09.07.2010

Brief aus Brüssel

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Brief aus Brüssel

von Simon O’Connor

Plux?“ lautet in Brüssel die typische Frage am Freitagnachmittag unter Freunden und Kollegen. Wer wie ich schon ein paar Wochen länger in dieser kosmopolitischen Welt lebt, braucht keine Übersetzung. Für alle anderen: Gemeint ist der Place du Luxembourg, ein großer gepflasterter Platz im Schatten des Europäischen Parlamentsgebäudes, in dessen Cafés und Bars Menschen aus ganz Europa das Ende einer langen Arbeitswoche in der Hauptstadt der Europäischen Union feiern.

Angestellte und Beamte der EU-Institutionen, Diplomaten, Lobbyisten, Anwälte und Journalisten – sie alle wollen in Brüssel den Traum von Europa leben. Manche sind erst seit wenigen Wochen hier und werden auch nur ein paar Monate bleiben, andere, wie zum Beispiel ich, wollten ein fünfmonatiges Praktikum bei der Europäischen Kommission machen und leben nach elf Jahren immer noch hier.

Die vielen Leute am „Plux“ bilden keine einheitliche Gruppe. Klar und deutlich zeichnet sich eine innereuropäische Trennlinie ab. In den eher heruntergekommenen belgischen Cafés und dem unvermeidlichen Irish Pub namens O’Farrell’s verkehren vor allem trinkfreudige Briten, US-Amerikaner und Skandinavier. Auf der geografisch wie kulturell südlichen Seite des Platzes, in der trendigen, teureren Ralph’s Bar, schlürfen die schickeren Wichtigtuer ihre Mojitos.

Ich – halb Ire, halb Italiener – bin mal hier, mal dort. Früher habe ich mich damit manchmal für etwas Besonderes gehalten, auch weil ich auf der Kanalinsel Jersey aufgewachsen bin und in vier europäischen Ländern gelebt habe, bevor ich in Belgien gelandet bin. Doch ein paar Tage in der EU-Blase, und man ist kuriert. Hier reißt es keinen vom Hocker, dass ich bikultureller Abstammung und viel herumgekommen bin. Wenigstens geht es mir nicht so wie den Leuten ohne multikulturellen Background, die meinen, sie müssten sich entschuldigen, weil sie so uninteressant sind.

Was die Berufe angeht, kann von Vielfalt allerdings keine Rede sein: Ärzte, Architekten oder Designer sucht man am Plux vergeblich. Die große Mehrheit der Leute ist professionell auf die eine oder andere Weise mit der EU verbandelt. Arbeit und Freizeit sind eng miteinander verzahnt, und weil man meist mit Leuten aus der Blase befreundet ist, schaltet man selten richtig ab. Bei Anfällen von Klaustrophobie kann man sich in den Zug setzen und ist in weniger als zwei Stunden in London, Paris oder Amsterdam.

Auf dem Plux hört man Französisch und sogar Flämisch, doch Einheimische sieht man selten, und auf die Frage, ob sie irgendwelche Belgier näher kennen, antworten alte EU-Hasen: einen oder zwei vielleicht. Der fehlende Kontakt zu den Bruxellois ist ein Grund, warum sich viele Expats in Brüssel durchaus wohl, aber ins Leben der Stadt oder des Landes nicht richtig integriert fühlen. Wenig Kontakt besteht auch zu den großen marokkanischen, türkischen und kongolesischen Communitys, die einen Großteil der im Ausland geborenen Bewohner Brüssels ausmachen – und mehr als die Hälfte aller Einwohner stellen.

Gern beschweren sich die Expats auch über das Wetter. Die Londoner behaupten, Brüssel sei noch verregneter als die britische Hauptstadt. Und die Pariser vergleichen erst gar nicht. Es stimmt ja auch: Der ewig graue Himmel, die feuchte Kälte, die einem in die Knochen kriecht, und der unglaublich feine Regen, der mindestens die Hälfte des Jahres auf Brüssel niedergeht, sind alles andere als einladend. Geklagt wird außerdem über die hohen Steuern, zumindest von denen, die (so wie ich als kleiner Journalist) nicht in den Genuss der extrem großzügigen Steuerprivilegien der EU-Beamten kommen.

L’Anglophone, eine neue englischsprachige Wochenzeitung für Brüsseler Expats, berichtete in ihrer ersten Ausgabe, dass sich der Staat 55 Prozent vom Gehalt des Durchschnittsbelgiers holt. (In der EU sind nur die Ungarn schlechter dran.) Schimpftiraden darüber münden unweigerlich in der Frage, wofür das ganze Geld ausgegeben wird – sicher nicht für die Ausbesserung der mit Schlaglöchern übersäten Straßen und nicht minder ramponierten Bürgersteige oder für die Modernisierung der wasserköpfigen belgischen Bürokratie.

Etliche Euros fließen auch ins Gesundheitssystem, eines der besten in Europa. Das fällt den Expats dann doch ein, wenn sie an dunklen, verregneten Novembertagen darüber nachdenken, warum sie hier leben (einmal abgesehen von den vorzüglichen Restaurants, der europaweit größten Auswahl an guten Bieren und einem Immobilienmarkt, der nur von dem in Berlin übertroffen wird.)

Die sonstige Verwendung der Steuergelder führt direkt ins Zentrum der Spannungen, die Belgien schier zerreißen. Denn anders als die Expats finden die Bewohner Flanderns die hohen Steuern nicht nur lästig, sondern regelrecht empörend.

Etwa 60 Prozent der Bevölkerung leben in Flandern. Die Wallonen im chronisch notleidenden französischsprachigen Süden des Landes haben durchschnittlich ein Drittel weniger Geld zum Leben, und immer mehr Flamen fragen sich, wie lange sie noch bluten und ihren arbeitslosen Landsleuten die Sozialhilfe finanzieren sollen?

Belgien ist ein ebenso künstliches Gebilde wie die EU. Und mitten durchs Herz der Hauptstadt verläuft die kulturelle und politische Scheidelinie. Vor der Gründung des belgischen Staats 1830 wurde in Brüssel überwiegend Flämisch gesprochen. Doch die politische und ökonomische Elite des jungen Landes war in den ersten hundert Jahren, ja bis in die 1960er Jahre hinein, strikt frankofon. Heute sprechen 85 Prozent der Brüsseler Französisch, und die große Mehrheit der Expats verständigt sich in den Läden und Restaurants der Stadt auch lieber auf Französisch und nicht auf Flämisch. (Als Verkehrssprache in der EU-Blase dagegen setzt sich, sehr zum Kummer von Paris, das Englische mehr und mehr durch.)

Offiziell ist Brüssel bilingual, Straßenschilder sind in Französisch und Flämisch, Verkäufer oder städtische Beamte begrüßen ihre Kunden beziehungsweise Besucher politisch korrekt mit „Goede dag, bonjour“. Doch das Sprachproblem ist allgegenwärtig. Ein erbitterter Streit entzündete sich in den letzten Jahren am Umzug sehr vieler Französisch sprechender Belgier in flämische Gemeinden am Brüsseler Stadtrand. Manche Gemeinderäte versuchten sogar mit juristischen Finten Hausverkäufe an nicht Flämisch Sprechende zu unterbinden.

In Brüssel selbst bleiben die Flamen in einigen wenigen Stadtteilen unter sich. Das gilt insbesondere für die bei Kreativen beliebte Gegend zwischen Alter Börse und dem Brüssel-Charleroi-Kanal, für die Antoine Dansaertstraat, in der die Topmodedesigner aus Antwerpen ihre Flagshipstores haben, und für die Straßen und Plätze rund um die Kirche Sint Katelijne, wo sich die besten Fischrestaurants der Stadt befinden. Im Monk oder Roskam, dunklen, verrauchten Szenekneipen, lernen die Expats schnell, dass sie freundlicher bedient werden, wenn sie „een biertje“ bestellen und nicht „une bière“.

Die Hauptstadt hält den belgischen Staat nach wie vor zusammen. Die Parlamentswahlen am 13. Juni (siehe dazu auch den Beitrag auf Seite 5) erbrachten in Flandern und Wallonien diametral entgegengesetzte Ergebnisse. 44 Prozent der Flamen wählten die Nieuw-Vlaamse Alliantie (N-VA, Neu-Flämische Allianz) und andere konservative, nationalistische Parteien, die mehr Autonomie und letztlich die Unabhängigkeit für ihre Region fordern, während 37 Prozent der Wallonen ihre Stimme für die Parti Socialiste (PS) abgaben, die Reformen auf ein Minimum beschränken und an den gewaltigen Transferzahlungen vom Norden in den Süden festhalten will.

Nach der Wahl hat sich die Stimmung freilich geändert. Es gab durchaus konstruktive Koalitionsgespräche, und womöglich wird sogar der Chef der PS, Elio Di Rupo, Premierminister einer Regierung, in der auch die N-VA vertreten ist. Die Rede ist von einvernehmlichen Schritten in Richtung einer Föderation, in der Flandern steuerlich mehr Selbstbestimmung bekäme, die Wallonen aber auch nicht ganz ihrem Schicksal überlassen blieben – und das alles nur, weil ein Auseinanderbrechen für Belgien eine Katastrophe wäre.

In dem Fall könnte die Wallonie zur 23. Region Frankreichs werden – was sich laut Umfragen viele Menschen beiderseits der Grenze gut vorstellen können. Und vielleicht zöge es ja auch die 73 000 deutschsprachigen Belgier aus dem Gebiet, das der belgische Staat 1920 annektiert hat, nach Deutschland, ohne dass große gesellschaftliche Unruhen entstehen würden.

Doch selbst wenn es zu einem unabhängigen Flandern käme, bliebe Brüssel die Hauptstadt. Schließlich leben in der Umgebung von Brüssel vor allem flämischsprachige Menschen, die ihre historische Hauptstadt nur ungern aufgeben würden. Umgekehrt wollen die Bruxellois auch nicht als winzige Französisch sprechende Minderheit in einer neuen Republik Flandern leben.

Wenn Belgien also überlebt, dann liegt das zum großen Teil an Brüssel: der merkwürdig verquer gelegenen multikulturellen Hauptstadt eines multikulturellen Staats und – seit einem halben Jahrhundert – eines multikulturellen Zusammenschlusses von Staaten. Komplizierter und chaotischer geht es kaum, aber ist es nicht unglaublich, dass es überhaupt geht?

Aus dem Englischen von Sigrid Ruschmeier Simon O’Connor ist Herausgeber der in Brüssel erscheinenden Zeitschrift E!Sharp. © Le Monde diplomatique, Berlin

Le Monde diplomatique vom 09.07.2010, von Simon O'Connor