Hamas, Fatah und die Frauen
Ein Besuch im Gaza-Streifen von Wendy Kristianasen
Das politische Engagement der palästinensischen Frauen begann im Grunde während der ersten Intifada, die Ende 1987 ausbrach. Als sie erleben mussten, wie ihre Ehemänner und ihre Söhne getötet, verletzt oder verhaftet wurden, begannen sie eine Kampagne zum Boykott israelischer Produkte. In ihren Gärten und auf ihren winzigen Grundstücken nutzten sie jeden Zentimeter, um Beeren und Gemüse zu pflanzen oder Hühner und Ziegen zu halten.
Die Frauenorganisationen waren damals politisch fraktioniert. Jede Partei hatte ihre eigene Frauengruppe: die Fatah, die Kommunistische Partei, die Demokratische Front zur Befreiung Palästinas (DFLP) und die Volksfront zur Befreiung Palästinas (PFLP). Nur die Frauen der Hamas blieben zu Hause, ihre Organisation war auch nicht an der „vereinigten Führung“ der Intifada beteiligt.
Seitdem hat sich viel verändert. Soraida Hussein arbeitet für das Büro Ramallah des Frauenzentrums (Merkez al-ma’ra): „Seit dem Oslo-Abkommen von 1993 wollen wir am Aufbau eines palästinensischen Staats mitwirken und haben aufgehört, uns in unterschiedliche politische Gruppen zu spalten. Einige, die das Abkommen ablehnten, haben die Frauengruppen verlassen. Jetzt, wo die Hamas an der Macht ist, sollten wir neu darüber nachdenken, in welche Richtung es gehen soll – politisch und sozial.“
Man müsse einerseits auf die Wünsche der Menschen eingehen, meint Soraida, und das heiße, die Hamas zu unterstützen. Andererseits aber besteht sie darauf, „dass wir uns unsere Identität bewahren sollten. In meinem Falle heißt das: säkular bleiben. Am Anfang fühlte ich mich in eine Ecke gedrängt. Jetzt denke ich, dass wir mit der Hamas zusammenarbeiten können.“ Aber es gelte, die unterschiedlichen Ansichten immer ganz deutlich zu formulieren. Zum Beispiel wolle sie auf keinen Fall den Hidschab. Und sie will auch ihre Tochter davon abhalten, ihn zu tragen. Aber was ist, wenn sich das Mädchen doch für den Hidschab entscheidet? „Wenn das der Fall sein sollte, werde ich einen Weg finden müssen, mich für sie und ihre Entscheidung zu freuen. Daraus werde ich eine Menge für mich selbst lernen können.“
Was die Frauenbewegungen in Palästina im Unterschied zu anderen Ländern prägt, ist die Besatzung. Soraida sagt: „Hier in unserem Zentrum sprechen wir über die Rechte der Frauen, aber wir sprechen auch über die Checkpoints: über eine Gesellschaft unter Besatzung. Wir versuchen unseren unabhängigen Staat aufzubauen, aber wir versuchen auch – was sehr viel schwieriger ist – unsere Menschlichkeit zu bewahren. Und wir glauben, indem wir die Rechte anderer respektieren, verteidigen wir auch unser palästinensisches Haus von innen heraus. Wir müssen die Fenster aufstoßen und die Sonne hereinlassen, also Liebe, Menschlichkeit, Gesprächsbereitschaft.“
Die säkulare Parlamentsabgeordnete Khaleda Jarra meint: „Das Problem mit den säkularen Aktivisten ist, dass unsere Organisationen von oben herab mit den Frauen reden, über Workshops und Ausbildungsseminare. Anders als die Hamas haben wir keine organische Beziehung zu den einfachen Leuten. Über die Hälfte der Menschen, die im Januar für die Hamas gestimmt haben, waren Frauen. Und ihre weiblichen Mitglieder spielten im Wahlkampf eine große Rolle, allein schon dadurch, dass sie zu den Leuten nach Hause gegangen sind. Männer hätten das nicht tun können.“
Ich besuche die 49-jährige Jamila Shanty an ihrem Geburtsort, dem Flüchtlingslager Dschabalija in Gaza. Sie ist eine von drei Frauen, die für die Hamas im Palästinensischen Legislativrat (PLC) für den Gaza-Streifen sitzen, und stand hinter dem Premierminister und Scheich Abu-Teir aus Jerusalem an dritter Stelle auf der Hamas-Liste. Darauf ist sie stolz: „Ich bin eine palästinensische Frau, die das ganze Leid der Palästinenser kennt und selbst erlebt hat. Ich bin Zeit meines Lebens Flüchtling gewesen.“
Gelbe Fahnen für die Fatah, grüne für die Hamas
Jamilas Familie stammt aus al-Madschdal, einem Bauerndorf in der Nähe von Aschkalon. Sie hat nie geheiratet, was ungewöhnlich ist. Sie war zu sehr mit ihrer akademischen Karriere beschäftigt, mit ihrem Studium der Philosophie und der Psychologie, das sie in neun Jahren in Saudi-Arabien absolvierte. „Das wollte ich meiner Familie zurückgeben, meinen Eltern und meinen fünf jüngeren Geschwistern, die mich immer unterstützt haben. Vor allem meinem Vater wollte ich für seine Hilfe danken. Nach dem Studium fand ich einfach niemanden, der mir als Ehemann angemessen erschien. Männer gab es schon, aber keinen, der eine Frau mit beruflicher Karriere wollte.“
Jamila Shanty will, dass ihre Gesellschaft eines lernt: „Wir müssen endlich zwischen Religion und Tradition unterscheiden. Wir Frauen sollten unter dem schützenden Dach des Islam bleiben, aber wir sollten auch rausgehen, um zu arbeiten und selbst politisch werden. Vor zehn Jahren wäre so etwas hier in Gaza nicht möglich gewesen. Jetzt ist es möglich, und das liegt an der Hamas.“ Man brauche jetzt aber auch Reformen, vor allem im Erb- und im Scheidungsrecht: „Aufgrund der Macht der Traditionen werden den Frauen ihre Rechte vorenthalten. In der Hamas helfen wir den Frauen, sich zu behaupten, sich öffentlich bemerkbar zu machen. Wir werden die Frauen nicht im Stich lassen, wir werden sie auch nicht zwingen, den Schleier zu nehmen. Dies ist eine freie Gesellschaft.“
Eine andere Mitarbeiterin namens Maha macht für mich Frühstück. Sie ist ganz in Schwarz gekleidet und trägt einen Nikab, einen Gesichtsschleier, und Handschuhe. Ich muss zum Grenzübergang Erez zurück, um durch Israel hindurch nach Ramallah zu fahren. Wann immer der Name Erez fällt, wird Maha nervös: „Du hast eine weite Reise vor dir, du brauchst etwas zu essen.“ Jamila und ich bekommen frischen Weichkäse, Oliven, heißes Pittabrot und winzige Falafel. Dazu trinken wir süßen Minztee aus riesigen Gläsern. In den engen Straßen vor dem Haus sieht man schwarz gekleidete Frauen, einige von ihnen mit Nikabs, die zum Einkaufen gehen.
Auf allen Gebäuden wehen Fahnen: gelbe für die Fatah, grüne für die Hamas und, eher selten, rote für die Linken, dazu die großen schwarzen Fahnen des islamischen Dschihad. Von einer Moschee wehen die grüne und die gelbe Fahne, hier konkurrieren offenbar die Fatah und die Hamas. Die staubigen Sandwege, auf denen sich hoch bepackte Esel und Bauernkarren durch Horden von spielenden Kindern bewegen, führen zu einer notdürftig asphaltierten Straße. Die Mauer zwischen Israel und dem Gaza-Streifen windet sich rechts entlang der Straße, die ganze Strecke hindurch bis nach Erez.
Auf der palästinensischen Seite des Übergangs liegen große Betonklötze, in unregelmäßigen Abständen und Winkeln. Dazwischen überall Plastikteller und -becher, wie nach einem Picknick, und ein paar leere Kühltruhen, die ohne die Eiscreme, die sie vielleicht einmal enthielten, und ohne elektrischen Anschluss in der Gegend stehen.
Die palästinensischen Grenzbeamten, die meinen Pass kontrollieren, wünschen mir viel Glück. Ein junger Mann, Khaled, trägt meine Tasche über den langen Flur bis zu einem verschlossenen Eisentor. Er wartet mit mir, bis das Tor geöffnet wird. Khaled ist 24 Jahre alt und muss eine Familie ernähren. Sein Informatikstudium dauert noch ein Jahr, aber sein Geld geht langsam zur Neige. In Erez ist nicht viel Betrieb dieser Tage, es gibt also nicht viel zu verdienen. Als sich das Tor nach 15 Minuten öffnet, greift er plötzlich nach meiner Hand, um sie zu küssen.
Das Tor fällt hinter mir zu. Die paar hundert Meter zwischen den beiden Checkpoints waren früher eine offene Passage, gesäumt von Wachtürmen, auf der israelische Soldaten mit Maschinengewehren saßen. Doch nachdem der Übergang zum Ziel von palästinensischen Angriffen und Selbstmordattentätern geworden war, hat das israelische Verteidigungsministerium ein privates Sicherheitsunternehmen angeheuert. Heute ist der Übergang Erez eine von Betonmauern umschlossene Anlage wie ein enger, hoher Korridor. Wer hier durchgeht, bekommt keine Wachen oder Soldaten zu Gesicht, nicht ein einziges menschliches Wesen.
Ein versteckter Monitor sucht am Körper nach Bomben
Ab und zu ertönt aus dem Nichts eine körperlose Frauenstimme: „Ta’ali“ – beweg dich. Was würde geschehen, wenn ich es nicht verstanden hätte? „Ta’ali, ta’ali“, fordert die Stimme wieder. Ich komme zu einem Drehkreuz, das so eng ist, dass man selbst mit einer mittelgroßen Tasche Probleme bekommt. Dann stehe ich vor einem Förderband mit Durchleuchtungsschleuse wie bei einer Flughafenkontrolle. Meine Tasche läuft durch die Schleuse, während ich in eine runde transparente Kabine treten muss.
Die Tür schließt sich. Die Stimme gibt Anweisung, meine Füße auf die beiden weit auseinander liegenden gelben Markierungen zu stellen und meine Arme über den Kopf zu heben. „Nein, gehen sie zurück.“ Arme wieder nach oben, Beine wieder auseinander, während mich der versteckte Monitor erneut nach Bomben abcheckt. Und ein drittes Mal. Am Ende vom Gang liegt der israelische „Terminal“, der für „VIPs und Diplomaten“ ausgewiesen ist. Hier treffe ich wieder auf reale menschliche Wesen: zwei junge israelische Frauen, die ihren Militärdienst ableisten und meine Papiere freundlich lächelnd kontrollieren. Im Hintergrund ertönt ein Song von Don McLeans, „Bye bye Miss American Pie“.
Ich muss an Jamila Shanty denken, und an Laila El-Haddad, eine 28-jährige Journalistin, die in den USA studiert hat und heute mit ihrem zweijährigen Sohn Yousef in Gaza-Stadt lebt. Wenn sie nicht gerade bei ihrem Ehemann ist, der in den USA seine Arztausbildung abschließt, wohnt sie bei ihren Eltern, die beide ebenfalls Ärzte sind. Als Palästinenser aus dem Libanon wird ihr Mann nicht nach Gaza hereingelassen und sie nicht in den Libanon.
Laila sagt, sie sei zwar fromm, übertreibe es aber nicht. Sie trägt ein einfaches Kopftuch, dazu in der Regel Jeans. Ich habe sie im Haus ihrer Familie im bürgerlichen Viertel Rimal getroffen, wo sie mir erklärte, warum sie für die Hamas gestimmt hat: „Ich habe mich erst im letzten Moment dazu entschlossen. Es war eigentlich mehr eine Protestwahl gegen die Fatah, wie bei vielen Leuten.“ Laila hat einen englischen Blog im Internet. So steht sie mit Leuten aus aller Welt in Kontakt: „Auch mit vielen Israelis. Die hatten vorher keine Ahnung, wie das Leben hier in Gaza aussieht.“
Laila hat neulich in ihrem Blog über die Konfrontation zwischen Fatah und Hamas berichtet, über die gegenseitigen Vorwürfe und die Zusammenstöße an den Universitäten in Gaza. „Dieses Mal kam es hart auf hart, und 15 Menschen wurden durch Schlägereien, Steinwürfe und Molotowcocktails verletzt. Und in dem ganzen Irrsinn drängte sich ein einsamer Verkäufer durch die aufgebrachten Massen und verkaufte Limonade an die Steinewerfer. So was gibt es nur in Palästina. Meine Cousine witzelte, es fehle nur noch ein Kiosk mit T-Shirts und Mützen mit dem Slogan ‚Anti-Hamas-Proteste 2006: Ich war dabei‘ … Ich diskutierte mit meiner Cousine, wie das alles enden würde. Doch die meinte nur: ‚Die könnten nie einen Bürgerkrieg planen, sie sind einfach zu unfähig.‘ Und dann meinte sie, wir hätten uns einfach schon an das Leben ohne Gesetz und Ordnung gewöhnt. ‚Die Leute wollen einfach nicht, dass man ihnen was vorschreibt. Jeder will sich nur an seine eigenen Regeln halten.‘ Jetzt sind die Straßen wieder ruhig. Yousef schlummert sanft vor sich hin, und ich glaube, gerade ist der Strom wieder angesprungen. Dann werde ich jetzt wohl mein Buch zu Ende lesen.“
Auch andere Frauen aus Gaza richten sich eine eigene Normalität ein. Ich denke an die Happy Few von Gazas neureicher Elite, die auf der Terrasse des Al-Deira-Hotels sitzen und aufs Meer blicken. Und an die gestylten Mädchen in ihren Hidschabs, die zu arabischer Musik und den Explosionen israelischer Granaten ihre Wasserpfeife rauchen.
Aus dem Englischen von Elisabeth Wellershaus © Le Monde diplomatique, London Wendy Kristianasen betreut die englische Ausgabe von Le Monde diplomatique.