10.09.2010

Null Hunger

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Null Hunger

In Brasilien geht die Ära Lula zu Ende. Eine wirtschaftliche Bilanzvon Geisa Maria Rocha

Als das Wall Street Journal am 29. März 2010 rhetorisch fragte, was sich die Brasilianer von ihrem nächsten Präsidenten oder ihrer Präsidentin nach der Wahl im Oktober erwarten, war die Antwort für die Zeitung klar: „Dass sich nichts ändert!“ Dieser Wunsch kommt nicht ganz überraschend, und sei es nur, weil Menschen, die zuvor nichts zu beißen hatten, seit einigen Jahren Zugang zu vernünftiger Ernährung haben.

Im September 2003, noch im ersten Jahr seiner Amtszeit, hatte Präsident Luiz Inácio „Lula“ da Silva versprochen: „Bis zum Ende meiner Amtszeit soll kein Brasilianer mehr Hunger leiden.“

Politiker machen häufig übertriebene Versprechungen, doch die Fortschritte, die Lula in seiner Amtszeit erzielt hat, sind bedeutend. Nach offiziellen Statistiken konnten sich in den letzten sieben Jahren fast 20 Millionen Brasilianer (Gesamtbevölkerung: 190 Millionen) aus der Armut befreien. Allein das Programm „Fome Zero“ („Null Hunger“) ermöglichte – dank einer monatlichen Beihilfe von 18 bis 90 Euro – insbesondere indigenen Familien den Kauf von Grundnahrungsmitteln. Innerhalb der ersten Amtszeit Lulas ging die Zahl der unterernährten Kinder um 46 Prozent zurück. In der Region Nordeste, aus der der Präsident stammt und wo er den Hunger selbst kennengelernt hat, sank diese Zahl sogar um 74 Prozent. Im Mai 2010 verlieht das Welternährungsprogramm (WFP) der Vereinten Nationen Lula da Silva den Titel „Weltmeister im Kampf gegen den Hunger“.

Brasilien ist nach wie vor eines der Länder, in denen extreme Ungleichheit herrscht. Die hat sich jedoch leicht abgemildert: Zwischen 2003 und 2010 sind die Einkommen der ärmsten 10 Prozent der Bevölkerung um 8 Prozent pro Jahr gestiegen, viel schneller als die Wirtschaft und die Einkommen der reichsten 10 Prozent, die nur um 1,5 Prozent wuchsen. Zur unteren Mittelschicht, deren Haushaltseinkommen zwischen 1 065 und 4 951 Reais (467 bis 2 000 Euro) pro Monat beträgt, gehören inzwischen mehr als 50 Prozent der Bevölkerung, während es vorher nur 37 Prozent waren. Im Bildungsbereich unterstützt das Programm „ProUni“ Studenten aus armen Familien; die Dauer des Schulbesuchs hat sich zwischen 1995 und 2010 von durchschnittlich 6,1 Jahren auf 8,3 Jahre erhöht.

Während der beiden Amtszeiten des ehemaligen Gewerkschaftsführers wurden 14 Millionen Arbeitsplätze geschaffen, und der Mindestlohn stieg inflationsbereinigt um 53,6 Prozent. Von dieser Entwicklung profitieren nicht nur die zahlreichen Niedriglohnempfänger, sondern auch Rentner und von staatlicher Unterstützung abhängige Behinderte, deren Renten nach dem Mindestlohn berechnet werden. Die Erhöhung des Mindestlohns hatte auch Auswirkungen auf den Anteil der Arbeitseinkommen am Bruttoinlandsprodukt (BIP), der von 40 Prozent im Jahr 2000 auf 43,6 Prozent im Jahr 2009 gestiegen ist.

Die „Bolsa Família“ („Familienbeihilfe“) ist immer noch das Vorzeigeprogramm von Lulas Sozialpolitik. Mit ihr werden Familien unterstützt, die unterhalb der Armutsgrenze leben. Der Regierungsstatistik zufolge erhalten 12,4 Millionen Haushalte (das sind mehr als 40 Millionen Menschen) im Durchschnitt etwa 95 Reais (etwas mehr als 41 Euro) im Monat.

Was die Bilanz von Lulas Regierungszeit betrifft, so tauchen bei einigen Beobachtern allerdings erhebliche Zweifel auf. Um ihre kritische Sicht zu verstehen, muss man an den Ursprung des „Bolsa Família“-Programms zurückgehen.

Beliebt bei Armen und Reichen

Alles begann Ende der 1990er Jahre, mit Finanzkrisen und sozialen Unruhen. Die vom Internationalen Währungsfonds (IWF) vorgeschriebenen Maßnahmen zur strukturellen Anpassung und wirtschaftlichen Stabilisierung des Landes stürzten die Bevölkerung ins Elend. In ganz Lateinamerika hat sich die Zahl der Armen zwischen 1980 und 2001 nahezu verdoppelt: von 120 auf 220 Millionen Menschen. Nach Ansicht eines Experten der Weltbank war das nicht einfach Pech: Der Washington-Konsens der 1980er und 1990er Jahre habe „alle Aspekte der Gerechtigkeit ignoriert“ und versucht, „jede auf Umverteilung zielende Maßnahme auszuschließen“.1

Doch die wachsenden sozialen Missstände und die Kritik an den internationalen Finanzinstitutionen haben die Weltbank ziemlich schnell gezwungen, ihr Programm etwas aufzupolieren. Dabei versuchte man jedoch, die alten Strategien erneut zu legitimieren. Das Resultat war eine „Reform der zweiten Generation“.2 In diesem Sinne wurden im Weltentwicklungsbericht 2000/2001 der Weltbank flankierende Maßnahmen vorgeschlagen: „Sicherheitsnetze […] können die politische Akzeptanz von Stabilisierungsprozessen und Reformen unterstützen, indem sie Konflikte um die Verteilung der Ressourcen vermeiden, die zu Pattsituationen führen, Wirtschaftskrisen verstärken und sogar Regierungen zu Fall bringen können.“

Für die Weltbank war das eine neue politische Stoßrichtung. In Brasilien wurden ihre Empfehlungen ab April 2001 unter der Präsidentschaft von Fernando Henrique Cardoso (1995–2002) umgesetzt, als dieser Architekt der neoliberalen Reform die Programme „Bolsa Escola“, „Bolsa Alimentação“ und „Auxilio Gás“3 einführte.

Die spätere „Bolsa Família“ hat diese Vorläuferprogramme lediglich zusammengeführt und ausgeweitet. Dieses Programm sicherte Lula da Silva die Unterstützung der Ärmsten bei seinem großen Wahlerfolg im Jahr 2006. Und es hielt auch die Reichen nicht davon ab, mehrheitlich für seine zweite Amtszeit zu stimmen. Damit stellte sich in Lulas Regierungszeit ein Bündnis her, das – in den Worten des Wissenschaftlers Armando Boito jr. – „auf zunächst paradox erscheinende Weise die beiden Extreme der brasilianischen Gesellschaft miteinander verband“.4

Bei seinem Amtsantritt am 1. Januar 2003 erklärte Lula: „Unser Auftrag ist der Wandel.“ Dennoch führte er die makroökonomische Stabilisierungspolitik seines Vorgängers Cardoso fort, den er im Wahlkampf als „Henker der brasilianischen Wirtschaft“ bezeichnet hatte. Und obwohl er früher ein Schuldenmoratorium verlangt hatte, ging er später sogar über die Rückzahlungsforderungen des IWF hinaus. Dieser hatte für 2003 gefordert, Brasilien müsse einen Überschuss im Primärhaushalt5 von 3,75 Prozent erzielen, um seine Schulden abzahlen zu können. Lula sparte sogar noch mehr und kam auf einen Überschuss von 4,25 Prozent (8 Milliarden Reais oder 2,2 Milliarden Euro).

Mit diesem Sparkurs konnte die brasilianische Regierung zwar den Fängen des IWF entrinnen, jedoch nur, um sich den einheimischen Gläubigern auszuliefern. Diese finanzieren den Staat durch den Kauf von Staatsobligationen, für die sie die weltweit höchsten Zinssätze erhalten (10,25 Prozent im Juli 2010). 2009 gelangten auf diese Weise 5,4 Prozent des BIPs in die Taschen der Anleihenbesitzer – das ist dreizehnmal mehr, als die Regierung für ihre Sozialprogramme ausgibt.

Wie der Volkswirt Pierre Salama errechnet hat, ist „die Zahl der Personen, die mehr als eine Million Dollar Geldvermögen besitzen, zwischen 2006 und 2007 um 19,1 Prozent gestiegen“. Salama zieht für die Amtszeit Lula da Silvas folgende Bilanz: „Die Zahl der Armen ist gesunken; mehr als ein Drittel der Brasilianer verfügt über steigende Einkommen, aber für eine kleine Bevölkerungsschicht fiel das Einkommenswachstum noch sehr viel stärker aus.“ Dass die Ungleichheit abgenommen hat, habe nicht so sehr mit den Sozialleistungen zu tun als vielmehr mit „dem erneuten Aufschwung, der Art des Wachstums und deren Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt“6 . Wobei sich dieses Wachstum vor allem dem rasenden Tempo verdankt, mit dem die brasilianische Wirtschaft die Rohstoffe des Landes verzehrt.

Auch in der Steuerpolitik werden die Interessen der Reichsten und der Ärmsten unterschiedlich berücksichtigt. Im Februar 2009 erklärte Olivier de Schutter, der Sonderbeauftragte für das Recht auf Ernährung beim UN-Menschenrechtsrat: „Waren und Dienstleistungen werden sehr stark besteuert, Einkommen und Vermögen sehr gering. Familien, die ein Einkommen von weniger als zwei Mindestlöhnen haben, geben im Schnitt 46 Prozent ihrer Einkünfte für indirekte Steuern aus.“

Im Mai 2010 urteilte Moisés Naim, der ehemalige Chefredakteur der Zeitschrift Foreign Policy, in der spanischen Zeitung El País, Lula sei „einer der Präsidenten, die den Markt, den privaten Sektor und ausländische Investitionen in Brasilien am meisten begünstigt haben“. Einige Mitglieder oder Sympathisanten der brasilianischen Arbeiterpartei (PT) stehen dieser Einschätzung nicht sehr fern. In ihren Augen hat Lula nur an einer (wie der italienische Marxist Antonio Gramsci es nannte) „passiven Revolution“ mitgewirkt: an einer politischen Strategie der Bourgeoisie, die der Bedrohung ihrer Vorherrschaft dadurch zu begegnen sucht, dass sie ihre Gegner allmählich, aber kontinuierlich in das Machtgefüge integriert.

Selbst wenn Lula einen anderen Kurs hätte verfolgen können, drängten ihn viele Gegebenheiten des politischen Lebens in Brasilien unweigerlich in die eingeschlagene Richtung. Als er im Herbst 2002 gewählt wurde, verfügte die PT nur über 91 von 513 Parlamentssitzen. Daher musste er eine Koalition von neun Parteien bilden, also ziemlich unzuverlässige Bündnispartner ins Boot holen, die auf Vergünstigungen, Posten und öffentliche Gelder aus waren.

Dazu muss man wissen, dass in Brasilien durchschnittlich ein Drittel der Parlamentarier im Verlauf einer Amtszeit mindestens einmal die Partei wechselt7 und dass derzeit Gerichtsverfahren gegen 147 Abgeordnete und 21 der 81 Senatoren anhängig sind. Durch Korruption gehen Brasilien pro Jahr über 31 Milliarden Euro verloren, mehr als das Fünffache der Gesamtkosten des „Bolsa Família“-Programms. Korruption dieses Ausmaßes vergiftet die politische Atmosphäre und kann selbst moralisch stabile Charaktere in Versuchung führen.8

Nach seinem Wahlkampf 2002 hat Lula da Silva sein politisches Programm immer mehr auf die Mitte ausgerichtet. So ist es kein Zufall, dass die PT, in deren Reihen es zuvor keine Unternehmer, Landbesitzer und Bankiers gegeben hatte, den millionenschweren (und evangelikalen) Konzernchef José Alencar zu ihrem Vizepräsidenten machte. Lulas ehemaliger Kommunikationsberater Duda Mendonça meint heute, sein Klient sei an diesem Punkt seiner politischen Karriere „zu allen Kompromissen bereit“ gewesen, „um die Wahl zu gewinnen“.9

Den Brasilianern wird die Lula-Zeit als eine der glücklichsten Epochen der jüngeren Geschichte im Gedächtnis bleiben. Beweis: Eine Mehrheit wünscht sich heute, sie möge auch nach seinem Abschied fortdauern.

Fußnoten: 1 Nancy Birdsall, Augusto de la Torre und Felipe Valencia Caicedo, „The Washington Consensus: Assessing a Damaged Brand“, Working Paper, Nr. 213, Center for Global Development, Washington, Mai 2010. 2 Pedro-Pablo Kuczynski und John Williamson (Hg.), „Restarting Growth and Reform in Latin America“, Institute for International Economics, Washington, D. C., 2003. 3 Diese „Schulbeihilfe“ wurde armen Familien ausgezahlt, wenn ihre schulpflichtigen Kinder (zwischen sieben und vierzehn Jahren) am Unterricht teilnahmen. Die „Ernährungsbeihilfe“ unterstützte Familien mit kleinen Kindern und schwangere Frauen. Mit der „Gasbeihilfe“, einem Programm des Energie- und Bergbauministeriums, erhielten arme Familien je 15 Reais (6,50 Euro), um ihre Gasrechnung bezahlen zu können. Im Jahr 2002 bezogen 5,7 Millionen Familien diese Unterstützung. 4 „As relações de classe na nova fase do neoliberalismo no Brasil“, in: Gerardo Caetano (Hg.), „Sujetos sociales y nuevas formas de protesta en la historia reciente de América Latina“, Consejo latinoamericano de ciensas sociales, Buenos Aires 2006. 5 Differenz zwischen Staatsausgaben und -einnahmen vor dem Schuldendienst. Ist diese Bilanz positiv, kann der Staat beginnen, seine Schulden zurückzuzahlen. 6 Pierre Salama, „Lula a-t-il vraiment fait reculer la pauvreté?“, in: Alternatives Internationales, Sonderausgabe, Nr. 7, Paris, Dezember 2009. 7 Marc Saint-Upéry, „Le rêve de Bolivar“, Paris (La Découverte) 2007. 8 2005 wurde Lula durch einen schweren Fall von Korruption belastet, bei dem es um „mensalãos“, den Stimmenkauf von Parlamentariern, ging. 9 Richard Bourne, „Lula of Brazil: The Story So Far“, London (Zed Books) 2008.

Aus dem Französischen von Sabine Jainski

Geisa Maria Rocha ist Professorin am Rutgers Center for Latin American Studies (CLAS), New Brunswick, USA.

Le Monde diplomatique vom 10.09.2010, von Geisa Maria Rocha