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Welthunger und Profitdurst
„Zum ersten Mal in der Geschichte sind es mehr als eine Milliarde Menschen, die jeden Abend mit hungrigem Bauch ins Bett gehen müssen.“ Das Fazit des Weltbankpräsidenten Robert Zoellick ist niederschmetternd. Nach einem deutlichen Rückgang im letzten Jahrzehnt haben seit 2008 Armut und Unterernährung weltweit wieder zugenommen. Allein für 2010 rechnen die Experten der Weltbank mit weiteren 64 Millionen Menschen, die von extremer Armut betroffen sein werden.
Bilder tauchen wieder auf – wie von den Hungeraufständen in Mosambik von Anfang September –, die man für immer in den Speicher der (schlechten) Erinnerungen verbannt glaubte. Derweil bilanziert die Konferenz der Vereinten Nationen für Handel und Entwicklung (Unctad) in ihrem Jahresbericht für 2010 nüchtern und geradezu verharmlosend: „Die Ernährungssicherheit bleibt in vielen Entwicklungsländern ein drängendes Problem.“
Umwelteinflüsse verstärken das Ungleichgewicht. Der Monsun in Indien und die Überschwemmungen in Pakistan haben die Reis- und Tee-Ernte vernichtet; die Preise stiegen innerhalb weniger Monate um mehr als ein Drittel. Und in Russland haben die Brände vom August so viele Getreidefelder zerstört, dass die diesjährige Ernte sehr viel geringer ausfällt. Zudem konnten die Landwirte in diesem Herbst viel weniger Winterweizen aussäen als normalerweise. Das nächste wird also auch ein mageres Jahr.
Der gegenwärtige Preisanstieg hat jedoch nur zu einem kleineren Teil sogenannte natürliche Ursachen, sondern wird maßgeblich durch Spekulanten beschleunigt. Großanleger – von den Zentralbanken (fast) umsonst mit hoher Liquidität versorgt – haben den Rohstoffsektor als neues Anlagefeld entdeckt. Nachdem sie den seit 2007 zusammenbrechenden Immobilienmarkt verlassen haben, setzen sie auf Grunderzeugnisse wie Kupfer, Zink oder Aluminium und wenden sich den Termingeschäften mit Agrarprodukten zu.
Mitte September kaufte der Londoner Hedgefonds Amajaro ein Viertel des europäischen Kakaovorrats auf. Ein paar Tage später brach der Kakaopreis alle Rekorde. Dasselbe passierte mit den Getreide-, Reis- und Sojapreisen. In den europäischen Hauptstädten war man alarmiert. Manche forderten sogar Regulierungen, wie beim Beinahezusammenbruch des globalen Finanzsystems vor zwei Jahren. Seitdem hat sich trotzdem nichts geändert.
Für die Entwicklungsländer sind die Folgen, die die Spekulationen hervorrufen, umso verheerender, als der Internationale Währungsfonds und die Weltbank ihnen bisher immer geraten haben, sich ausländischen Märkten stärker zu öffnen und lokale Anbauweisen aufzugeben. Immerhin erkennt die Unctad inzwischen, dass „eine dauerhafte Wachstumsstrategie mehr Aufmerksamkeit für die Binnennachfrage verlangt“, und appelliert an ihre Mitgliedsländer, „das Paradigma einer exportabhängigen Entwicklung zu überprüfen“. Besser spät als nie. Doch bislang ist es über solcherlei Beschwörungsformeln noch nicht hinausgegangen, die nur die Illusionen nähren, aber nicht den Hunger auf der Welt stillen.
Martine Bulard