Verhinderte Friedensmacht
Die EU opfert ihre zivilen Stärken einer unrealistischen Militärpolitik von Tilman Evers
Mit tausenden von Soldaten samt schwerem Gerät ist die EU derzeit in Bosnien, im Kongo und demnächst auch im Libanon präsent. Handelt es sich tatsächlich um Militärmissionen, die potenziell einen Feind zu bekämpfen haben? Dann reichen weder Truppenzahl noch Bewaffnung. Oder geht es im Kern um die polizeiliche Aufgabe, den Ausbruch von Gewalt zu verhindern? Dann wären eine andere Doktrin, Schulung und Bewaffnung vonnöten.
Seit Jahren versucht die „Zivilmacht EU“, auch militärisch „glaubwürdig“ zu werden. Friedensgruppen warnen vor dieser Militarisierung; sie haben Recht, aber anders, als sie meinen: Das Ärgernis ist nicht, dass die EU zur Militärmacht werden könnte – das kann sie gar nicht –, sondern dass sie dafür Ressourcen vergeudet, statt entschieden ihre zivilen Stärken auszubauen.
Genau diese zivilen Stärken haben die EU zu einer wirtschaftlichen Weltmacht und zum Ordnungsfaktor in Europa gemacht. Aber in dem Maße, in dem die Union international an Gewicht gewann, wurde auch die traditionell-staatliche Idee wiederbelebt, der außenpolitische Einfluss müsse durch militärische Muskeln gestärkt werden. Das Gegenteil ist der Fall.
Die militärische Komponente der Europäischen Union hat sich in Reaktion auf die Kriege im zerfallenden Jugoslawien herausgebildet. 1999 beschloss die Union, ihre bereits in Maastricht vereinbarte Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik (Gasp) um eine Europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik (ESVP) zu erweitern und dafür zivile wie militärische Instrumente der Krisenreaktion bereitzustellen. Eine konzeptionelle Basis dafür wurde in Planungspapieren entwickelt, die in der „Europäischen Sicherheitsstrategie“ vom Dezember 2003 gipfelten. Sie räumt ein, dass keine der heutigen Konfliktursachen und Gefahren ausschließlich militärischer Natur seien, und bekennt sich zum Multilateralismus nach Maßgabe des Völkerrechts. Aber sie eröffnet der EU unter dem Begriff „friedenserzwingende Maßnahmen“ zugleich die Möglichkeit, weltweit militärisch zu intervenieren, und das auch ohne UN-Mandat. Ähnlich ambivalent liest sich der Entwurf eines europäischen Verfassungsvertrags von 2004: Er bekennt sich zwar zu Frieden, Demokratie und Menschenrechten, enthält aber auch eine Art Aufrüstungsverpflichtung für die Mitgliedstaaten.
Auch in der Praxis sind die militärischen Fähigkeiten weit stärker als die zivilen entwickelt. So sind dem Gasp-Sekretariat beim Ministerrat der EU derzeit 150 Militärexperten zugeordnet, während der Stab für zivile Krisenreaktion maximal 25 Personen umfasst, einschließlich des Leitungspersonals für Polizei-, Justiz- und Beobachtungsmissionen. Während heute in Bosnien, im Kongo und nun im Libanon 14 000 Mann stationiert sind, verfügen die laufenden Zivil- und Polizeimissionen in Bosnien und Mazedonien nur über 700 Kräfte. Das Verhältnis liegt also bei 20:1.
Noch 1999 beschloss die EU unter dem Eindruck ihrer Abhängigkeit von den USA im Kosovokrieg eine „Schnelle Eingreiftruppe“ von 60 000 Mann für ein breites Spektrum von „humanitären“ bis „friedenserzwingenden“ Maßnahmen. Doch diese Truppe existiert bislang nur auf dem Papier; sie wäre angesichts disparater Militärtraditionen, Waffensysteme und Befehlsstrukturen kaum einsatzfähig. 2004 folgte daraufhin der Beschluss, dreizehn „Battle Groups“ à 1 500 Mann für „friedenserzwingende“ Kampfeinsätze aufzustellen, die realistischerweise aus einzelstaatlichen Kampfverbänden oder bestehenden bi- oder trinationalen Eurocorps bestehen sollen.
Aber auch alle dreizehn künftigen Battle Groups zusammen machen mit knapp 20 000 Mann noch keine „Militärmacht“ aus; jedes Mitgliedsland (außer Luxemburg) hat mehr Truppen. Und wenn von militärischen Fähigkeiten der Union die Rede ist, dann handelt es sich um freiwillig abgestellte Kontingente der Mitgliedstaaten: Für jede Militärmission muss die EU sich die nötigen Truppen zusammenbetteln. Es geht also nicht um militärische Großmachtgeltung; die haben nur noch einzelne Mitgliedstaaten, nicht die Union.
Auch die enge Verzahnung mit der Nato sorgt dafür, dass die Europäische Union an größere Operationen kaum denken kann. Alle Schritte zum Ausbau ihrer „military capabilities“ müssen mühsam mit der Nato abgestimmt werden. Derzeit gilt der Kompromiss, dass die EU auf die Planungs- und Führungseinrichtungen der Nato zurückgreifen kann, aber auf ein eigenes Planungszentrum verzichtet; zugestanden ist ihr eine „Civil-Military Cell“ zur Koordinierung der militärischen mit zivilen Aspekten künftiger EU-Missionen. Damit bleibt die Nato das einzig relevante Militärbündnis in Europa, das darüber mit entscheidet, wozu und wie die EU ihre Militärkräfte einsetzt.
Warum also das Odium der Gewaltdrohung auf sich nehmen, wenn so wenig Realität dahinter steht? Man ahnt den Grund: Auch wenn die Battle Groups die Europäische Union nicht zur Militärmacht machen, so können sie doch wirkungsvoll etwa in einen afrikanischen Bürgerkrieg eingreifen. Die Union positioniert sich, mit aller Ambivalenz, als militärischer Weltpolizist, alternativ und konkurrierend zu den USA, mit besonderen Interessen im nahen geografischen Umfeld und in Afrika.
Was ist also gewollt: Militär oder Polizei? So richtig es ist, dass manche Privatmilizen allein durch gutes Zureden nicht zu entwaffnen sind, so richtig ist auch, dass sich keiner der vielen Gewaltkonflikte militärisch lösen lässt. Die Millionen von Kleinwaffen in aller Welt sind nur mit politisch-sozialen Mitteln zu neutralisieren, die Hisbollah kann nur auf politischem Wege eingebunden werden, das Zerstörungspotenzial des Terrorismus lässt sich nur politisch minimieren. Um in diesem Sinne politisch zu wirken, müsste die EU konsequent beim polizeinahen Blauhelm-Modell bleiben, statt durch eigenes Militärgebaren die Gewaltlogik noch zu verstärken.
Statt in anachronistische Muster des überholten Nationalstaats zu verfallen, sollte die EU ihren weltweiten Einfluss als Zivilmacht stärken, indem sie ihre bewaffneten Kräfte als Völkerrechtspolizei unter dem Dach der zu reformierenden UN aufstellt. Der Unterschied läge nicht nur bei der Bewaffnung und den Entscheidungswegen, sondern vor allem im Denkansatz: nicht militärische Interessenerzwingung, sondern zivile Rechtsdurchsetzung im Rahmen politischer Lösungen mit diplomatischen Mitteln. Mit einem solchen Neuansatz könnte die EU sich weltpolitisch aufwerten, auch gegenüber den USA. „Humanitäre Interventionen“ ließen sich glaubwürdiger von westlicher Interessenpolitik abgrenzen. Und im drohenden Konflikt zwischen westlicher und islamischer Welt könnte die EU glaubwürdiger vermitteln.
Natürlich ist das bestehende Völkerrecht keineswegs ideal, man denke nur an die skandalöse Interessenpolitik der Großmächte im Sicherheitsrat, an der die EU-Mitglieder Frankreich und Großbritannien mitwirken. Aber diesem Völkerrecht entgeht die EU ohnehin nicht: Da die ESVP einstimmige Entscheidungen erfordert, ist eine EU-Mission ohne Mandat der UN undenkbar; es genügt, dass ein einziges Mitgliedsland ein solches Mandat fordert.
„Wir sind der Weiterentwicklung des Völkerrechts verpflichtet“, heißt es in der Sicherheitsstrategie der EU. Das wäre überzeugender, wenn man sich zu allererst an Geist und Buchstaben des Völkerrechts halten würde. Nur eine EU, die sich ohne Wenn und Aber der Autorität des Sicherheitsrats unterstellt, kann die Erweiterung und Reform dieses wichtigsten UN-Organs fordern. Warum also hält sich die EU das Hintertürchen offen, dass sie auch ohne UN-Mandat losschlagen könnte?
Die sicherste Gewähr gegen europäischen Militarismus liegt in den institutionellen Selbsthemmnissen der EU. Bisher haben die Mitgliedstaaten relevante Souveränitätsanteile nur im Bereich von Wirtschaft, Handel und Finanzen an die EU übertragen. Sachwalter dieser „gepoolten“ Wirtschaftssouveränität ist die Europäische Kommission, und nur sie hat den entsprechend großen Stab, ein Milliardenbudget und politische Handlungsfähigkeit nach außen. Dagegen haben bei der Gasp weiterhin die Mitgliedstaaten das Sagen. Entscheidungen erfordern hier noch immer den Konsens aller Mitgliedsländer bzw. große Mehrheiten. Was als Gemeinsame Außenpolitik erscheint, ist eine mühsame Dauerkoordination zwischen 25 Hauptstädten.
Die EU-Außenpolitik hat zwei Köpfe
Andererseits wurde eigens für Belange der Gasp beim Rat ein Sekretariat mit kleinem Stab und Budget geschaffen. Dieses Sekretariat mit seinen Untergremien hat unter Javier Solana als „Mister Gasp“ eine Eigendynamik entfaltet. Die Außenpolitik der EU hat also zwei Köpfe: Für die sozioökonomischen Bereiche die Kommission, für die Sicherheitspolitik den Rat. Beide Institutionen funktionieren nach unterschiedlicher Logik, so als gehörten sie verschiedenen, ja konkurrierenden Organisationen an. Eine kohärente EU-Außenpolitik, bei der wirtschaftliche und politische Instrumente ineinandergreifen, ist so kaum möglich.
Das gilt auch für die entstehenden „military capabilities“: An ihnen sind zu viele Gulliver-Fäden einzelstaatlicher Eifersucht befestigt, als dass sie ohne einen mühsam auszuhandelnden Konsens auf kleinstem Nenner einsetzbar wären. In diesem Filter bleibt auf absehbare Zukunft alles hängen, was über einen (allenfalls „robusten“) Blauhelmeinsatz hinausgeht.
Die institutionelle Machtblockade hemmt aber nicht nur den Ausbau der militärischen, sondern auch der zivilen Instrumente. Hier stellen die Einzelstaaten der EU bislang nur einige Polizeikräfte, kaum aber die dringend benötigten Experten für Justiz und Verwaltung, Menschenrechte und Zivilschutz ab. Weil der Ministerrat für Fragen der Sicherheit, nicht aber für Strukturpolitik zuständig ist, darf er erst tätig werden, wenn eine Krise bereits ausgebrochen ist. Für Prävention und Nachsorge ist dagegen die Kommission zuständig.
Die neuesten Entwicklungen bestätigen die gegensätzlichen Tendenzen. In Abstimmung mit den europäischen Netzwerken zivilgesellschaftlicher Konfliktbearbeitung hat die Kommission die Grundzüge einer „Peacebuilding Partnership“ beschlossen. Gegenüber dem Europäischen Parlament kündigte die Außenkommissarin Ferrero-Waldner an, man wolle die operative Fähigkeit für zivile Missionen ausbauen und dabei auch mit nichtstaatlichen Netzwerken zusammenarbeiten, die in fast allen Krisenregionen über vorzügliche Kenntnisse und Zugänge verfügen. Zudem hat die Kommission ein mit zwei Milliarden Euro dotiertes „Stabilitätsinstrument“ geschaffen, das vielfältige Hilfsmaßnahmen bei Krisen oder Naturkatastrophen vorsieht.
Ganz anders die Entwicklung im Rat. Generalsekretär Solana hat dem Ratspräsidenten seine Absicht mitgeteilt, alle Abteilungen für militärisches wie ziviles Krisenmanagement im Gasp-Sekretariat künftig dem militärischen Stab zu unterstellen. Auch über rein zivile Aktivitäten wie Polizeihilfe oder Rechtspflege würden somit Militärs befinden. Die Begründung klingt rein pragmatisch: Im Sekretariat gebe es weitaus mehr militärisches Personal, dem es oft an sinnvollen Aufgaben fehle, während die wenigen Zivilisten chronisch überlastet seien! Das zeigt, dass man die Unterschiede zwischen militärischen und zivilen Denkwelten entweder nicht kennt oder bewusst ignoriert. Bekannt ist, dass Großbritannien und besonders Frankreich die Militarisierung der ESVP vorantreiben. Beide Länder haben durchgesetzt, dass der Leiter der „Civil-Military Cell“ ein Militär ist und nur sein Stellvertreter ein Zivilist.
Im Gefüge der EU lagen die operativen Funktionen bislang ganz überwiegend bei der Kommission; die sichtbare Tendenz, dass sich das Sekretariat des Rats zum zweiten operativen Zentrum neben und gegen die Kommission entwickelt, vermehrt die Inkohärenz, statt sie zu mindern. Hier sind auch machtpolitische Ambitionen im Spiel: Für die Leitung künftiger Missionen möchte Solana im Regelfall einen Beamten seines Stabs nominieren; das würde den Einfluss der Mitgliedsländer mindern, die bisher über diese Besetzung mit entschieden haben. Und entgegen früheren Beschlüssen, wonach die Kommission beim Entwurf von Konzepten und Länderstrategien zu beteiligen ist, soll dafür nun Solanas Sekretariat allein zuständig sein.
Allerdings gibt es auch innerhalb des Rats unterschiedliche Bestrebungen. So will die finnische Präsidentschaft im zweiten Halbjahr 2006 die zivilen Aspekte der Konfliktbearbeitung voranbringen und lässt dazu die Möglichkeiten einer verstärkten Zusammenarbeit mit der Zivilgesellschaft prüfen; erwartet wird, dass die deutsche Präsidentschaft ab 2007 dieses Ansatz fortführt. Das Sekretariat meidet dagegen weiterhin die Zusammenarbeit mit nichtstaatlichen Akteuren.
Europa hat einen unvergleichlichen Reichtum an Erfahrungen und Ressourcen der nichtmilitärischen Konfliktbewältigung. Gerade vor dem Hintergrund der Vergangenheit ist die europäische Integration eines der erfolgreichsten Friedensprojekte der Weltgeschichte. Die dabei entwickelten Strukturen geteilter Souveränität sind weltweit einmalig und friedenspolitisch wegweisend. Die in der EU erprobten Verhandlungssysteme haben zu Stabilität und Wohlstand beigetragen. Ein Global Player ist die EU dank ihrer zivilen und nicht ihrer militärischen Mittel; nur hier liegen ihre Vorteile gegenüber der Militärmacht der USA und anderen geopolitischen Akteuren. Warum also sollte der zivile Riese ein militärischer Zwerg werden wollen?
Und noch etwas gilt es zu beachten: Schon jetzt unterliegt die EU-Militärpolitik keiner parlamentarischen Kontrolle. Ihr weiterer Ausbau würde das Demokratiedefizit der Europäischen Union noch verstärken, und damit die Skepsis ihrer Bürger. „Die EU sollte Demokratie nicht anderswo erzwingen, sondern bei sich verwirklichen“, schreibt der Friedensforscher Johan Galtung. Eine bewaffnete Völkerrechtspolizei ließe sich demokratie- und gemeinschaftsverträglich gestalten; militärische Kulissen nicht. Eine weitere Militarisierung würde den Machtetatismus in die Union hineintragen und damit deren Risse vertiefen, ohne den außenpolitischen Einfluss Europas zu stärken.
© Le Monde diplomatique, Berlin Tilman Evers ist Privatdozent für Politische Wissenschaft an der Freien Universität Berlin.