10.09.2010

Drei Mythen

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Drei Mythen

Was Wikileaks über das digitale Zeitalter lehrt von Christian Christensen

Mit der Veröffentlichung des „Afghan War Diary“, das mehrere zehntausend geheime US-Militärdokumente über den Alltag in Afghanistan allgemein zugänglich macht, hat die Internetplattform Wikileaks Ende Juli weltweit Aufsehen erregt. Auszüge wurden dem britischen Guardian, der New York Times und dem Spiegel vorab zur Verfügung gestellt und publiziert. In der sich anschließenden Debatte über den digitalen Journalismus und die Macht der sozialen Medien traten drei Mythen des digitalen Zeitalters zutage, die auf eine romantisch-deterministische Einstellung zu den modernen Kommunikationstechnologien zurückzuführen sind.

Mythos Nummer eins: Die sozialen Medien – vernetzte Plattformen, auf denen sich die User austauschen – verfügen über eine spezifische Macht. Die Frage, was der Fall Wikileaks über die Macht der sozialen Medien besagt, mag berechtigt sein. Sie offenbart aber die Tendenz, die sozialen Medien über einen Kamm zu scheren – ganz gleich, ob es sich um Blogs handelt, um Facebook, um YouTube oder eben um Wikileaks.

Doch die sozialen Medien sind alles andere als ein homogenes Ganzes. Die Social-Media-Kanäle bedienen sich zwar allesamt der gleichen technischen Voraussetzungen, viel mehr hat Wikileaks allerdings mit Twitter oder YouTube nicht gemein. Denn Wikileaks unterscheidet sich von den anderen Kanälen dadurch, dass das Material vor der Veröffentlichung redaktionell gesichtet und bewertet wird. Dies mag auf den ersten Blick als unbedeutendes Detail erscheinen, steht jedoch im Widerspruch zur technizistischen Utopie des „open common“ – der Vorstellung, jeder könne jedem jederzeit alles zugänglich machen.

Die Macht von Wikileaks beruht nicht auf den technischen Möglichkeiten – die haben Millionen anderer Webseiten auch. Das Kapital von Wikileaks ist vielmehr seine Glaubwürdigkeit: das Vertrauen der Leser in die Echtheit der geposteten Dokumente. Auf YouTube kursieren seit Monaten hunderte von Videos über den Irak oder Afghanistan. Zu sehen sind Situationen, in denen Soldaten der Koalitionstruppen kaum zu rechtfertigende oder schlicht illegale Angriffe durchführen.

Keiner dieser Clips zog so viel Aufmerksamkeit auf sich wie ein Video, das Wikileaks online gestellt hat: Mehrere Zivilisten, darunter zwei Reuters-Journalisten, werden in einem Stadtteil Bagdads von einem US-Kampfhubschrauber aus erschossen. Warum schlug gerade die Veröffentlichung dieses Videos derart ein? Vielleicht weil absolute Zugänglichkeit nur theoretisch attraktiv ist. In der Praxis haben Informationen nur dann einen Wert, wenn sie verbürgt sind. Wikileaks besitzt die dafür notwendige organisatorische und redaktionelle Struktur, die Twitter, Facebook, YouTube und den meisten Blogs hingegen aus naheliegenden Gründen fehlt. Die sozialen Medien sind also nicht gleich und sind auch nicht im gleichen Ausmaß in der Lage, Einfluss auszuüben.

Mythos Nummer zwei: Der traditionelle Nationalstaat löst sich allmählich auf. In vielen Hymnen auf das Internet klingt die Vorstellung an, dass wir künftig in einer Welt ohne nationalstaatliche Grenzen leben werden. So tönt es aus allen Ecken des Internets, so hallt es in den Foren und Blogs als unausgesprochene Prämisse des digitalen Daseins wider.

Das Gerede vom „Nationalstaat im Niedergang“ steht seit Jahren in akademischen Debatten hoch im Kurs. Doch die Ereignisse der letzten Wochen sollten uns aufhorchen lassen. Das Führungspersonal von Wikileaks jedenfalls ist sich offenbar bewusst, welche Bedeutung der Nationalstaat insbesondere in Sachen Rechtsprechung hat.

Der Medienexperte Jay Rosen von der New York University lässt zwar verlauten, Wikileaks sei „das erste Pressemedium, das sich jeder staatlichen Macht entzieht“. Wikileaks ist aber in Wirklichkeit territorial sehr gebunden. Nicht offiziell, wohl aber faktisch liegt die Zentrale von Wikileaks in Schweden. Das schwedische Recht gewährt umfassenden Quellenschutz, und Wikileaks profitiert davon – nicht ganz unwichtig, wenn es darum geht, Missstände aufzudecken. (Es gibt allerdings Zweifel, ob schwedisches Recht im Fall Wikileaks überhaupt greift und ob es die Organisation wirklich schützen kann).

Im Juni dieses Jahres vermeldete der New Yorker, Wikileaks sei unter dem schwedischen Provider ISP PeRiQuito (PRQ) zu Hause. Dort kommen die Dokumente an, die Wikileaks zur Verfügung gestellt und anschließend auf belgische Server weitergeleitet werden. Und warum ausgerechnet nach Belgien? Weil dort die zweitstrengsten Quellenschutzgesetze gelten. Island hat sich Wikileaks-Gründer Julian Assange ausgesucht, um das erwähnte Bagdad-Video der Öffentlichkeit zu präsentieren. Auch das war kein Zufall, denn in Island trat erst vor kurzem die Islandic Modern Media Initiative in Kraft. Dabei handelt es sich um ein Gesetzespaket, das eigens ersonnen wurde, um Island zu einer Zuflucht für investigative Journalisten und zu einer Hochburg der Meinungsfreiheit zu machen.

Es gibt aber neben Wikileaks noch weitere Beispiele dafür, dass Staaten mitsamt ihrer Gesetzgebung auch in der grenzenlosen Welt der Datenströme von Bedeutung bleiben. Vor kurzem erst haben die Vereinigten Arabischen Emirate und das Königreich Saudi-Arabien angekündigt, dass sie die Nachrichtenfunktion der Blackberry-Smartphones ab Oktober sperren werden. YouTube ist in der Türkei nach wie vor verboten, die Rechtsstreitigkeiten dauern an.

Wikileak wurde eigens so konzipiert, dass es sich – dank der digitalen Technik – gezielt über die rechtlichen Rahmenbedingungen bestimmter Länder hinwegsetzen und gleichzeitig die Gesetze anderer Länder zunutze machen kann. Wikileaks pickt sich gewissermaßen genau die Regeln heraus, die für den digitalen Enthüllungsjournalismus von Vorteil sind.

Mythos Nummer drei: Der traditionelle Journalismus ist am Ende. Die Berichte über das bevorstehende Ende des Journalismus sind maßlos übertrieben. Das Beispiel Wikileaks zeigt allerdings, dass wir uns angesichts der heutigen technischen Möglichkeiten klarmachen müssen, was „Journalismus im 21. Jahrhundert“ bedeuten soll. Der altehrwürdige Zeitungsjournalismus spielte bei der Veröffentlichung des „Afghan War Diary“ jedenfalls seine gewohnte Rolle: Er überprüfte Informationen, um sie anschließend zu verbreiten.

Aus gutem Grund hatte Wikileaks beschlossen, die Afghanistandokumente Wochen vor der Onlinepublikation drei etablierten Printmedien zur Verfügung zu stellen: dem Guardian, der New York Times und dem Spiegel. Hätte man die Dokumente direkt online gestellt, wäre die Resonanz ebenso überhastet wie chaotisch und ungenau ausgefallen. Das wussten die Wikileaks-Leute ganz genau.

Die erste Welle der Aufmerksamkeit galt daher den drei etablierten Medien. Diese haben zunächst viele der Dokumente analysiert und zusammengefasst. Die Rolle von Wikileaks ging dabei jedoch keineswegs unter. Das Gerede vom Ende des Journalismus ist genauso irreführend wie das vom Niedergang des Nationalstaats: In beiden Fällen geht es nicht Vernichtung, sondern nur um eine Verlagerung. Die erfolgreiche Verbreitung der Afghanistandokumente beweist doch gerade, dass der etablierte Journalismus nach wie vor von großem Nutzen ist. Nur hat sich die Rolle, die er für die öffentliche Meinungsbildung spielt, im Laufe der letzten zwei Jahrzehnte verschoben.

Der Chefredakteur der New York Times Bill Keller verweist darauf, dass das Weiße Hause Wikileaks wegen der Veröffentlichung der Afghanistandokumente scharf kritisiert hat, und erklärt weiter: „Dabei war jedoch keine Rede davon, dass wir in der New York Times nicht nicht darüber schreiben sollen. Ganz im Gegenteil. Vor der Veröffentlichung unserer Artikel haben wir Kontakt mit offiziellen Stellen aufgenommen. Zwar wurden manche unserer Schlussfolgerungen in Zweifel gezogen. Aber für die Umsicht, mit der wir vorgegangen sind, war man durchaus dankbar. Gleichzeitig wurden wir gebeten, Wikileaks dazu zu bewegen, Informationen zurückzuhalten, die Menschenleben kosten könnten. Diesem Wunsch sind wir nachgekommen.“

Was der Chefredakteur der angesehensten amerikanischen Tageszeitung hier offenlegt, ist aus zwei Gründen erstaunlich. Zum einen schwingt da eine Portion Stolz auf die Anerkennung und Dankbarkeit des Weißen Hauses mit – als ob es nicht die Aufgabe der Presse wäre, die Machthaber zu beobachten und zu kontrollieren. Zum anderen ist es einigermaßen seltsam, wenn die New York Times als Vermittlerin zwischen der US-Regierung und Wikileaks auftritt.

Der Mythos vom Ende des Journalismus beruht ebenso wie der Mythos von der Macht der sozialen Medien auf der Annahme, dass der ungefilterte Zugang zu Information automatisch demokratischen Wandel hervorbringt. Aber das ist eine ziemlich romantische Vorstellung, ähnlich wie die, dass Technologie per se Fortschritt und Freiheit bringt. Informationen und Technologien sind nur dann von Nutzen, wenn sie nutzbar gemacht werden. Dafür aber ist Know-how erforderlich und mediale Kompetenz.

Guardian, New York Times und Spiegel sind nicht deshalb für eine Vorabveröffentlichung der afghanischen Kriegstagebücher ausgewählt worden, weil sie mit Julian Assange und seinen Mitstreitern politisch auf einer Linie wären, sondern weil sie organisatorisch, ökonomisch und professionell stark genug sind, das Material zu sichten, zu bewerten und zu publizieren.

Die digitale Welt wird immer wieder als grenzenlos, ohne feste Hierarchien und voller fließender Übergänge beschrieben. Aber das ist höchstens die halbe Wahrheit. Denn es gibt auch im digitalen Zeitalter sehr wohl feste Strukturen und Staatsgrenzen, die den gesetzlichen Rahmen festlegen.

Aus dem Englischen von Jörg Dauscher Christian Christensen ist Dozent für Medien- und Kommunikationsforschung an der Universität Uppsala in Schweden.

Le Monde diplomatique vom 10.09.2010, von Christian Christensen