10.09.2010

Brief aus Mexiko City

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Brief aus Mexiko City

von Juan Villoro

Zusammen mit Daniel Goñi Díaz, dem Präsidenten des mexikanischen Roten Kreuzes, besuchte ich das Hauptstadtkrankenhaus der Organisation. Es ist komplett renoviert worden. Mit berechtigtem Stolz zeigte Goñi Díaz mir die technische Ausstattung der OP-Räume und die blitzsauberen Krankenzimmer. Dann kamen wir durch einen Flur, auf dem es nur Einzelzimmer gab. Ein besonderer Luxus?

Der Präsident des Roten Kreuzes ist Notar von Beruf. Bis eben hatte er sich angehört, als rede er über Vertragsklauseln, denen man nur zustimmen kann. Jetzt sagte er in bedeutungsschwerem Ton: „Die Zimmer lassen sich besser überwachen.“ Damit meinte er nicht medizinische, sondern polizeiliche Aufsicht: „Hier liegen die Kriminellen. Wir haben die Pflicht, alle Menschen zu behandeln.“

Ich fragte ihn, was für ihn die größte Herausforderung gewesen sei. Die Schweinegrippe? „Das war falscher Alarm. Wir wussten sehr früh, dass da übertrieben wird. Mein Sohn ist Sportreiter und hatte einen Wettkampf in Veracruz. In der Nähe gab es die ersten Fälle. Ich habe ihm gesagt, er soll hinfahren. Unsere größte Herausforderung ist eine andere: Wir müssen dafür sorgen, dass die Verletzten in den Rettungswagen hier ankommen. Viele haben mit dem organisierten Verbrechen zu tun. Unsere Fahrzeuge werden angehalten, dann werden die Verletzten kaltgemacht.“

Einige hundert Kilometer entfernt, im Umland von Villa de Reyes, im Bundesstaat San Luis Potosí, erstreckt sich karges Land, in dem die Kojoten so selten wie Menschen sind. Die Jagd und die Auswanderung in die USA haben das Gebiet geleert. Hier und da erspäht man einen Weiler. In einem davon verbrachte ich die Karwoche. Ein Vetter von mir bemüht sich, eine verfallene Hacienda wiederherzurichten. Die nächtliche Stille im Dorf wird nur vom Heulen eines Hundes zerrissen. Diese Ruhe ging der Ankunft von drei schwarzen, mit Killern besetzten Geländewagen voraus. Sie entführten ein Mädchen, verprügelten einen Bauern, überfielen eine Tankstelle. Wir verrammelten das Tor und flohen am nächsten Morgen. Die Geländewagen sind noch dort, und mein Vetter konnte nicht wieder zurück.

Die Herren der mexikanischen Wüste sind beweglich. In einem Interview, das der Drogenboss Ismael „El Mayo“ Zambada dem Journalisten Julio Scherer García gewährte, sagt er: „Das karge Land ist mein Haus, meine Familie, mein Schutz, meine Heimat.“ Viermal war die Armee ihm knapp auf den Fersen, viermal ist er entkommen: „Ich bin über Land geflohen, dort kenne ich jeden Strauch, jedes Bachbett, jeden Stein, alles. Mich werden sie schnappen, wenn ich stillhalte oder nicht aufpasse.“ Damit sagt er mehr, als es den Anschein hat. Geschicklichkeit ist für seine Flucht nicht so entscheidend wie die Tatsache, dass er über ein riesiges Gebiet verfügt. Diese wüstenähnlichen Zonen bieten dem Drogenhandel vor allem einen Rückzugsraum und mannigfache Bewegungsmöglichkeiten.

Vor hundert Jahren durchstreiften Pancho Villas Reitertrupps einen Staat, in dem 80 Prozent der Bevölkerung auf dem Land lebten. Heute lebt derselbe Prozentsatz in der Stadt. Das Land ist, von einigen fruchtbaren Zonen abgesehen, zu einer Wüstenei geworden, in der kaum etwas angebaut wird. Der kollektive Landbesitz („el ejido“) verhindert jede private Investition. Die Verteilung von Agrarflächen nach der Revolution war vorwiegend eine demagogische Maßnahme, durch die Statistiken geschönt und ehemals produktive Einheiten zerschlagen wurden. Man zerstückelte das Land in unbrauchbare Parzellen, aus unterdrückten Landarbeitern wurden wehrlose Landeigentümer. Der Drogenhandel kann über ein leeres Land verfügen: Niemandsland, Hinterland, Nachschubgebiet. Auf der Welt mag es genug Mexikaner geben, im ländlichen Mexiko jedoch nicht.

Alles, was in der Wüste geschieht, ist Ausnahme. Jedes Vorkommnis ist hier entscheidend. In Zeiten von Technologie und Armut bieten entvölkerte Gegenden Raum für das globale Verbrechen, das am Computer geplant wird.

Kino, Musik, Literatur und Malerei waren bis in die Fünfzigerjahre des letzten Jahrhunderts hinein wie besessen von diesem Gebiet. Danach schwand das Ländliche aus der Vorstellungswelt. Die Landbevölkerung wanderte ab in die Städte oder in die Vereinigten Staaten. Nur wenige spürten, dass etwas sich veränderte im größten Versteck des amerikanischen Kontinents.

Laut Aussage von Leonardo Valdés, dem leitenden Vorstand der mexikanischen Wahlbehörde, ist die Einrichtung von Wahllokalen auf mindestens 15 Prozent des Staatsgebiets aus Sicherheitsgründen erschwert. Ein Landstrich am Rand staatlicher Souveränität.

Vor vier Jahren erklärte Präsident Felipe Calderón dem Drogenhandel den Krieg. Seither hat es, je nach Schätzung, zwischen 23 000 und 32 000 Tote gegeben. Das Problem war natürlich schon lange abzusehen. Aber die Lösung ist gescheitert. Wir saßen auf Dynamit, und Calderón hat Feuer an die Lunte gelegt, um das zu beweisen. „Der Krieg gegen die Drogen treibt im Endeffekt nur die Preise für Rauschgift in die Höhe, ohne dass die Nachfrage nennenswert sinkt“, meint Marcelo Bergman, der an der University of California in Rechtssoziologie promoviert hat.

Die finanziellen Strukturen der Drogenkartelle und die Unterwanderung hoher Regierungskreise funktionieren nach wie vor. Andererseits scheint die Bekämpfung selektiv zu erfolgen. Laut Edgardo Buscaglia, Berater der UN, trafen 28 Prozent aller Festnahmen das Drogenkartell der Beltrán-Leyva-Brüder und damit die wichtigsten Konkurrenten von „Chapo“ Guzman, der als mächtigster Drogenboss nur 1 Prozent der Festnahmen zu verschmerzen hatte (die restlichen 71 Prozent verteilten sich auf die übrigen Kartelle).

Als neue Eskalationsstufe der Gewalt trifft der Drogenterrorismus jetzt die Zivilbevölkerung: Ein Platz in Morelia wurde mit Granaten beschossen, bei einer Feier in Ciudad Juárez starben Kinder im Kugelhagel, in Monterrey wurden sämtliche Straßen blockiert, Internetnutzer in Mazatlán, Tampico, Cuernavaca und anderen Orten fanden Warnungen in ihren E-Mails.

Der Terror wird allgemein, zugleich werden wichtige Politiker gezielt als Opfer ausgewählt. Diego Fernández de Cevallos, der bei den Präsidentschaftswahlen 1994 für die konservative PAN (Partei Nationale Aktion) kandidierte, ist seit Mai entführt – möglicherweise von einer Guerillagruppe. In den letzten vier Monaten hat man neun Bürgermeister liquidiert, der Kandidat der PRI (Partei der Institutionellen Revolution) für den Gouverneursposten im Bundesstaat Tamaulipas, Rodolfo Torre Cantú, wurde im Juni ermordet.

David Konzevik ist Ökonom und besitzt die Gabe, Märkte zu verstehen, auch die noch größere Gabe, sie erklären zu können. Vor kurzem meinte er zu mir: „Mexikos vorrangiges Problem ist die Beschäftigung. Schlimm ist nicht, dass geregelte Arbeitsverhältnisse verloren gehen, sondern dass die Arbeitslosen Alternativen haben. Und zwar durchweg illegale.“ Handel mit Drogen, Waffen, Frauen, von dieser Art Alternativen spricht Konzevic. In diesem Kapitalismus ohne Copyright gedeiht neben den Monopolen, die sich jeder Besteuerung entziehen, das Piratentum.

Die zahlenstärkste Altersgruppe in Mexiko sind die Sechzehnjährigen. Sie wurden in der Euphorie des Jahres 1993 gezeugt, als wir uns anschickten, durch das Freihandelsabkommen mit den USA der Ersten Welt beizutreten. Geboren wurden sie 1994, als wir mit der Ermordung von Luis Donaldo Colosio (dem Präsidentschaftskandidaten der PRI) in Tijuana, dem Aufstand der Zapatisten und der Abwertung des Peso in die Realität zurückgekehrten. Welche Aussichten haben sie? Beruflich, schulisch, religiös oder sportlich gibt es nichts, was ein ähnlich starkes Gefühl von Zugehörigkeit zu bieten hätte wie das organisierte Verbrechen. Die Kartelle bieten eine Identität und einen gemeinsamen Kodex.

Die erstaunlichste Tatsache in der Schlacht gegen die Drogen ist, dass wir einige ihrer entscheidenden Protagonisten nicht kennen. Wir wissen wenig über die Armee und die dort herrschenden unterschiedlichen Auffassungen. Aber vor allem wissen wir gar nichts über die Vereinigten Staaten. Die DEA, die US-Behörde zur Drogenbekämpfung, hat die mexikanischen Drogenbosse berühmt gemacht. Dieser außenpolitischen Aktivität fehlt das innenpolitische Pendant. Der wichtigste Abnehmer von Drogen und Waffen operiert im Dunkeln. Mexiko liefert die Toten, das heißt, die Geschichten. Wo bleibt der andere Teil der Erzählung?

Das soziale Gefüge wiederherstellen – das kann nur über die Kultur geschehen. In Medellín und Bogotá haben zwei zu Bürgermeistern gewandelte Mathematiker, Fajardo und Mokus, begriffen, dass Bibliotheken Gewalt bekämpfen. Jugendliche in die Gesellschaft einzubinden, ist kostspieliger und langwieriger, als Waffen zu kaufen, aber auch anständiger. Was Mexiko retten wird, sind nicht Kugeln, sondern seine Menschen.

„Wissen Sie, wer am meisten für das Rote Kreuz spendet?“, fragte mich Daniel Goñi Díaz am Ende meines Besuchs und antwortete gleich selbst: „Die Armen.“ Die Vergessenen vergessen ihr Land nicht.

Aus dem Spanischen von Svenja Becker Juan Villoro ist Schriftsteller und Journalist in Mexiko City. Autor von unter anderem „Das Spiel der sieben Fehler“, München (DVA) 1997. © Le monde diplomatique, Berlin

Le Monde diplomatique vom 10.09.2010, von Juan Villoro