09.07.2010

Mubarak am Ende

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Mubarak am Ende

Ägypten sucht seine Zukunft von Adam Shatz

Am 6. Oktober 1981 wollte Präsident Anwar al-Sadat in Kairo eine Militärparade zur Feier eines wichtigen Jahrestages abnehmen. Acht Jahre zuvor hatten ägyptische Truppen im Oktoberkrieg von 1973 das Ostufer des Suezkanals von den Israelis zurückerobert. Sadat nutzte die Gelegenheit, um die neuen Kriegsflugzeuge vorzuführen, die Ägypten von den USA, Großbritannien und Frankreich erworben hatte – als Symbol der neuen Allianz mit dem Westen nach einem fast 25 Jahre währenden Bündnis mit der Sowjetunion.

Sadat trug eine weiße, preußisch eng geschnittene Uniform, aber keine kugelsichere Weste – das hätte unvorteilhaft ausgesehen. Putschgerüchte waren im Umlauf, und sein Vizepräsident, Husni Mubarak, hatte ihm geraten, zu Hause zu bleiben. Sadat hatte davon nichts wissen wollen, doch als er sich erhob, um die paradierenden Soldaten zu grüßen, ging ein Kugelhagel auf ihn nieder. Die Attentäter waren islamistische Soldaten seiner eigenen Armee. Ihr Anführer, ein 24-jähriger Leutnant, erklärte stolz: „Ich habe den Pharao getötet.“ Acht Tage nach der Ermordung Sadats hatte Ägypten einen neuen Pharao. Der ist bis heute an der Macht. Sechs Jahre zuvor hätte noch kaum jemand mit Mubarak, der bei der Parade neben Sadat stand, als dessen möglichem Nachfolger gerechnet.

Als der farblose Karriereoffizier 1975 mit 47 Jahren zum Vizepräsidenten ernannt wurde, waren viele politische Beobachter schockiert. Mubarak war für die Ägypter ein unbeschriebenes Blatt. Er hatte keine erkennbaren Interessen und weder Neigungen noch Talent für die politischen Rituale, mit denen Nasser und Sadat die Massen angesprochen hatten. Und anders als die beiden war der Einzelgänger Mubarak auch nicht Mitglied der „Freien Offiziere“ gewesen, die 1952 die Monarchie gestürzt hatten. Doch er war ein loyaler Diener seines Staates und hatte als Chef der Luftwaffe 1973 den Überraschungsangriff kommandiert, der es dem ägyptischen Heer ermöglicht hatte, die Sinai-Halbinsel zurückzuerobern.

Beim Amtsantritt war Mubarak politisch unerfahren. Aber er versprach, auf Rat zu hören, und wollte sogar die Amtszeit des Präsidenten begrenzen. Heute ist er 82 und regiert seit 29 Jahren. Mit Blick auf die Präsidentschaftswahlen im nächsten Jahr hat er bereits verkündet, seinem Land „bis zum letzten Atemzug und bis zum letzten Schlag meines Herzens“ zu dienen. Er wird sein Versprechen vermutlich halten.

Ägypten war nie eine Demokratie. Das politische Leben wurde stets vom Militär dominiert, und seit dem Putsch der „Freien Offiziere“, der Gamal Abdel Nasser an die Macht brachte, war das Land eine Militärdiktatur. Seit den späten 1970er Jahren gibt es allerdings einen eher kosmetischen Pluralismus, der sich in einem – kontrollierten – Mehrparteiensystem ausdrückt.

Nasser war ein Autokrat, der dafür sorgte, dass Ägypten vom Ausland ernst genommen wurde. Dabei war seine Politik durch mehrere spektakuläre Misserfolge gekennzeichnet: das fatale militärische Eingreifen im Jemen, die katastrophale Niederlage im Krieg von 1967, der mit der israelischen Eroberung der Sinai-Halbinsel endete; die Schaffung eines riesigen ineffektiven öffentlichen Sektors; die Unterdrückung von Dissidenten und des politischen Lebens insgesamt.

Aber Nasser hatte auch Erfolge vorzuweisen: Er setzte eine Landreform durch, verstaatlichte den Suezkanal, ließ den Assuan-Staudamm bauen und machte Ägypten zu einer führenden Kraft innerhalb der Bewegung der Blockfreien. Wenn Nasser sprach, hörte die ganze arabische Welt zu. Sein Nachfolger Sadat gab die panarabische Vision auf und handelte nach der Parole „Ägypten zuerst“. Wie Nasser war auch er ein Staatsmann mit bemerkenswertem Geschick und mit Gespür für den richtigen Zeitpunkt. Indem er die Armee 1973 zu einem Teilsieg gegen Israel führte, löschte er die Schande von 1967 aus und erreichte am Ende die Rückgabe des Sinai. Und sein Friedensschluss mit Israel empörte zwar die Araber, verschaffte Ägypten aber eine Rolle auf der internationalen Bühne.

Unter Mubarak hat das Land dramatisch an Einfluss verloren. Der Niedergang der sunnitischen Welt ist nirgends so deutlich zu spüren wie in Kairo. Die Megalopole ist heute zu großen Teilen ein gigantischer Slum, die Luft ist so mit Abgasen verpestet, dass das Atmen schwerfällt. Ähnlich bedrückend ist auch die politische Atmosphäre. Frustration, Scham, Erniedrigung, das sind die Worte, mit denen Ägypter ihre Gefühle beschreiben.

„Was in Ägypten passiert, hat Einfluss auf die gesamte arabische Welt.“ Den Satz hört man auch heute noch, nur dass in diesem Land seit Jahren nicht viel passiert ist. Als regionale Führungsmacht wurde Ägypten längst von Saudi-Arabien verdrängt, von nichtarabischen Ländern wie Iran und Türkei ganz zu schweigen. Selbst das winzige Katar betreibt eine unabhängigere Außenpolitik. Mit 80 Millionen Einwohnern das mit Abstand größte arabische Land, wird Ägypten trotzdem von den meisten Arabern – wie von den Ägyptern selbst – als Schützling der USA und Israels angesehen, die auf Mubarak angewiesen sind, um die „Stabilität“ der Region zu sichern und die vom Iran angeführte „Widerstandsfront“ zu bekämpfen.

Der Liberalisierungskurs hat Mubarak viel Lob von der Weltbank eingebracht. Nach der Verfassung von 2007, in der das Wort Sozialismus nicht mehr auftaucht, basiert die Wirtschaft „auf der Entwicklung des unternehmerischen Geistes“. Doch der ägyptische Markt ist alles andere als frei: Die Unternehmen pflegen sehr enge – und für die Beteiligten profitable – Beziehungen zum Staat, was häufig heißt: zur Familie Mubarak.

Zu dessen Günstlingen zählt zum Beispiel Hussein Salem. Der Hotelmagnat und Waffenhändler ist Miteigentümer der Eastern Mediterranean Gas Company, eines ägyptisch-israelischen Konsortiums, das einen Vertrag über die Lieferung von ägyptischem Erdgas nach Israel im Wert von 2,5 Milliarden Dollar unterzeichnet hat. Die Gaslieferungen wurden Anfang 2008 aufgenommen, als Israel gerade seine Belagerung des Gazastreifens verschärfte.

Die ökonomische Liberalisierung Ägyptens hat politisch keine Liberalisierung bewirkt. 1992 akzeptierte die Regierung ein Strukturanpassungsprogramm des IWF – und erweiterte die Zuständigkeit der Militärgerichte auf Zivilpersonen. Und das nach der Ermordung Sadats beschlossene Notstandsgesetz, das Mubarak trotz gegenteiliger Zusagen erst vor kurzem wieder verlängert hat, erlaubt es der Regierung, ihre Gegner ohne Anklage zu verhaften und für unbegrenzte Zeit festzuhalten. Die Zahl der politischen Gefangenen wird heute auf 17 000 geschätzt, die meisten von ihnen sind Islamisten.

Mubaraks Nationaldemokratische Partei (NDP) hat in den letzten Jahren mehrere ideologische Schwenks vollzogen und sich dabei je nach politischer Lage mal auf Milton Friedman, mal auf den Propheten berufen. Die arabische Einheit besteht inzwischen nur noch, wie der Schriftsteller Sonallah Ibrahim es einmal genannt hat, in der „Einheitlichkeit der von allen konsumierten Importwaren“. Bezeichnenderweise ist die auf Plakatwänden omnipräsente militärische Figur nicht General Mubarak, sondern der Kentucky-Fried-Chicken-Gründer Colonel Sanders.

Aus dem „Tigerstaat am Nil“ ist nichts geworden

Die NDP verweist stolz auf die fortschreitende Integration der ägyptischen Wirtschaft in den Weltmarkt und auf die Wachstumsraten von 7,5 Prozent. Die Bevölkerung sieht das anders: Die Inflation ist seit 2003, als der Wechselkurs des ägyptischen Pfunds freigegeben wurde, drastisch gestiegen, die Arbeitslosenquote liegt bei 26,3 Prozent.

Mubaraks Reformen haben Ägypten nicht zum „Tigerstaat am Nil“ gemacht. Nach wie vor ist die Wirtschaft vom Ölpreis, von den Finanzhilfen der USA und vom Tourismus abhängig, und noch muss das Land mehr als die Hälfte seines Weizenbedarfs importieren.

Außenpolitisch hat Mubarak aus dem Schicksal Sadats eines gelernt: Man kann mit Israel vielleicht Verträge, aber auf keinen Fall Freundschaft schließen. Er hielt sich also an das israelisch-ägyptische Friedensabkommen vom 26 März 1979, reiste aber nie nach Tel Aviv und vermied alle demonstrativen Gesten, die das ägyptische Ehrgefühl verletzt hätten. Antiisraelische Tiraden in der Presse nimmt er hin, damit die Gegner einer „Normalisierung“ der Beziehungen mit Tel Aviv Dampf ablassen können.

Dank des dem Anschein nach frostigen Verhältnisses zu Israel konnte Mubarak auch die Beziehungen mit der Arabischen Liga und den arabischen Staaten wiederbeleben, die 1979 mit Ägypten gebrochen hatten. Zugleich entwickelte er mit Israel eine Handels- und „Sicherheits“-Partnerschaft, die sehr viel weiter geht, als es für Sadat vorstellbar gewesen wäre. Heute arbeiten zum Beispiel die beiden Geheimdienste eng zusammen, und Mubarak unterstützt die Palästinensische Autonomiebehörde in ihrem Kampf gegen die Hamas mit Waffenlieferungen und militärischen Ausbildern.

Die Regierung hilft auch, die Belagerung des Gazastreifens aufrechtzuerhalten. In Kairo befürchtet man, dass die Israelis als Antwort auf die Öffnung der Grenze zwischen dem Sinai und Gaza ihre eigenen Grenzübergänge schließen. Das würde den Ägyptern die Verantwortung für den ganzen Gazastreifen aufhalsen. Dem Mubarak-Regime würde das überhaupt nicht passen, denn die in Gaza regierende Hamas ist sowohl mit Mubaraks innenpolitischen Gegnern verbündet als auch mit seinen ausländischen Feinden: dem Iran und der libanesischen Hisbollah.

Deshalb hielten die Ägypter den Übergang von Rafah auch während des Gazakriegs geschlossen, der Ende 2008 nur 48 Stunden nach dem Besuch der israelischen Außenministerin Zipi Livni in Kairo begann. Zwar wurde die Grenze nach dem Angriff der israelischen Kriegsmarine auf den Hilfskonvoi um das türkische Schiff „Mavi Marmara“ Anfang Juni zum Teil wieder geöffnet, aber Ägypten lässt immer noch keine Baumaterialien durch. Palästinenser aus Gaza brauchen nach wie vor eine Sondererlaubnis der ägyptischen Sicherheitsbehörden, wenn sie die Grenze zum Sinai überqueren wollen. Und natürlich bauen die Ägypter – angeblich mit Unterstützung der USA – weiter an ihrer eigenen Mauer zum Gazastreifen. Diese unpopuläre Maßnahme wird von regierungsfreundlichen Klerikern durch eine Fatwa legitimiert, in der es heißt: „Wer gegen den Bau dieser Mauer ist, verstößt gegen die Scharia.“

Die Islamisierung der ägyptischen Gesellschaft, die 1967 einsetzte, wurde noch unter Sadat zur offiziellen Regierungspolitik. Dieser hat sich als „gläubiger Präsident“ stilisiert und die radikalen Islamisten im Kampf gegen die Linke instrumentalisiert. 1980 – ein Jahr vor seiner Ermordung durch Islamisten – ließ er die Scharia zur „Hauptquelle“ des Rechts erklären. Unter Mubarak ist das regelmäßige Beten inzwischen so populär wie Einkaufen oder Fußballspielen, und es erfüllt auch mehr oder weniger dieselbe Funktion: Ablenkung von den zahllosen Frustrationen des Alltags.

Ein solcher Islam ist für das Regime ungefährlich, beeinträchtigt aber das Leben der Menschen. „Früher hat mein Nachbar seine Pflanzen immer im Pyjama gegossen“, erzählte mir ein Freund in Kairo, „und seine Frau ließ sich im Nachthemd auf dem Balkon blicken. Da tranken sie auch ihr Bier, bevor sie bei Sonnenuntergang zum Gebet in die Moschee gingen. Heute würde man ihn dafür umbringen.“

Der zunehmende Einfluss der Moscheen beängstigt die christlich-koptische Minderheit, die ihrerseits eine zunehmend aggressive Frömmigkeit entwickelt. Die Kopten, deren Vorfahren lang vor der Entstehung des Islams in Ägypten ansässig waren, machen heute etwa 10 Prozent der Bevölkerung aus. Obwohl viele Kopten arm sind, gelten sie als ökonomisch privilegiert und sind allen möglichen Formen der Diskriminierung ausgesetzt. Sie haben praktisch keinen Zugang zu höheren Posten im öffentlichen Dienst und akademischen Berufen, und ihre Kirchen bekommen, anders als die Moscheen, keinerlei staatliche Unterstützung.

Immer häufiger kommt es nun zu Ausbrüchen sektiererischer Gewalt. Am 6. Januar 2010 wurden in Nag Hammadi nördlich von Luxor nach einer Weihnachtsmesse sechs Kirchgänger auf offener Straße erschossen, offenbar als Vergeltung für die Vergewaltigung eines muslimischen Mädchens. Erst als Häuser und Geschäfte von Nichtmuslimen geplündert wurden, griff die Regierung ein. Aber wenig später ließ sie zehntausende Schweine schlachten, auf die arme koptische Familien angewiesen sind – angeblich habe eine Schweinepest gedroht.

Die Revolution von 1952, lange der zentrale Legitimationsmythos des Regimes, wird von den meisten Ägyptern heute kritisch gesehen. Denn mit ihr wurde das Experiment einer parlamentarischen Demokratie zerstört und dem Land eine Diktatur aufgezwungen. Gleichwohl sehnen sich viele immer noch nach Nasser und seinem „arabischen Sozialismus“ zurück, andere hegen nostalgische Gefühle für den „ägyptischen Liberalismus“ in der Spätphase der britischen Kolonialherrschaft, wieder andere beten für die Rückkehr des Kalifats.

Ein weiteres Anzeichen für solche nostalgischen Bedürfnisse ist das wachsende Interesse für die ethnischen Minderheiten. Als Kairo und Alexandria noch erstaunlich kosmopolitische Städte waren, haben Juden, Griechen, Armenier und Italiener hier eine wichtige Rolle gespielt. Dann wurden sie Mitte der 1950er Jahre zur Auswanderung gedrängt. Ihr Exodus galt damals als Beleg für den Triumph Ägyptens über die Fremdherrschaft. Heute sieht man in ihm eher den Beginn des wirtschaftlichen und kulturellen Niedergangs.

Duldsamkeit als Erbe der Pharaonen

In Ahmed Abdallahs neuem Film „Heliopolis“ freundet sich ein junger Mann im Lauf seiner Forschungen über die Minderheiten im vorrevolutionären Ägypten mit einer älteren jüdischen Frau an. In einer ergreifenden dokumentarischen Szenenfolge erzählen ältere Ägypter von den alten Zeiten, als die Läden in ihrem Viertel von Juden und Griechen betrieben wurden. Die Botschaft ist klar: Die Sehnsucht nach einer für immer verlorenen Vergangenheit zeigt, dass von der Zukunft nicht viel zu erhoffen ist. Auch über die Gründe besteht kein Zweifel. Ein junges Paar, das im Kairoer Verkehrschaos feststeckt, erfährt von einem Polizisten, warum es nicht vorangeht: Die Straße ist gesperrt, weil man die Wagenkolonne des Präsidenten erwartet.

Das heutige Ägypten wird oft mit dem Iran in den letzten Tagen der Schah-Herrschaft verglichen. Die Parallelen sind offensichtlich: eine von der Inflation gebeutelte Mittelklasse, der Zorn über das Bündnis des Regimes mit den USA und Israel, das tiefsitzende Gefühl der Erniedrigung, das sich mehr und mehr in islamischem Glaubenseifer ausdrückt, die allgemeine Verachtung für die herrschende Klasse und einen Staat, dessen Legitimität fast völlig aufgezehrt ist.

2005 organisierte ein Zusammenschluss von Linken, Nasseristen und Islamisten die „Ägyptische Bewegung für den Wandel“ (besser bekannt unter ihrem Slogan „Kifaya“, was „Genug!“ bedeutet) Demonstrationen in der Kairoer Innenstadt, bei denen Mubarak erstmals offen kritisiert und zum Rücktritt aufgefordert wurde.

Seitdem haben Hunderttausende demonstriert. Linke und Islamisten fordern die Aufhebung des Notstandsgesetzes; Richter prangern die Verfassungsänderungen an, mit denen ihnen das Recht auf Wahlüberwachung entzogen wurde; Arbeiter streiken für bessere Löhne und unabhängige Gewerkschaften; Kleinbauern wehren sich gegen die Großgrundbesitzer, die ihre Besitztümer zurückfordern, die Nasser an die Kleinbauern verteilt hatte. Dabei handelt es sich bislang noch um Einzelaktionen. Und dem Regime ist es teilweise gelungen, die Proteste zu neutralisieren, indem es ein paar oppositionelle Zeitungen und eine gewisse Kritik an Mubarak zugelassen hat.

Die meisten Ägypter haben mit Protesten nichts am Hut. Seit dem Aufruhr im Januar 1977, der eine Reaktion auf die Erhöhung des Brotpreises war, sind die Massen trotz des sinkenden Lebensstandards ruhig geblieben. Diese Duldsamkeit wird oft mit dem angeblichen Nationalcharakter oder dem „pharaonischen Erbe“ erklärt: Der Ägypter sei von Natur aus ein „Überlebenskünstler“, ein „anpassungsfähiger Konformist“, der lediglich ein besseres Leben wolle, egal unter welchem Präsidenten.

Die Passivität dürfte aber eher auf nüchternes Kalkül zurückzuführen sein. Etwa ein Viertel der Bevölkerung lebt in Slums; mehr als ein Drittel der 19 Millionen Einwohner von Kairo hat keinen Zugang zu sauberem Trinkwasser und zur Abwasserentsorgung. Zehntausende hausen in den Familiengruften eines riesigen Friedhofs, der sogenannten Stadt der Toten.

Die aus der Mittelklasse stammenden Kifaya-Aktivisten können es sich leisten, „Nieder mit Mubarak“ zu skandieren. Sie riskieren schlimmstenfalls, einen Polizeiknüppel abzukriegen. Die meisten Ägypter leben dagegen in einer völlig rechtlosen Welt. Sie werden behandelt wie Barbaren, die es zu unterwerfen gilt, können in eine Polizeistation verschleppt und gefoltert werden, nur weil einem Polizisten ihr Gesicht nicht passt. Die Folterpraktiken der Polizei sind glaubwürdig dokumentiert: Elektroschocks an den Genitalien, anale Vergewaltigungen, Todesdrohungen, Aufhängen in schmerzhaften Positionen und die berüchtigten „Begrüßungspartys“, bei denen Häftlinge gezwungen werden, nackt auf dem Fußboden zu kriechen, während die Wachen mit Peitschen auf sie einschlagen.

Für die Leute, denen gegenüber sich das Regime solche Brutalitäten nicht erlauben kann, hat es andere Einschüchterungsmethoden, beispielsweise die massive Präsenz der Staatssicherheit in besseren Wohnvierteln oder auf Universitätsgeländen. In Garden City steht nur wenige Minuten von der US-Botschaft entfernt der furchterregende, futuristische Bau des ägyptischen Innenministeriums. Kaum eine wichtige Entscheidung im Lande fällt ohne dieses Ministerium. Ohne Zustimmung seiner Sicherheitsleute wird niemand Professor, Richter oder Redakteur, kann niemand eine NGO, eine Privatschule oder einen Fernsehsender gründen.

Das Innenministerium unterhält eine Armee von rund 2 Millionen Spitzeln, das macht einen pro 40 Einwohner. Es ist fast so einflussreich wie die Armee, seit das Regime nicht mehr gegen Israel kämpft, sondern sich auf die Unterdrückung seiner Feinde im Inneren konzentriert, und das sind Linke, Menschenrechtsaktivisten und vor allem Islamisten.

Mubaraks wichtigster innenpolitischer Gegner ist die Muslimbruderschaft, die ihm zugleich sehr nützlich ist. Denn sie erlaubt ihm, sich gegenüber dem Westen und der verschreckten ägyptischen Mittelklasse als Retter aufzuspielen. Die 1928 gegründete Bruderschaft ist seit langem die größte und am besten organisierte Oppositionsbewegung. Obwohl sie ihre Strategie in der Vergangenheit immer wieder verändert hat, sind ihre Kernforderungen dieselben geblieben: soziale Gerechtigkeit, ein korruptionsfreies Regierungssystem nach islamischen Grundsätzen, Widerstand gegen den Imperialismus und Solidarität mit den Palästinensern.

In den 1940er Jahren standen sowohl Nasser als auch Sadat der Bewegung nahe. Den Putsch von 1952 hatten die Muslimbrüder zunächst unterstützt, sich dann aber zu Nassers schärfsten Kritikern entwickelt. 1954 verübte ein Mitglied der Bruderschaft ein Attentat auf Nasser, der daraufhin eine erste Verhaftungswelle anordnete. Im Lauf der Zeit wurden zehntausende Muslimbrüder ins Gefängnis geworfen und gefoltert, darunter der radikale dschihadistische Theoretiker Sayyid Qutb, der zum Heiligen Krieg gegen den ägyptischen Staat aufrief. Nachdem dieser 1966 zum Tode verurteilt und aufgehängt worden war, distanzierte sich die Bruderschaft von der Gewalt. In der Sadat-Ära beschränkte sie sich darauf, islamische Werte zu proklamieren, die Korruption zu verurteilen und vor allem die Armen mit medizinischen und sozialen Einrichtungen zu unterstützen. Die finanzierte sie durch ihre eigenen (islamischen) Banken und Spenden ihrer wohlhabenden Anhänger sowie durch Saudi-Arabien und andere Golfstaaten. Der breite Rückhalt, den die Bruderschaft in der Bevölkerung genießt, beruht vor allem auf dieser Hilfe für die Armen. Mubarak blieb also fast nichts anderes übrig, als sich mit den Muslimbrüdern zu arrangieren.

Die Stellung der Bruderschaft wird häufig mit der Formel „verboten, aber toleriert“ beschrieben: „verboten“, weil sie bei unbeschränkter Aktionsfreiheit dem Regime gefährlich werden könnte; „toleriert“, weil sich Mubarak als einziges Bollwerk gegen eine Machtergreifung der Islamisten darstellen kann. Auf Druck Washingtons erlaubte Mubarak 2005 erstmals die Beteiligung der Muslimbrüder an den Parlamentswahlen. Zum Entsetzen der liberalen Opposition und der Bush-Regierung gewannen sie 88 der 160 Mandate, um die sie sich beworben hatten, erlangten ein Fünftel aller Unterhaussitze und wurden zweitstärkste Partei.

Danach durfte die Bruderschaft zu den Oberhauswahlen von 2007 nicht mehr antreten, und von den etwa 5 000 Kandidaten, die sie bei den Kommunalwahlen 2008 ins Rennen schicken wollte, wurden nur zwei Dutzend zugelassen. Seitdem wurden wieder hunderte Muslimbrüder verhaftet, vorzugsweise prominente Vertreter der gemäßigten Richtung, die auf Reformen drängt. Das stärkte natürlich die Hardliner innerhalb der Bruderschaft.

Deren Anführer ist Mohammed Badie, der 1965 mit Qutb im Gefängnis saß. Seine „Gruppe von 1965“ stützt sich vor allem auf konservative Muslime vom Lande, von denen viele in den Golfstaaten gearbeitet haben und vom saudischen Wahabismus beeinflusst sind.

Bis der Staat wie eine überreife Frucht herabfällt

Diese Hardliner sind überzeugt, dass die Reformer die Bruderschaft schwächen, weil sie sie staatlichen Eingriffen und den Versuchungen des säkularen Liberalismus aussetzen. Deshalb setzen sie auf Abschottung und Geheimhaltung und vermeiden jede Provokation – in der Hoffnung, dass ihnen der Staat irgendwann wie eine überreife Frucht in den Schoß fällt. Das Ergebnis ist eine stillschweigende Machtaufteilung zwischen Mubarak und der Bruderschaft, hinter der sich ein gemeinsames Interesse verbirgt: Beide Seiten wollen, wenn auch aus unterschiedlichen Gründen, dass die Muslimbrüder als einzige Alternative zum aktuellen Regime wahrgenommen werden.

Wie stark die gemeinsamen Interessen sind, zeigt sich auch an der Zentrumspartei Hizb al-Wasat. Sie wurde 1996 von dem gemäßigten Islamisten Abdul-Ela Madi gegründet, der enge Verbindungen zu Linken, Nasseristen und Liberalen unterhält. Madi steht dem Reformflügel der Muslimbrüder nahe und verficht eine Art islamischen Konstitutionalismus, der islamische Traditionen mit dem liberalen Rechtsstaat in Einklang bringen will. Er hat sich von den Muslimbrüdern abgewendet, weil in seinen Augen Bruderschaft und NDP nur die zwei Gesichter der ägyptischen Krise sind. Deshalb gründete Madi eine Partei, die einerseits in islamischen Werten wurzelt, andererseits die Trennung von Politik und Religion bejaht und auch Kopten und Frauen aufnimmt. Aber das Experiment ist bislang nicht sehr erfolgreich, die Partei ist noch nicht zu Wahlen zugelassen.

Dabei ist die Zulassung zu Wahlen keine Garantie für politischen Einfluss. Keine der zwei Dutzend zugelassenen Oppositionsparteien hat eine nennenswerte Anhängerschaft – schon weil das Notstandsgesetz die Versammlungsfreiheit stark einschränkt. Rif’at al-Said, der Führer der linken Partei Tagummu, sieht in den ägyptischen Parteien lediglich „Gruppen von Individuen, die auf der Oberfläche der Gesellschaft treiben“ und mithelfen, die Illusion demokratischer Verfahren zu erzeugen.

Die Tagummu verfügt im Unterhaus über zwei von 454 Sitzen; sechs hat die 1983 gegründete Neue Wafd-Partei, die für einen konstitutionellen Liberalismus eintritt. Ihr Generalsekretär Munir Fakhri Abdel-Nur ist ein charmanter, kosmopolitischer Mann, der aus der Zeit vor der Nasser’schen Revolution zu stammen scheint, in der die Politik noch den Eliten vorbehalten war. Er will das System zwar öffnen, aber nicht zu sehr und zu schnell. Auf die Frage, ob das Verbot der Muslimbrüder aufgehoben werden soll, nippt er an seinem Tee und sagt nach einigem Zögern: „Das ist eine knifflige Frage. Ägypten ist ein Land, in dem es zwei Religionen gibt. Eine Islamische Republik Ägypten kann und wird es nie geben. Wir können keine muslimische Partei akzeptieren, die sagt, ein Kopte oder eine Frau darf hier nicht Präsident werden. Und ich lasse mich nicht von Leuten regieren, die sich einem malaysischen Muslim näher fühlen als einem christlichen Ägypter. In der Bruderschaft gibt es auch gute Leute, bei denen fragt man sich, warum sie nicht bei uns sind. Aber insgesamt traue ich ihnen nicht.“

Dieses in der Mittelklasse verbreitete Misstrauen erklärt auch, warum sich die Familie Mubarak so lange halten konnte. Ob die Toleranz der Mittelklasse sich auch auf den Präsidentensohn Gamal erstrecken wird, ist allerdings fraglich. Mubaraks Sprössling dürfte die einzige Person sein, die in Ägypten noch unbeliebter ist als der Vater. Der ehemalige Investmentbanker, der im Jahr 2000 zum Generalsekretär der NPD ernannt wurde, ist ein Symbol für alle Übel des Mubarakismus: technokratische Rezepte unter dem Einfluss multinationaler Konzerne, ökonomische Liberalisierung ohne politische Freiheiten und ein alles zersetzender Nepotismus. Zudem verletzt die Vorstellung einer politischen Dynastie den Nationalstolz der Ägypter, deren Land seit dem Sturz von König Faruk eine Republik ist.

Vater und Sohn Mubarak bestreiten, dass Gamal als der nächste Präsident aufgebaut werden soll. Dabei ist er auf Plakaten als das Gesicht des neuen Ägypten allgegenwärtig. Seit 2002 steht er an der Spitze des Politiksekretariats, das die Regierung berät und aus „liberalen Reformern“ sowie ein paar hundert dem Regime und der Familie Mubarak nahestehenden reichen Leuten besteht – weshalb es auch „Gamals Kabinett“ genannt wird.

Der überaus unbeliebte Präsidentensohn

Für die Nöte der Ägypter, die mehrheitlich von zwei Dollar am Tag leben müssen, zeigt der Präsidentensohn wenig Gespür. Gamals Leute reden immer gern von der notwendigen Demokratisierung, fügen dann aber schnell hinzu, dass die Voraussetzungen dafür noch nicht gegeben seien.

Was dem jungen Mubarak noch fehlt, ist die Unterstützung des Militärs. Die soll nun mit Hilfe der Gamal-freundlichen Unternehmerelite gewonnen werden, meint Ussama al-Ghazali Harb, der Gründer der Demokratischen Partei (DP). Er hat 2006 „Gamals Kabinett“ den Rücken gekehrt, weil er erkannt hatte, dass es nur als Vehikel für den Präsidentensohn diente. Al-Ghazali ist überzeugt, dass die Militärs Gamal, sobald sein Vater stirbt, „einfach ausschalten werden. Und glauben Sie mir: Husni Mubarak wird seinen Posten nicht mal eine Stunde vor seinem Tod räumen. Hier gibt es keinen Vizepräsidenten wie in den USA. Hier ist man entweder im Amt oder im Grab. Und fünf, sechs Minuten nach Mubaraks Tod werden die Panzer auffahren.“

Letztes Jahr wagte al-Ghazali Harb laut zu sagen, was viele Gamal-Gegner insgeheim denken: Wenn Mubarak stirbt oder zurücktritt, sollte die Armee die Macht übernehmen. Dann könnte man eine neue Verfassung verabschieden und nach zwei, drei Jahren zu einer Zivilregierung zurückkehren. Auf die Frage, wer eine solche Übergangsregierung führen soll, antwortet er ohne Zögern: „Omar Suleiman“.

Gemeint ist der Chef des ägyptischen Geheimdienstes, der sowohl Generalleutnant der Armee als auch Minister in Mubaraks Kabinett ist. Der zweitmächtigste Mann in Ägypten ist einer der fähigsten Spionagechefs im gesamten Nahen und Mittleren Osten und spielt eine Schlüsselrolle bei den Verhandlungen zwischen Israel und der Hamas. Omar Suleiman wurde 1935 in Oberägypten in ärmlichen Verhältnissen geboren. In den 1960er Jahren studierte er, wie Mubarak, an der Frunse-Militärakademie in Moskau, um in den 1980er Jahren, als Ägypten ins westliche Lager wechselte, seine Ausbildung an der JFK Special Warfare School in Fort Bragg (North Carolina) fortzusetzen.

Der Kampf gegen die radikalen Islamisten hat Suleiman und Mubarak zusammengeschweißt. Als die Limousine Mubaraks 1995 bei einem Staatsbesuch in Addis Abeba von Islamisten beschossen wurde, saß Suleiman neben ihm. Beide blieben unverletzt, weil der Geheimdienstchef auf einem gepanzerten Fahrzeug bestanden hatte. Seine Erfolge bei der Zerschlagung des Aufstands sowie seine Dossiers über die ägyptischen Dschihadisten, die bei al-Qaida eingestiegen sind, machten ihn nach dem 11. September 2001 zu einem wichtigen und nützlichen Partner der USA.

Suleiman ist ein eindrucksvoller Geheimdienstprofi, aber nichts, was er bislang gesagt oder getan hat, lässt irgendwelche reformerischen Ambitionen erkennen. Falls er überhaupt Mubaraks Nachfolger werden will. Anfang April soll er das noch von sich gewiesen haben. Seitdem setzen die Militärs auf den Exluftwaffenchef Ahmed Shafiq, der heute Minister für die zivile Luftfahrt ist.

Im Dezember 2009 waren die Reformer wie elektrisiert von der Aussicht, dass Mohammed al-Baradei als unabhängiger Präsidentschaftskandidat antreten könnte. Der frühere Vorsitzende der Internationalen Atomenergiebehörde (IAEO) kam 1942 in Kairo als Sohn eines liberalen Anwalts zur Welt, der sich als Präsident des ägyptischen Anwaltsverbands sowohl unter Nasser als auch unter Sadat für eine unabhängige Justiz einsetzte. Al-Baradei verbrachte den größten Teil seines Lebens im Westen. 2005 erhielt er für seine Arbeit bei der IAEO den Friedensnobelpreis.

Als IAEO-Chef hatte er sich wegen der Inspektionen im Irak und im Iran mit der Bush-Regierung angelegt. Schon deshalb genießt er in Ägypten großen Respekt. Als er im Februar nach Ende seiner dritten Amtszeit von Wien nach Kairo zurückkehrte, wurde er am Flughafen von tausend Anhängern begrüßt. Inzwischen hat er sich mit Vertretern der Opposition getroffen – von der Kifaya bis zu den Muslimbrüdern – und sich in Interviews hart über das politische Leben in Ägypten geäußert.

Warum viele Ägypter in al-Baradei ihren Retter sehen, ist unschwer zu begreifen: Er kommt von außen und ist nicht durch irgendwelche Kompromisse und Absprachen an die politischen Parteien gebunden. Über seine Ziele hat er nur sehr allgemein gesprochen: Wiederherstellung des Rechtsstaats, sozialer Schutz für die Armen, humanitäre Hilfe für Gaza. Der Journalist Issandr al-Amrani bezeichnet ihn deshalb als „Unpolitiker“. Doch der Unpolitiker reist herum und hält – unter Missachtung des Notstandsparagrafen – überall öffentliche Reden. Das Regime reagierte unter anderem damit, den Verleger einer wohlwollenden Al-Baradei-Biografie zu verhaften. Angegiftet wird al-Baradei auch von den offiziellen Oppositionsparteien und der regierungsnahen Presse, die den „eingeflogenen Kandidaten“ je nachdem als Marionette Washingtons oder Teherans bezeichnet.

Das Mubarak-Regime verfügt über viele Methoden, um al-Baradeis Kandidatur zu verhindern. Außerdem müsste er, um als unabhängiger Kandidat überhaupt antreten zu können, die Unterstützung von mindestens 250 Mitgliedern des Parlaments und kommunaler Räte gewinnen. Selbst wenn ihm das gelänge, kann das Regime die Wähler einschüchtern oder, da die richterliche Überwachung der Stimmabgabe und -auszählung abgeschafft wurde, die Wahlergebnisse manipulieren. Al-Baradei hat das Problem erkannt und erklärt, er werde nur antreten, wenn die Verfassung geändert wird. Zugleich fordert er eine internationale Überwachung der ägyptischen Wahlen. Das Mubarak diesen Forderungen nachkommt, ist allerdings kaum zu erwarten – es sei denn, Washington macht Druck.

Aus dem Englischen von Niels Kadritzke Adam Shatz ist Redakteur bei der London Review of Books. © London Review of Books, für die deutsche Übersetzung Le Monde diplomatique, Berlin.

Le Monde diplomatique vom 09.07.2010, von Adam Shatz