10.09.2010

New Deal für Europa

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New Deal für Europa

von Stephan Schulmeister

Mit der großen Krise hat die langsame Implosion des „Finanzkapitalismus“ begonnen, der sich seit den 1970er Jahren im globalen Maßstab durchgesetzt hat. Diese Erscheinungsform der Marktwirtschaft ist dadurch gekennzeichnet, dass sich das Gewinnstreben zunehmend auf Finanzveranlagung und -spekulation konzentriert, während es sich im „Realkapitalismus“ der 1950er und 1960er Jahre nur in der Realwirtschaft „ausleben“ konnte.

Der bevorstehende Übergang von einem finanz- zu einem realkapitalistischen Regime ist durch massive ökonomische, soziale und politische „Verwerfungen“ gekennzeichnet. Das letzte Beispiel für eine solche „Transformationskrise“ war die Periode zwischen dem Börsenkrach von 1929 und dem Ende der 1940er Jahre. Damit stehen wir, ähnlich wie damals, an einer wirtschaftspolitischen Weggabelung.

In dieser Situation setzen die europäischen Eliten auf eine Sparpolitik (wie Reichskanzler Brüning 1930), während die US-Regierung die Krise eher durch eine expansive Strategie überwinden will (etwa wie Roosevelt ab 1932).

Der wichtigste Grund, warum sich der Krach von 1929 zu einer globalen Depression entwickelte, war die Dominanz der (neo)liberalen Wirtschaftstheorie, die den Politikern empfahl, die Arbeitslosigkeit durch Senkung von Löhnen und Arbeitslosengeld zu bekämpfen und die Staatsfinanzen durch Sparen zu konsolidieren. Beides führte zu einer „Schrumpfungsspirale“ bei Nachfrage und Produktion, die durch protektionistische Maßnahmen, also eine Sparpolitik auf Kosten des jeweiligen Auslands, noch verstärkt wurde.

Angesichts der verheerenden Folgen dieser Politik fiel die Lehre aus der Krise gründlich aus. Vor allem Keynes forderte, dass Löhne nicht nur als Kosten, sondern auch als Einkommen zu betrachten seien; in einer Krise sei daher die Kaufkraft zu stärken und nicht zu schwächen. Er bestand darauf, die Entwicklung der Gesamtwirtschaft aus der Interaktion ihrer Sektoren zu begreifen: Soll etwa der Budgetsaldo des Staates ausgeglichen sein, muss der Unternehmenssektor den Überschuss der Haushalte (ihr Sparen) in Form von Investitionskrediten übernehmen. Weiter forderte Keynes, die Finanzmärkte strikt zu regulieren und damit das Gewinnstreben auf realwirtschaftliche Aktivitäten zu lenken.

Auf Basis dieser Lehren wurde in den 1950er und 1960er Jahren die „realkapitalistische“ Wirtschaftsordnung entwickelt: Der Staat spielte eine aktive Rolle in der Konjunktur-, Wachstums-, Beschäftigungs- und Sozialpolitik, angestrebt war ein „Mix“ aus Markt und Staat (Soziale Marktwirtschaft), Unternehmerverbände und Gewerkschaften arbeiteten eng zusammen (Rheinischer Kapitalismus), die Gütermärkte wurden schrittweise liberalisiert, die Finanzmärkte blieben reguliert, die Notenbanken hielten den Zinssatz unter der Wachstumsrate, Wechselkurse und Rohstoffpreise waren stabil, die Aktienmärkte dämmerten vor sich hin.

Unter diesen Bedingungen konnte sich das Gewinnstreben, die kapitalistische „Kernenergie“, nur in der Realwirtschaft entfalten. Sie war die Basis für das deutsche „Wirtschaftswunder“: Schon Anfang der 1960er Jahre war die absolute Vollbeschäftigung bei stabilem Preisniveau erreicht. Die Staatsschuldenquote sank 20 Jahre lang, obwohl der Sozialstaat massiv ausgebaut wurde. Politökonomisch handelte es sich um ein Interessenbündnis von Realkapital und Arbeit, das gegen die Interessen des Finanzkapitals gerichtet war.

Mit bewundernswerter Hartnäckigkeit bereiteten in dieser Phase die „Außenseiter“ Friedman und Hayek die neoliberale Gegenoffensive vor. Die richtete sich vor allem gegen die Regulierung der Finanzmärkte, das System fester Wechselkurse und die für schädlich erklärte Vollbeschäftigungspolitik. Begünstigt wurde diese Offensive gegen Ende der 1960er Jahre paradoxerweise durch den Erfolg des „Realkapitalismus“: Die Vollbeschäftigung führte zu mehr Streiks, die Lohnquote stieg massiv, die Gewerkschaften forderten den Ausbau der Mitbestimmung, „links“ wurde schick auch unter Intellektuellen, die Sozialdemokratie war im Aufwind. Und seit 1970 begann die Umweltbewegung den Kapitalismus aus ökologischer Sicht in Frage zu stellen („Club of Rome“).

All dies verstörte die Unternehmer und die vermögende Klasse zutiefst. In ihrer Irritation wurden sie von den neoliberalen „Vordenkern“ gewissermaßen abgeholt, die „übermächtige Gewerkschaften“ und den „ausufernden Sozialstaat“ zum Hauptübel erklärte.

Die neoliberale Schule entwickelte eine Art Doppelstrategie: Mit ihren „wissenschaftlichen“ Empfehlungen schrieb sie Probleme herbei, die dann für die nächste Phase neoliberaler Propaganda instrumentalisiert wurden. Einige Beispiele mögen die Etappen dieser Entwicklung illustrieren.

1971 wird das System fester Wechselkurse aufgegeben, wie es Friedman und Hayek gefordert hatten. Daraufhin verliert der Dollar 25 Prozent an Wert; die Erdölexporteure reagieren 1973 mit dem ersten Ölpreisschock, die Inflation steigt, die Weltwirtschaft schlittert in eine Rezession, die Arbeitslosigkeit nimmt zu. Diese neue Konstellation interpretieren die neoliberalen „Vordenker“ als Widerlegung des Keynesianismus, der behauptet habe, mit höherer Inflation könne man niedrigere Arbeitslosigkeit erkaufen.

Vor dem großen Finale der neoliberalen Ära

Ein zweiter Schritt erfolgt in den 1980er Jahren: Die neoliberale Deregulierung der Finanzmärkte bringt unzählige Finanzinnovationen hervor (Derivate aller Art) und erleichtert die Spekulation, was nicht nur die Instabilität der Aktienkurse verstärkt, sondern auch Rohstoffpreise, Zinssätze und Wechselkurse in die Höhe treibt. Dies und das positive Zinswachstumsdifferenzial bringt immer mehr Konzerne dazu, sich in Finanzkapital zu veranlagen, statt in Realkapital zu investieren. Damit wird das Wirtschaftswachstum nachhaltig gebremst, während Arbeitslosigkeit und Staatsverschuldung ansteigen.

Daraus ergibt sich der nächste Schritt: Anfang der 1990er Jahre fordern die Eliten in Europa eine neoliberale Sparpolitik (kodifiziert in den Maastricht-Kriterien der EU). Dadurch wird der Konsum nachhaltig geschwächt, vor allem in den Ländern, in denen die Staatsquote am stärksten gesenkt wird (zum Beispiel Deutschland). Das Resultat sind hohe Arbeitslosigkeit und ein massiver Anstieg atypischer Beschäftigung. Das wiederum führt zu mehr Armut und belastet die Sozialhaushalte, was weitere Kürzungen zur Folge hat (Hartz IV). Diese „unvermeidliche“ Verschlankung des Sozialstaats wird zum schlagenden Argument für die Notwendigkeit privater Vorsorge.

Dies wiederum fördert die Expansion der Pensionsfonds, die sowohl den Aktienboom der 1990er Jahre nährt als auch den zweiten Boom, der Ende 2007 kollabiert. Die „strukturellen“ Gewinner sind die Profis im Finanzsektor, deren Chancen, ihr Geld „arbeiten“ zu lassen, sich binnen kurzem vervielfacht haben. Ihre Profite entspringen eben jenen Aktivitäten, die von den neoliberalen Vordenkern seit langem „wissenschaftlich“ legitimiert worden waren.

Dabei haben die meisten Unternehmen im Finanzkapitalismus ökonomisch weit schlechter abgeschnitten als im Realkapitalismus (nur Konzerne wie Siemens können als „Finanzkapitalisten“ agieren, Klein- und Mittelbetriebe nicht). Dagegen haben sie politisch durch die Schwächung von Gewerkschaften und Sozialstaat gewonnen.

Das ist der eine Hauptgrund, warum sich der Finanzkapitalismus als Bündnis von Finanz- und Realkapital – trotz mieser ökonomischer „Performance“ – gegen die Interessen der Arbeit gut behauptet hat. Der zweite Hauptgrund ist die wissenschaftliche Legitimierung des Neoliberalismus/Finanzkapitalismus durch Heerscharen von Ökonomen in Universitäten, Forschungsinstituten und Redaktionen.

Wohin das geführt hat, zeigt sich in der aktuellen Krise: Durch die Expansion des Finanzsektors sind seine wichtigsten Akteure so groß geworden, dass sie im Falle des Falles gerettet werden müssen. Aber die staatlichen „Rettungsmittel“ befähigen sie nur, ihre „Spiele“ erneut auszuweiten. Damit stehen wir vor der letzten Etappe, dem Finale furioso der neoliberalen Ära.

Über drei Jahrzehnte hat die Umsetzung der neoliberalen Empfehlungen nicht nur Arbeitslosigkeit, Staatsverschuldung und Armut anwachsen lassen, sondern zugleich auch das Potenzial für die große Krise aufgebaut. Die Entladung dieses „Potenzials“ seit 2007 hat diese Probleme verschärft, zu deren Bewältigung die Mainstream-Ökonomen nun jene Therapien einfordern, die gerade Teil der Krankheit sind: Senkung der Staatsausgaben, umfassende Privatisierung, Schonung der Finanzvermögen.

Deshalb liegt die schwierigste Phase der großen Krise nicht etwa hinter uns, sondern vor uns. Bei neuerlich sinkenden Aktienkursen, hoher Arbeitslosigkeit, leeren Staatskassen, EU-weiter Sparpolitik sowie instabilen Wechselkursen und Rohstoffpreisen werden Unternehmer, Haushalte, Ausland und Staat versuchen, vorsichtshalber ihre Ausgaben zu senken. Damit entziehen sie sich gegenseitig Einnahmen und verschlechtern die Lage für alle.

Diese Konstellation ist der Stoff, aus dem sich Depressionen entwickeln – und die Talsohle ist ja noch keinesfalls durchschritten. In einer solchen Situation muss der Staat der Realwirtschaft nachhaltige Impulse geben, gleichzeitig aber auch seine Finanzlage stabilisieren. Das erfordert einerseits eine expansive Gesamtstrategie, die Staatsverschuldung, Arbeitslosigkeit, Armut und Umweltbelastungen „im Ganzen“ bekämpft, und andererseits spürbare Konsolidierungsbeiträge der Vermögenden zur Finanzierung des Programms. Dafür sprechen allein schon makroökonomische Gründe: Die „Reichen“ kompensieren leichte Einkommenseinbußen mit einer Einschränkung ihres (enormen) Sparens, nicht ihres Konsums, wie es die ärmeren Schichten tun (müssen).

Generell gilt: Hartnäckige Wirtschaftskrisen können nur durch eine nachhaltige – wenn auch temporäre – Erhöhung der Staatsquote überwunden werden. Denn sie zeichnen sich ja gerade dadurch aus, dass die Nachfrage von Unternehmen, Haushalten und dem Ausland zurückgeht oder jedenfalls nicht so stark zunimmt, wie für einen Aufschwung nötig wäre. Nur wenn der Staat bereit ist, einzuspringen, ist die Krise ohne schwere gesamtwirtschaftliche Verluste zu bewältigen.

In Europa wird die Einsicht in diese Zusammenhänge durch den „neoliberalen Smog“ in den Köpfen der Eliten behindert. Wobei die meisten dieser Köpfe die Illusion haben, keinesfalls neoliberal zu denken. Davon zeugt etwa die übliche Rhetorik über das europäische Sozialmodell und die im Lissabon-Vertrag verankerten „sozialen Grundwerte“ oder das Gerede über „social coherence“ und „corporate social responsability“.

Dem ist mit Hegel entgegenzuhalten: „Die Wahrheit ist konkret.“ Die Maastricht-Kriterien, die Arbeitsmarktreformen, die Umstellung der Pensionssysteme, die Privatisierungen, die Senkung von Sozialleistungen mit dem Ziel, die „Anreize zur Arbeitslosigkeit“ zu mindern: All diese Maßnahmen sind an neoliberalen Leitlinien orientiert. Und nach dem neoliberalen Tina-Prinzip („There is no alternative“) soll das auch in Zukunft so bleiben.

Es sei denn, man setzt dem neoliberalen Credo einen „New Deal“ als konkretes Alternativkonzept entgegen. Dafür müssten andere, normative Fragen ins Zentrum der Politik rücken: In welcher Gesellschaft wollen wir leben? Auf welchen Wegen könnten wir dahin gelangen, und wie sollen die ersten Schritte aussehen? Die neoliberale Ideologie hat lange genug „die Wirtschaft“ zum Subjekt erhoben und den Menschen zu ihrem (sich selbst entfremdeten) Objekt degradiert. Es gilt, dieses Verhältnis vom Kopf auf die Füße zu stellen.

Um den Übergang zu realkapitalistischen Rahmenbedingungen zu fördern (und damit zu einem neuen Bündnis zwischen Realkapital und Arbeit), muss der „New Deal“ zum einen die Aktivitäten in der Realwirtschaft gegenüber der reinen „Finanz-Alchemie“ begünstigen, zum andern all die Aufgaben anpacken, die im neoliberalen Zeitalter systematisch vernachlässigt wurden.

Konzentration auf öffentliche Güter

Die Liste dieser vernachlässigten Aufgabenfelder ist lang, im Folgenden seien die wichtigsten genannt: Umweltschutz und insbesondere Kampf gegen den Klimawandel; Verbesserung der Infrastruktur durch öffentliche Investitionen; umfassende Investitionen ins Bildungssystem, vom Vorschulbereich bis zu den Universitäten; bessere Chancen für die Jungen am Arbeitsmarkt, insbesondere durch schrittweise Rückführung der Formen atypischer Beschäftigung; bessere und billigere Wohnmöglichkeiten für junge Menschen; Verbesserung der Lebenschancen von Menschen aus den Unterschichten, insbesondere auch bessere Integration von Personen mit Migrationshintergrund; gleichmäßigere Verteilung von Einkommen und Vermögen und damit Stärkung des sozialen Zusammenhalts.

All diese Aufgaben haben ein gemeinsames Hauptziel: die Verbesserung jener sozialen und ökologischen Bedingungen, die vom Markt systemisch vernachlässigt oder nicht hinreichend gewährleistet werden. Indem sich die Wirtschaftspolitik auf solche „öffentlichen Güter“ konzentriert, sorgt sie gleichzeitig für einen sinnvollen Einsatz der durch die große Krise freigesetzten Kapazitäten von Arbeit und Realkapital.

Das ist keine leichte Aufgabe. Mitten in einer schweren Krise mit bereits hohen Haushaltsdefiziten muss eine makroökonomisch effiziente Fiskalpolitik das Einkommen von den privaten Haushalten zum Staat umverteilen, und zwar so, dass die private Sparquote sinkt, nicht aber der Konsum. Gleichzeitig gilt es, kurzfristig-spekulative Aktivitäten auf den Finanzmärkten einzuschränken und langfristig-realwirtschaftliche Aktivitäten der Unternehmen zu fördern.

Daraus folgt: Die Maßnahmen des „New Deal“ müssen durch Beiträge der Besser- und Bestverdienenden und durch eine höhere Besteuerung von Finanztransaktionen und Finanzvermögen finanziert werden. Die einschlägigen Instrumente wären:

Einführung einer generellen Finanztransaktionssteuer; höhere Besteuerung von Finanzkapitalerträgen an der Quelle auf 35 Prozent; Abgabe auf die in Wertpapierdepots liegenden Finanzvermögen in Höhe von 1 Prozent; (temporäre) Erhöhung des Spitzensteuersatzes für Jahreseinkommen über 100 000 Euro; Einführung oder Erhöhung einer allgemeinen Vermögensteuer sowie der Erbschaftsteuer für Nettovermögen über 300 000 Euro.

Mit diesen Maßnahmen lassen sich die Einnahmen der öffentlichen Hand auf rasche und einfache Weise erheblich erhöhen – und damit die Chancen, zentrale Probleme wie Arbeitslosigkeit, Staatsverschuldung, Armut und Klimawandel gleichzeitig und nachhaltig zu bekämpfen.

Stephan Schulmeister ist Wirtschaftsforscher in Wien. Sein Buch „Mitten in der großen Krise: Ein ‚New Deal‘ für Europa“ erschien soeben im Picus Verlag. © Le Monde diplomatique, Berlin

Le Monde diplomatique vom 10.09.2010, von Stephan Schulmeister