010

Seit unsere Taschen wieder leer sind

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Seit unsere Taschen wieder leer sind

Irische Geschichten aus ärmeren und reicheren Zeiten von Hugo Hamilton

Wir Iren besitzen eine lebhafte Vorstellungskraft. Das ist eine der Eigenschaften, für die wir weltweit bekannt sind: diese einmalige Fähigkeit zur dramatischen Selbstdarstellung. Für uns in Irland ist die Geschichte, die wir über uns erzählen, oft viel wichtiger als die tatsächlichen Ereignisse, an die wir uns erinnern. Das Gerede, die Übertreibung, der ständige Off-Kommentar zu unserem Leben und unserem Land zählen mindestens genauso viel wie die wahre Wirklichkeit.

Und schon verfalle ich in eben genau dieses nationale Stereotyp, das ich immer zu vermeiden versucht habe. Aber an der wichtigen Rolle, die die Vorstellungskraft bei der Entwicklung der irischen Gesellschaft gespielt hat, zeigen sich vielleicht bis heute unsere Stärken und Schwächen.

Zurzeit macht Irland eine Phase gründlicher Selbstbefragung durch. „Renewing the Republic“, die Republik neu erfinden, lautet das aktuelle Schlagwort. Nach zwei kurzen Jahrzehnten des Kaufrauschs, in denen sich unsere Vorstellungskraft in Konsumfantasien erschöpfte, geht die öffentliche Debatte nun weit zurück, zu den Prinzipien unserer Gründerväter. Was ist schiefgegangen? An welchen Wertvorstellungen wollen wir festhalten? Und was wollen wir wirklich von der Zukunft?

Der irische Nationalcharakter beruht auf Sehnsüchten. Unsere Geschichte ist zutiefst von nationalistischen Freiheitsträumen geprägt. Von den Träumen der unfreiwilligen Emigranten, eines Tages in ihre Heimat zurückkehren zu können, ihre eigene Heimat. Von den Träumen von Reichtum nach so viel Armut, Hunger und Hoffnungslosigkeit, denen das Land mit dem Boom der 1990er Jahre schließlich entkam.

Nach massiven Bildungsinvestitionen und dank unserer Mitgliedschaft im Club Europa erlangte Irland endlich den ersehnten Wohlstand, und alle unsere Träume wurden wahr. Emigranten kehrten zurück. Mit unserer legendären irischen Gastlichkeit empfingen wir mit offenen Armen so viele Immigranten wie noch nie, vor allem aus den neuen EU-Staaten Osteuropas. In dieser Frühphase wirtschaftlichen Aufschwungs ließ Irland sogar seine konfessionellen Konflikte hinter sich. Der Friedensprozess in Nordirland ist eine bleibende Errungenschaft dieser Zeit, auch wenn alles andere uns vorerst unter den Händen zerronnen ist.

Und urplötzlich erschienen unsere Träume als Sollposten in der Bilanz. Warum die gegenwärtige Krise Irland derart zusetzen konnte, wird noch auf Jahrzehnte hinaus Gegenstand pathologischer Wirtschaftsbefunde sein. Vielleicht hat die plötzliche Verwirklichung unserer Träume uns in die Irre geleitet, uns den Gefahren gegenüber blind gemacht. Wie hatten die Taschen voller Geld, wie man so sagt. Wir wollten in einer Orgie der Verschwendung die Vergangenheit vergessen.

Bezeichnenderweise brachte Irland gerade in den Jahren der Fülle zwei internationale Bestseller über das Leben in Armut hervor: Frank McCourts „Angela’s Ashes“ (Deutsch: Die Asche meiner Mutter) und Bill Cullens „It’s a Long Way From Penny Apples“, beides Erzählungen aus Tagen, in denen Kinder ohne Schuhe herumlaufen mussten. In Zeiten materieller Sicherheit kann ein Land es sich eher leisten, zu seinen dunklen Seiten zu stehen, was wir auch bei den Missbrauchsskandalen in Kirche und Bildungssystem getan haben.

Die aktuellen Bucherfolge handeln dagegen vom Exzess. Von Bauunternehmern und Banken. Es ist fester Bestandteil der irischen Kultur, die Verantwortung für unser Missgeschick bei anderen zu suchen. Vielleicht ist auch die Vorstellung historisch bedingt, dass wir ein Volk sind, dem etwas angetan wird, von den Besatzern, der katholischen Kirche, der korrupten politischen Kaste, dem schlechten Wetter.

In unsere Psyche ist die Rolle des tapferen Opfers so fest eingeschrieben, dass wir bis heute Weltmeister darin sind, Sündenböcke zu suchen und alles mit einem Lachen abzutun. Wir gelten als gute Verlierer. Als der französische Stürmer Thierry Henry der irischen Fußballnationalmannschaft gewissermaßen im Handstreich den Weg in die WM verbaute, hat er uns einen großen Gefallen getan, denn er hat uns zurückversetzt in den seligen Normalzustand des aufrechten Verlierers, des Hilflosen, dem übel mitgespielt wird, des würdevoll Unterlegenen.

Aber die irische Republik hat sich geändert. Wir haben, so glauben wir, unser pubertäres Selbstmitleid überwunden. Als Land mit einer sagenhaft jungen Bevölkerung, das einen Babyboom nach dem anderen erlebte – zuletzt mithilfe der Immigranten – entwickelten wir ein neues Bewusstsein für den Boden der Tatsachen. Selbst wenn das Weltwirtschaftssystem uns im Kinderwagen festschnallt, haben wir angefangen unsere Eigenverantwortung wahrzunehmen. So möchten wir es wenigstens gern sehen.

Die schrillsten und vernehmlichsten Stimmen gehören dieser Tage den Wirtschaftskommentatoren. Es ist so viel bequemer, zu beurteilen, was schiefgelaufen ist, als eine Lösungsstrategie zu entwickeln. Als einer der führenden Wirtschaftsjournalisten vor kurzem in die Politik ging, war die Konfrontation mit der politischen Realität für ihn dermaßen hart, dass er nach sechs Monaten aufgab. Vielleicht erscheinen uns narrative Fähigkeiten manchmal doch erstrebenswerter als praktisches Engagement in der wirklichen Welt.

Die Geschichten, mit denen wir uns in den Schlaf wiegen, seit unsere Taschen wieder leer sind, handeln von aberwitziger Verschwendung. Wir erinnern uns an Zeiten, da wir uns nicht einmal die Mühe machten, im Supermarkt die Preise zu vergleichen. Während manche warnen, die Zeit der Suppenküchen könnte wiederkommen, interessiert uns vor allem, wo das viele Geld geblieben ist. Wahrscheinlich ist es pure Nostalgie, dass wir lieber Geschichten von sagenhaftem Reichtum als von sagenhafter Armut hören.

Uns steht vor Augen, wie auf dem Gipfel des Booms die Dubliner Warenhäuser Wartelisten für Designerprodukte führten. Produkte, die in einem Anfall wirtschaftlichen Überschwangs gekauft wurden und für die ihre Besitzer jetzt am liebsten eine Entschädigung fordern würden, wenn sie eine kriegen könnten. Was sollen wir mit dem pompösen terrassierten Wasserspiel im Garten, wenn wir die Raten für das Haus nicht mehr bezahlen können? Vor allem wenn es sowieso andauernd regnet.

Für kurze Zeit schien der Wert der Dinge tatsächlich dem zu entsprechen, was auf dem Preisschild stand. Die irische Autorin Anne Enright beschrieb den Leichtsinn der Boomjahre so: Alles wurde aussortiert und ersetzt, sogar Ehepartner.

Legenden von Superexzessen ranken sich vor allem um die Bauindustrie, den Wirtschaftsmotor, auf den sich das Land viel zu sehr verließ. Als der letzte Quadratmeter Grün unter dem Beton zu verschwinden drohte, begannen die Lockungen des Wohlstands die irische Vorstellungskraft erstmals auszutrocknen – mit dem reinen, altmodischen Materialismus der marxistischen Lehre.

Da gibt es die Geschichte, wie eine einzige Immobilientransaktion in Dublin einem Spekulanten jeden Monat eine Million Euro einbrachte. Da gibt es das Bild eines Glasdachs im Haus eines Dubliner Magnaten, das sich über den Swimmingpool wölbt und in eine Tanzfläche übergeht. Die Anekdote von dem berühmten Billardspieler, der zur Tauffeier eines Billardtischs eingeladen wurde, von internationalen Stars, die für Showeinlagen zu Privatpartys eingeflogen wurden.

Jeden Sonntag kann man über vergangene Festgelage lesen. Als ein erfolgreicher irischer Bauunternehmer einmal mit Freunden in einem Pariser Nobelrestaurant speiste, stach seiner Frau die Handtasche einer Dame am Nachbartisch ins Auge. Sie stand auf, rannte um die Ecke und war rechtzeitig zum Dessert mit einer ähnlichen Valentino-Tasche für 2 000 Euro zurück.

Warum überraschen uns in Irland solche Geschichten überhaupt? Gehören sie nicht zu den typischen Bildern vom Überfluss, wie wir sie seit Jahren aus amerikanischen Filmen kennen? Warum sollten sich Iren unserer Meinung nach anders verhalten als die anderen Superreichen?

Es ist die Geschwindigkeit, mit der sich unsere Landsleute die neuen Codes angeeignet haben, der Feuereifer, mit dem wir die Minderwertigkeit unserer hungrigen Vergangenheit abgeschüttelt und unsere Vorstellungskraft in messbare Materie umgemünzt haben. Es ist auch die Geschwindigkeit, mit der wir nach diesem kurzen, schwindelerregenden Höhenflug auf dem harten Boden aufgeschlagen sind. Es ist der Anblick verlassener, halb fertiger Bauruinen. Es ist der Gedanke an die Ausgaben für Make-up und Accessoires. Der Gedanke an ungenutzte Chancen. Die Unterwerfung unter Alkohol und Drogen. Die Aussicht, dass wieder Emigranten auf der Jagd nach den spärlichen Jobs in Kanada oder Australien das Land verlassen werden.

Was aber am meisten zählt, ist die Tatsache, dass diese Geschichten vom Luxus schlecht zu der Geschichte passen, die wir uns selbst erzählen. Sie beißen sich mit dem Mythos des Irischen, der sich über Jahrhunderte gebildet hat und an den wir immer noch zu gern glauben.

Heute ist oft die Rede von einer jungen Generation, die in wohlhabenden und relativ stabilen Verhältnissen aufgewachsen ist, die keine harten Zeiten kennengelernt und keine Fähigkeiten entwickelt hat, Auswege zu finden. Die Erfahrung, mit vollen Händen Geld auszugeben, könnte für sie so prägend gewesen sein, dass sie sich von dem Schock, sparen zu müssen, nie erholen wird.

Auf der Insel Achill an der irischen Westküste besinnt man sich auf die Bescheidenheit, die immer zur irischen Lebensart gehört hat. Jedes Jahr pflegt man dort mit einem kleinen Literaturfestival das Andenken des deutschen Schriftstellers und Nobelpreisträgers Heinrich Böll, der in den 1950er Jahren ein Häuschen auf der Insel besaß und für seine Warnungen vor den zersetzenden Kräften des Materialismus in der Nachkriegsgesellschaft bekannt ist.

Am Rande des diesjährigen Festivals erkundeten wir auf mehreren Spaziergängen die spektakuläre Küste. Wie spürten die Bewegungen der Steine unter unseren Füßen und die frische Brise vom Atlantik. Man zeigte uns den kleinen Fischereihafen in Purteen, in dem früher Riesenhaie gefangen wurden, deren Rückenflossen man damals auf den Steinmauern trocknete und bis ins ferne China exportierte.

Etwas Mutiges, Zupackendes gab es in diesen vergangenen Zeiten. Die Leute waren voller Erwartungen, Musik und Geschichten. Die Iren lebten von ihrer Vorstellungskraft. Sie hatten sogar eine natürliche Art von weichem Sozialismus entwickelt: Heimkehrende Fischer breiteten ihren Fang auf dem Pier aus, drehten sich dann um und warfen das Los über die Verteilung. All dies erinnerte uns daran, woher wir als Nation gekommen sind. Und vielleicht ist es an der Zeit, die aus der Geschichte geerbten Instinkte neu zu bewerten.

Eine in Irland gebräuchliche Redewendung heißt: „Give it a lash“. Sie bedeutet so viel wie „Mach’s einfach“ oder „Versuch dein Glück“. Man benutzt sie zum Beispiel, um eine Mannschaft anzufeuern, die nichts mehr zu verlieren hat. Das ist der irische Optimismus: das Glück trotzdem zu probieren.

Unlängst fand in Dublin eine Konferenz statt, zu der irischstämmige Unternehmer aus allen Teilen der Welt eingeladen waren. Grundtenor der Antworten war eine große Anerkennung für Irlands kreatives Potenzial. In Kunst und Literatur boxen wir, wie man so schön sagt, weit über unserer Gewichtsklasse.

Der mit dem Oscar ausgezeichnete Regisseur Neil Jordan („Ondine – Das Mädchen aus dem Meer“) meinte, dass uns zwar unsere Politiker im Stich gelassen haben, die Banken und die Kirche, nicht aber unsere Künstler. Irische Kreativität soll als Schlüsselkompetenz wiederentdeckt werden, die uns den Weg in die Zukunft ebnen könnte.

Zur Geschichte von Irland sind die Geschichten der Immigranten gekommen. Diese Leute haben ihre eigenen kulturellen Einflüsse mitgebracht, genau wie die Iren einst ihre Musik in alle Welt mitgenommen haben. Auch wenn wir gerade ein bisschen jammern, weil wir den Schock des Abschwungs erst überwinden müssen, beginnt vielleicht trotzdem genau jetzt eine aufregende Zeit mit neuen Möglichkeiten, ein Moment der Erneuerung für die irische Vorstellungskraft.

Aus dem Englischen von Gesine Schröder und Katharina Döbler

Hugo Hamilton ist Schriftsteller in Dublin. Zuletzt erschien von ihm auf Deutsch der Roman „Legenden“, München (Luchterhand) 2008.

Le Monde diplomatique vom 09.07.2010, von Hugo Hamilton