14.02.2014

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Zensoren und Schurken

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Meinungsfreiheit heißt, dass sie auch für Standpunkte gilt, die man missbilligt. Beeinträchtigungen des Grundrechts auf Meinungsfreiheit sind viel langlebiger als die Gründe, die sie rechtfertigen – oder als die Regierenden, die sich ihrer bedienten. Im Oktober 2001 herrschte nach den Anschlägen vom 11. September ein Klima der Angst. Einzig Senator Russell Feingold stimmte gegen den „Patriot Act“, ein Paket antifreiheitlicher Gesetze, die unter dem Vorwand des Kampfs gegen den Terrorismus vom US-Kongress verabschiedet wurden. Dreizehn Jahre und einen Präsidenten später sind diese Ausnahmebestimmungen immer noch geltendes Recht.

Man weiß, dass Innenminister sich mehr um Ordnung und Sicherheit sorgen als um Freiheit. Jede Bedrohung ermuntert sie, im Namen der verunsicherten und aufgebrachten Bevölkerung neue Repressionsmittel zu fordern. Im Januar wurden in Frankreich mehrere Veranstaltungen und Aufführungen präventiv als „Gefahr für den Respekt vor der Menschenwürde“ verboten. Innenminister Manuel Valls wetterte gegen die antisemitischen Tiraden des Komikers Dieudonné: Das sei „nicht mehr komisch“ und habe „nichts Kreatives“. Er schließe keine Maßnahme aus, „auch keine Gesetzesverschärfung“. Aber kann ein demokratischer Staat ohne Gruseln akzeptieren, dass sein oberster Polizeichef über Qualität, Humor und Kreativität entscheidet – oder über die Abwesenheit derselben?

Im Juli 1830 hob der französische König Karl X. per Erlass die Pressefreiheit auf. Einer der königlichen Gefolgsleute rechtfertigte die Wiedereinführung der Vorzensur anstelle des Prinzips gerichtlicher Klagen im Nachhinein mit folgenden Worten: „Wenn die Repression greift, ist der Schaden schon angerichtet; Strafe macht ihn nicht wieder gut, sie fügt ihm noch den Skandal hinzu.“ Am Tag nach dem königlichen Erlass erschienen die Zeitungen mithilfe einiger Tricks trotzdem ohne vorherige Genehmigung. Die Menschen stürzten sich darauf, lasen und kommentierten. Dann fegte die Revolution das Regime Karls’ X. in drei Tagen hinweg.

Fast zwei Jahrhunderte später haben die Aufmüpfigen, die Parias und die Bösewichte Zehntausende Followers auf Twitter; YouTube gestattet ihnen Versammlungen im Wohnzimmer abzuhalten, fröhlich plaudernd auf dem Sofa vor laufender Kamera. Wenn man bestimmte öffentliche Veranstaltungen und Versammlungen verbietet, weil sie „gegen die Menschenwürde verstoßen“, muss man dann auch die Verbreitung solcher Inhalte über soziale Netzwerke unter Strafe stellen? Dies wäre der sicherste Weg, Provokateuren einen Status als „Opfer des Systems“ zu verleihen – und ihren noch so paranoiden Anschuldigungen Nahrung zu geben.

Angesichts der jüngsten Initiative von Manuel Valls warnte der ehemalige sozialistische Minister Jack Lang in Le Monde vor einem „großen Rückschritt mit der Tendenz zu präventivem Handeln, wenn nicht gar zu moralischer Zensur, die über der Meinungsfreiheit steht“. Und gnädig fügte er hinzu: „Hier haben sich die besten Köpfe von ihren Gefühlen, von Wut und Empörung über eine Abscheulichkeit durcheinanderbringen lassen.“ Serge Halimi

Le Monde diplomatique vom 14.02.2014, von Serge Halimi