08.10.2010

Der ganze Planet eine Technosphäre

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Der ganze Planet eine Technosphäre

Rationalismus und Romantik des Internets von Peter Glaser

Wer online ist, nimmt teil an dem größten kulturellen, ökonomischen und sozialen Experiment des 21. Jahrhunderts. Durch das Internet werden Begrenzungen und Wände, die uns umgeben, zunehmend porös und durchlässig. Der Begriff des Privaten changiert; immer mehr vormals Privates wird öffentlich gemacht. Private Schnappschüsse, die früher in Schuhkartons im Wohnzimmerschrank vergilbten, werden auf Flickr vor den Augen der Welt ausgebreitet. Was bisher auf den Dachböden und Kellern des Planeten verborgen war, lässt sich auf Ebay durchwühlen. Wer einen interessanten Text gelesen hat, kann über Twitter und Facebook ein transnationales Publikum umgehend darauf verweisen.

Vormals abgeschirmte Bereiche weichen einer lichtdurchfluteten Transparenz, in der sich eine Gesellschaft sonnt – oder blinzelnd wiederfindet –, der die Lust am Geheimnis abhandengekommen zu sein scheint. „Sharism“ nennt sich der netzgetriebene Gesellschaftswandel und das bemerkenswert gesteigerte Bedürfnis, Dinge mit anderen zu teilen (to share). Millionen emsiger Zuträger verwandelten Internetprojekte wie Wikipedia, YouTube, Facebook, das Betriebssystem Linux und eine Vielzahl weiterer Angebote mit ihren freiwilligen Beiträgen in digitale Schlaraffenländer. Was zuvor in der Hand einiger weniger lag – von Softwarekonzernen, Lexikonredaktionen, Fotoagenturen, Major Labels –, wird nun von den vielen selbst bestückt. Vier Milliarden Fotos warten auf Flickr, 200 Millionen Clips auf YouTube, 15,5 Millionen Artikel in Wikipedia. Die vormals passiven Medienkonsumenten sind durch das Netz aktiv wie Ameisen geworden – oft freiwillig und mit erstaunlichem Enthusiasmus. Warum?

Weil es möglich ist. Weil einem der Computer die Möglichkeit gibt, etwas zu tun. Weil man im Netz endlich nicht mehr nur laut/leise oder hell/dunkel justieren kann, wie an einem Fernseher. War das Netz in den Neunzigerjahren zu so etwas wie der längsten Schaufensterfront des Planeten geworden, gesellten sich den statischen Websites zunehmend veränderliche Angebote hinzu – Blogs, Wikis, soziale Netze. Der Hauptspaß im Netz besteht darin, sich selbst in die Welt hinauszuschütten und von durstigen, aufmerksamen Augen getrunken zu werden. „Ausbreiten“ bedeutet das lateinische Wort „expandere“, aus seiner Partizipform „expasso“ ist unser „Spaß“ hervorgegangen. Etwas breitet sich aus. Jeder sendet und empfängt nun ganz selbstverständlich.

Im Internet lassen sich nun mit derselben Freude Dinge produzieren und mit anderen teilen, mit der man zuvor konsumiert hat. Gemeinschaftsgefühl hat einen Rang, der nach wie vor unterschätzt wird. Das eigentliche Produkt des bemannten Raumfahrtprogramms, das 1969 in der ersten Mondlandung gipfelte, war kein Erkenntnisgewinn über Mondgestein, sondern jene Gewissheit, die Millionen von Menschen vor Radios und Fernsehern verbunden hat: Wir sind die Menschheit. Die modernste Form des Reisens in die Unendlichkeit, das Internet, erzeugt ein solches Empfinden in neuer Tiefe: Hello World.

Der Schiedsrichter beim Fußballspiel steht sinnbildlich für die alte Zeit. Er ist mit seiner singulären Sicht auf dem Spielfeld in einer wesentlich schlechteren Position als jede Couchkartoffel vor dem Bildschirm. Er ist gewissermaßen aussichtslos. Der Schiedsrichter betrachtete die Welt von seinem individuellen Standpunkt aus. Für den steinzeitlichen Jäger war ein fester Standpunkt einst wichtig, um die Beute anzuvisieren, aber er lässt einen der digitalen Multiperspektive gegenüber hoffnungslos ins Hintertreffen geraten. In kritischen Situationen auf dem Spielfeld muss der Schiedsrichter aus seiner subjektiven Position entscheiden, obwohl ihn eine beunruhigende elektronische Objektivität umgibt. Der Fernsehzuschauer sieht im Lauf der nächsten Sekunden die Situation aus einem halben Dutzend unterschiedlicher Kamerapositionen, in Zeitlupe wiederholt, und kann sich ein – dem Fußball angemessenes – rundes, ganzheitliches Bild machen. Ein fester Standpunkt ist zur Einschränkung geworden.

Künstler haben die künftige Lage bereits zu Anfang des 20. Jahrhunderts vorausgesehen. Es geht aus dem Einen ins Viele. Die Kubisten haben die Notwendigkeit einer Sicht deutlich gemacht, die mehr als nur eine Ansicht erfasst. Autoren haben Romane geschrieben, in denen eine Geschichte aus mehreren Perspektiven erzählt wird, „Das Alexandria-Quartett“ von Lawrence Durrell etwa, oder „Pension Miramar“ von Nagib Machfus. Arno Schmidts „Zettels Traum“ ist eine 1 330 Seiten umfassende Textpartitur. Im Film, der linearen Schrift aus Bildern, wird die sich auffächernde, verzweigende Bewegung besonders deutlich. Keine dekorative Explosion, die nicht, von mehreren Seiten gefilmt, quasi gleichzeitig zu sehen wäre. In Streifen wie „Und täglich grüßt das Murmeltier“ oder „Lola rennt“ bewegt sich jeweils eine Geschichte in mehreren Verläufen.

All diese Versuche beginnen sich nun im Internet miteinander zu verbinden. Das Zeitalter des Informationskubismus beginnt, die Hypermoderne. Ein fundamentaler und vielschichtiger Umbruch vollzieht sich: Die Moderne verwandelt sich in etwas von noch nie da gewesener Komplexität. Es ist eine ungeheure Überschreitung, die aber immer wieder in sich selbst zurückführt – in die digitale Welt.

Der Mediendenker Pierre Lévy sieht in der Netzpolyphonie eine neue politische Macht. „Einer Gemeinschaft die Möglichkeit zu geben, eine vielstimmige Äußerung zu tun, direkt und ohne Umweg über einen Vertreter – das ist das technopolitische Ziel einer Demokratie im Cyberspace. Das Netz kann Äußerungsstrukturen beherbergen, die lebendige politische Symphonien hervorbringen.“ Menschen können komponieren – Partituren verfassen, in denen beschrieben steht, wie hundert Instrumente gleichzeitig klingen. Vielleicht sind wir gerade dabei zu lernen, mit Informationen oder, wer weiß: mit unserer Vernunft, umzugehen wie mit Noten. Kein Lebewesen wäre von der Natur dazu besser ausgestattet als wir.

Der größte Wunsch, den ich an künftige Formen des Internets habe: Die Hardware soll verschwinden, nur die Funktionen sollen bleiben. Das Internet soll zu einer Umweltbedingung werden und dafür sorgen, dass ich überall online sein kann, telefonieren, schreiben, lesen, fernsehen, Musik hören, ohne sperrige Gerätschaft herumschleppen zu müssen. Die Dinge würden unsichtbar in den Hintergrund rücken. Statt Laptop hätte ich die Möglichkeit, überall in virtueller Form das zu benutzen, was Bildschirm und Tastatur uns bisher eher umständlich geboten haben. Es gibt bereits Systeme, die Bildschirminhalte auf eine beliebige Fläche projizieren, dazu eine Kamera, die erkennt, wohin ich zeige, welche Gesten ich ausführe. Statt einer Maus benutze ich meine Hand, statt einer realen Tastatur eine projizierte aus Licht.

Als Nächstes verschwinden auch die Geräte

Viele Geräte, mit denen wir heute noch umgehen, sind entweder zu dominant oder zu klein. Es gibt eine maßlose Miniaturisierung, die keine Benutzer aus uns macht, sondern Frickler. Die Maschinen werden zunehmend leichter, dünner, filigraner, aber es gibt einen Punkt, an dem man mit neuen Verkleinerungsschritten nicht mehr weiterkommt. Die Geräte müssen auf einen Schlag verschwinden. Wenn die Hardware nicht verschwindet, werden die Biotechniker aufgerufen sein, die menschlichen Finger zu verkleinern oder ein Sträußchen Mikrozusatzfinger hinzuzuzüchten.

An den Erscheinungsformen digitaler Gerätschaft, der wir uns in immer neuen Selbstversuchen aussetzen, erinnert vieles an das Kinderspiel, bei dem man durch ein umgedrehtes Fernglas auf seine Füße schaut und dabei versucht, einen Teppichrand entlangzugehen. Man sieht seine Beine hoch wie Stelzen, das Gehen wird durch die künstliche Schwierigkeit zu einem Balanceakt. Ohne Fernglas wäre es ganz einfach. Aber das wäre nicht innovativ. Alles Hardwaregetürm steht letztlich in einem sonderbaren Unverhältnis zu der Flüchtigkeit und Lichtleichtigkeit der Inhalte, die das digitale Medium durchfließen. Der Ausdruck unserer Zeit ist das Immaterielle. „Conspicious Minimalism“ heißt die Lebensart, bei der das Nichtbesitzen als Zeichen moralischer und geistiger Überlegenheit vorgezeigt wird. Das Verschwinden der Hardware bringt uns nach all den faszinierenden Umwegen, die wir immer wieder gehen, um eine solche Maschine erdenken und bedienen zu können, wieder mit uns selbst in Berührung.

Die Vorstellung, mich auf eine Parkbank setzen zu können und mit einer Handbewegung eine Verbindung ins Netz herbeirufen zu können, wäre noch vor einem Jahrzehnt pure Sciencefiction gewesen. Das Internet stattet uns zunehmend mit quasi magischen Fähigkeiten aus.

In den zurückliegenden 150 Jahren hat das Unvorhersehbare eine neue Qualität angenommen. Sie macht brauchbare Einschätzungen der Entwicklung von Technologien durch ungewöhnliche Überraschungen sehr schwierig. Im 19. Jahrhundert hatten wissenschaftliche Experimente der Physiker Volta, Galvani, Ohm, Oersted, Henry und Faraday erstmals zu Erfindungen wie Telegrafie, Dynamo und Elektromotor geführt, die fast nichts aus einer früheren Technologie übernahmen. Innerhalb von zwei Generationen gab es Glühbirne, Telefon, drahtlose Telegrafie und Röntgenstrahlen. Alle diese Erfindungen waren zuvor nicht nur undurchführbar, sondern auch technisch unvorstellbar gewesen, ehe wissenschaftliche Methoden sie in reale Möglichkeiten verwandelten.

Miniaturisierung, Digitalisierung und Vernetzung haben in den zurückliegenden Jahrzehnten zu einer Beschleunigung des Prozesses geführt, Visionen greifbar zu machen. Die Fähigkeit, fantastische Vorstellungen immer schneller in neue Erfindungen umzusetzen, hat den Technologiesektor inzwischen selbst in so etwas wie eine reale Zukunftsfantasie verwandelt. Das Gefühl, dass etwas unmöglich sein könnte, schwindet.

Im April 1877 wurde die Bell Telephone Company gegründet. Auf dem ersten Vorstandstreffen wurde eine Bemerkung des damaligen US-Präsidenten Hayes erörtert. Nachdem er die Telefonverbindung zwischen Washington und Philadelphia ausprobiert hatte, sagte er: „Eine erstaunliche Erfindung. Aber wer sollte sie jemals benutzen wollen?“ Kein großes technologisches Konzept hat sich so entwickelt, wie es sich seine Urheber vorgestellt hatten. Der fantastische Siegeszug des Computers und der Vernetzung erinnert an den Erfolg einer anderen sonderbaren Erfindung der Siebzigerjahre: Slime – grüner Schleim in einer kleinen Plastikmülltonne, die noch heute als Scherzartikel verkauft wird. Es muss einen Moment der Kühnheit gegeben haben, in dem ein Mann zu einem anderen Mann sagte: „Lass uns ekliges, grünes Zeug in Plastikmülleimern verkaufen und damit reich werden.“

Es hat funktioniert. Genauso müssen sich die Erfinder des Mikrocomputers eines Tages etwas gesagt haben wie: „Lass uns allen Menschen kleine Maschinen verkaufen, mit denen man feindliche Funksprüche entschlüsseln und Verwaltungsvorgänge automatisieren kann.“ Das sind die Dinge, die den Lauf der Welt verändern.

Aber es waren nicht nur Zufälle, die aus technologischen Entwicklungen jene Leitströmungen entstehen ließen, die den ganzen Planeten in eine Technosphäre verwandelt haben. Das 20. Jahrhundert hat einen neuen Menschentypus hervorgebracht: den Technokraten – Erfinder und Nerds wie Wernher von Braun, der seiner Technikbegeisterung Ende der Zwanzigerjahre erst mit Freunden in dem privaten „Verein für Raumschiffahrt“ in Berlin nachging, um sich dann auf einen faustischen Pakt mit der Reichswehr einzulassen, die nach Möglichkeiten der Wiederbewaffnung suchte. Die UFA hatte den Bastlern zuvor 20 000 Reichsmark gezahlt, um eine Rakete zu bauen, die zu Reklamezwecken anlässlich der Premiere von Fritz Langs Film „Frau im Mond“ gestartet werden sollte, aber nicht fertig wurde.

Nach der Machtergreifung wurde Raketenforschung Geheimsache. 1936 wurde mit dem Bau der Heeresversuchsanstalt Peenemünde begonnen, Direktor wurde der 25-jährige Dr. Wernher von Braun. Die Rakete A 4 („Aggregat 4“), später umbenannt in V 2 („Vergeltungswaffe 2“) war ein Projekt mit einer klaren Vorgabe: eine Fernwaffe. „Die Wissenschaft hat keine moralische Dimension“, beteuerte von Braun später. „Sie ist wie ein Messer. Wenn man es einem Chirurgen und einem Mörder gibt, gebraucht es jeder auf seine Weise.“ Diese technokratische Grundhaltung blieb nicht auf deutsche Ingenieure beschränkt. „Lasst mich in Ruhe mit euren Gewissensbissen“, wies im Frühsommer 1945 der Kernforscher Enrico Fermi Einwände von Kollegen gegen den Bau der Atombombe zurück – „Das ist doch so schöne Physik.“

Von Brauns Förderer Walter Dornberger hatte bereits Mitte 1941 betont, dass neben der „materiellen Wirkung“ ein Raketenbeschuss „größte moralische Erfolge“ erzielen würde. Insgesamt kamen durch die V2 etwa 6 100 Menschen ums Leben. Und es war die erste Waffentechnologie, bei deren Produktion mehr Menschen umkamen als bei ihrem Einsatz. Von den beim Raketenbau eingesetzten 60 000 KZ-Häftlingen starben 20 000.

Zu Kriegsende ergaben Wernher von Braun und seine Leute sich den Amerikanern. Kriegsverbrechern aus der Gruppe sollte ursprünglich der Prozess gemacht werden, aber später verzichtete man darauf. Der Kalte Krieg hatte begonnen. Von Braun, der stets behauptete, nur Mondraketen bauen zu wollen, hat fast immer Waffen gebaut. Die Redstone-Rakete, die seinen Ruf in den USA begründete, war die erste US-Rakete mit einem Nuklearsprengkopf. 1968 wurde sie in der Bundesrepublik stationiert und 1973 durch die Pershing I abgelöst. Im Dezember 1979 wurde der sogenannte Nato-Doppelbeschluss gefasst, der die Stationierung von Pershing-II-Mittelstreckenraketen als Antwort auf die sowjetische Mittelstreckenrakete SS-20 vorsah. Aus dem Widerstand gegen diesen Beschluss erwuchs die deutsche Friedensbewegung.

Mit Regenschirmen gegen elektrisches Licht

Nach der „Challenger“-Katastrophe im Januar 1986 und der Reaktorkatastrophe in Tschernobyl im April desselben Jahres wurde klar, dass zwei von den drei Großtechnologien, die das 20.Jahrhundert hervorgebracht hatte, die bemannte Raumfahrt und die zivile Nukleartechnik, scheitern würden. Mit der dritten, der allumfassenden Informationstechnik, hat sich der Weltraum nun nach innen gewendet. Das Online-Universum ist die Demokratisierung der Raumfahrt. Und diesmal kann jeder mitfliegen.

Würde ein Mensch des 18. Jahrhunderts durch ein Loch in der Zeit in ein gewöhnliches Wohnzimmer unserer Gegenwart fallen, er wäre umgeben von schierer Magie: Gespräche und Bilder aus allen Fernen fließen rätselhaft herbei und hinaus. Mit Zauberhand werden wundersame Fenster an kleinen Kästen bedient, die aus sich selbst zu leuchten vermögen wie der geheimnisvolle Karfunkelstein. Was sehen wir? Das Gegenteil eines Wunders. Einen Fernseher, in dem eine Talkshow läuft. Ab und zu düdelt ein Handy Wagners Walkürenritt als Klingelton. Alltag Anfang des 21. Jahrhunderts. Banalität.

Computer und Kommunikationstechnik haben uns in den letzten dreißig Jahren kolossale Veränderungen gebracht. Die Telekommunikation hat sich in unser Leben eingeschlichen wie ein niedliches Tier. In den Sechzigerjahren standen Telefone im kalten Vorzimmer, heute kuscheln sich Smartphones in unsere Jackentaschen und begleiten uns überallhin. Wir haben uns mit den Maschinen angefreundet. Diese Nähe nimmt dem Erstaunlichen seinen funkelnden Reiz. Vom Neuen fasziniert zu sein ist ohnehin nicht fortwährend möglich. Erstaunlichkeit ist keine Qualität, sondern ein Augenblick der Verwandlung. Die kurze Erhöhung ins Glanzvolle hat einen Preis. Neues altert schneller als Unneues. Das Neue erhebt sich für einen Moment aus der langweiligen Unsterblichkeit des Beständigen. Es sind besonders Dinge, die der Mensch sich selber schafft, die ihn im höchsten Maß erstaunen. Naturwunder langweilen uns ein wenig in ihrer endgültigen Grandiosität. Der Bedarf an frischem, dramatischen Nachschub für unsere Neugierde ist immens. Früher haben Kunst und Magie die Menschen in Erstaunen versetzt, heute sind es Technik und Wissenschaft.

Wie bei jeder neuen Technologie, so waren auch bei der Einführung des elektrischen Lichts Skepsis und Sorge verbreitet. 1882 hielt mit Edisons Glühbirnen in New York die künstliche Beleuchtung Einzug in die USA. In Paris gingen die Damen damals nachts mit Schirmen durch die Straßen, da sie Angst vor dem stechenden Licht hatten. Hundert Jahre später verbreitete sich wieder eine neue Technologie, wieder Schirme – Bildschirme diesmal. Früher gab es die Nacht als einen Fluchtraum, in den sich die Müdigkeit zurückzog. Sie wurde vom elektrischen Licht verscheucht, und es entstand eine neuzeitliche Form der Erschöpfung und Nervosität – das metropolitane Leben.

Mythisches Gemeinschaftsgefühl wurde in der Dunkelheit von Kinosälen wiederhergestellt, wo Fremde Schulter an Schulter sitzen und ihre tiefsten Empfindungen miteinander teilen. Diese wohlige, tiefe Dunkelheit findet sich jetzt im Netz. Die zentrale Sehnsucht des 19. Jahrhunderts war, durch die Liebe von Institutionen, Konventionen und Alltag erlöst zu werden und zur Natur zu gelangen. Das 20. Jahrhundert deckte dann scheinbar alle Tabus der menschlichen Seele auf und stellte sie ins Scheinwerferlicht. So sind wir nun überrascht von der Wiederentdeckung der Sehnsucht, uns unverstellt und natürlich zu zeigen. Im Herzen des Internet blüht die Romantik – eine selbstbewusste Reaktion auf den übermächtigen Rationalismus der modernen Welt.

Digital sind wir alle schön: Nie war der Wunsch, zu sehen und gesehen zu werden, so ausgeprägt und obsessiv wie heute. Themen wie Datenschutz und Überwachung scheinen unter einer Art Aufmerksamkeitsjetlag zu leiden. Immer mehr Menschen begegnen den Entwicklungen affirmativ. Sie geben einer frivolen Freude am Exhibitionismus nach, die offenbar die ganze Gesellschaft erfasst hat. Noch weiß niemand, wohin uns diese neue Art von Offenheit führen wird. Wird man in zwanzig Jahren vor seinen im Netz verteilten Altdaten stehen wie vor einem Foto, das einen jung und nackt im Schlamm von Woodstock zeigt? Werden damit Karrieren beschädigt oder ins Geheimnislose entleerte Menschen erzeugt werden? Im Wilden Westen wurden Leute per Steckbrief gesucht. Nun möchte man sich gern finden lassen und pinnt deshalb seinen eigenen, möglichst ausführlichen Steckbrief an möglichst viele digitale Bäume.

Für die Generation, die mit dem Netz aufwächst, ist es selbstverständlich, sich weitgehend dem Netz anzuvertrauen. Anonymität und Pseudonymität eröffnen neue Freiräume. Fremde können sich online zwanglos begegnen und tragen manchmal bereits nach kurzer Zeit ihr Herz auf der Zunge. Viele Menschen finden online rasch zu einer Vertrautheit, die ihnen in einer direkten Begegnung nicht möglich wäre. Online-Kommunikation kann wie eine Wahrheitsdroge wirken – genauso macht sie Menschen aber auch zu Lügnern.

„Du bist nicht allein“, lautet eines der Credos im globalen Dorf. Und es hat sich gezeigt, dass die sozialen Medien, in denen Menschen sich miteinander austauschen, nicht einfach nur Nachrichtenumschlagplätze oder hinzuaddierte Kanäle im Orchester der neuen Kommunikationsmöglichkeiten sind. Im Netz sind Medien nicht mehr nur Dinge, die wir benutzen – wir leben heute in unseren Medien. Es sind Treffpunkte und Lebensräume geworden. Twitter und Facebook lassen einen endlosen Fluss kurzer Nachrichtenhinweise, Selbstdarstellungsschnipsel und Bilder strömen – anstelle eines Agenturtickers mit Weltnachrichten schweben nun Informationskonfetti von Freunden und Bekannten pausenlos über den Schirm. Das Gemeinschaftsgefühl einer virtuellen Wohngemeinschaft begleitet einen immer unabstreifbarer überallhin.

Die Mehrzahl der Nutzer gehört zur ersten Netzgeneration, die sich daran gewöhnt hat, dass ihr Leben ein offenes Buch ist. Kinder kommen inzwischen früh mit den sozialen Netzen in Berührung, und sobald sie sich darin heimisch fühlen, erscheint ihnen die Vorstellung, man könne Dinge für sich behalten, sonderbar. Da das Netz von vielen jungen Menschen bevölkert ist, sollte man auch bedenken, dass vor allem Kinder eine ganz andere Vorstellung von Privatsphäre haben als Erwachsene. Für einen Erwachsenen gehört die Wohnung zum Innersten der Privatsphäre, sie ist ein Bereich, der ganz seiner Kontrolle unterliegt. Kinder üben hier keine Macht aus, für sie ist es deshalb auch kein privater Raum. Online dagegen haben sie viel eher das Gefühl, privat zu sein.

Google vollbringt jetzt auch Wunder

Und es sind längst nicht mehr nur Medientechnologien, die eingreifen in das, was künftig öffentlich sein wird und was nicht. Wer die automatische S-Bahn zwischen dem Hafen der japanischen Stadt Kobe und der künstlich angelegten Insel Rokko benutzt, kann während der Fahrt ein bemerkenswertes Phänomen beobachten. An einigen Streckenteilen fährt der Zug sehr nahe an Wohnhäusern vorbei, jeweils kurz davor werden die Fensterscheiben des Zugs plötzlich milchig – um die Privatsphäre der Anwohner zu schützen. Die Fenster sind aus sogenanntem Privacy Glass gefertigt, das sich auf Knopfdruck zwischen durchsichtig und undurchsichtig umschalten lässt. Kleine Signalgeber an der Strecke teilen den Zugfenstern automatisch mit, wann sie den elektronischen Vorhang zuziehen sollen und wann der Blick wieder freigegeben werden kann in die Bereiche, die uns gemeinsam verfügbar sind.

Nach eigenen Angaben besteht das Ziel von Google darin, „die auf der Welt vorhandenen Informationen zu organisieren und allgemein zugänglich und nutzbar zu machen“ – eine neue Weltordnung herzustellen also. Manchmal beschleicht einen das Gefühl, Wirtschaft könne in absehbarer Zeit heißen: Google kauft das ganze Geld der Welt und lässt uns dann danach suchen. Durch die Vernetzung und die immer vielfältigere Verteilung der Wissensströme entstehen völlig neue wirtschaftliche und soziale Lebensformen. Eine eigene Google-Ökonomie hat sich um die vorderen Plätze der Suchmaschinen-Ergebnislisten gebildet. Die Existenz von Gewerbetreibenden aller Art hängt zunehmend am seidenen Faden ihrer Sortierposition in der Suchmaschine.

Im August 2003 war Google-Mitgründer Sergej Brin auf einer Konferenz gefragt worden, wann ihm klargeworden sei, dass Google eine Ikone der Gegenwart geworden ist. Als Antwort erzählte er die Geschichte von jemandem, der angeblich einem Familienmitglied mit einem akuten Herzinfarkt das Leben gerettet hatte. Er habe bei Google nachgefragt, was zu tun sei, und mit den gewonnenen Informationen medizinische Hilfe hinzuziehen können. Mit anderen Worten: Google vollbringt inzwischen auch Wunder.

Auf einer Tagung der britischen Konservativen wies Google-Chef Eric Schmidt Politiker aus der „TV-Generation“ darauf hin, dass das Internet in den kommenden Jahren gravierende Auswirkungen auf den politischen Prozess haben werde und es Zeit sei, aufzuwachen. Um zu zeigen, dass Suchmaschinen künftig als politische Kontrollinstrumente fungieren könnten, skizzierte er einen „Truth predictor“, der alle online verfügbaren Statements und Handlungen eines Politikers auf Widersprüche hin überprüfen und so den Ausgang von Wahlen beeinflussen könne. Schmidt sagte, sein Vortrag sei Teil einer globalen Mission, um politischen Führern die Augen zu öffnen.

Was vielen Sorge bereitet, sind nicht einzelne Datenkleckse, die man da und dort hinterlässt, sondern die künftigen, machtvollen Möglichkeiten ihrer Zusammenführung – die Angst, dass Google die Kontrolle über Teile unserer Zukunft übernimmt. Mit Hilfe neu entwickelter Techniken wie der DNA-Analyse können heute beispielsweise Jahrzehnte zurückliegende Kriminalfälle gelöst werden. Noch weiß niemand, welche Möglichkeiten der Datenerschließung in den kommenden Jahren zur Verfügung stehen werden und in welchem Ausmaß wir durch sie verraten und verkauft werden können – auch wenn wir gar nichts Unrechtes getan haben. Manchmal reichen schon wirtschaftliche Probleme, um den Schutz hochsensibler Datenbestände aufzuheben.

Vor vier Jahren stieg Anne Wojcicki, die Ehefrau von Sergej Brin, in das Geschäft mit privaten Gentests ein. Für 500 Dollar und eine Speichelprobe kann man sich von ihrer Firma 23andMe das eigene Genom nach genetischer Abstammung und Erbkrankheiten durchsuchen lassen. Zur selben Zeit wie 23andMe startete die isländische Firma deCODEme mit einem gleichartigen Angebot. Im November 2009 musste das an der amerikanischen Technologiebörse Nasdaq notierte Unternehmen Insolvenz anmelden. Was mit den vorhandenen persönlichen DNA-Daten von deCODEme passieren wird, ist unklar – möglicherweise werden sie im Zuge des Insolvenzverfahrens versteigert.

Was Google mit seiner ebenso innovativen wie aggressiven Vorgehensweise immer wieder mühelos schafft, ist, zu zeigen, wo die Gemeinschaft versagt – aus Bequemlichkeit, Geiz oder Unentschlossenheit. So hat erst die Provokation durch Google Books die EU dazu veranlasst, endlich mehr als nur eine symbolische Summe für eine eigene Digitalisierungsinitiative – die Europeana – in die Hand zu nehmen.

Auch zu Google Street View gibt es Alternativen wie das Open-Source-Projekt „OpenStreetMap“. Statt sich in Angstdebatten zu verlieren, wäre es künftig konstruktiver, solche Projekte zu fördern und eine digitale Öffentlichkeit zu entwickeln, die es mit der Leistungsfähigkeit von Google aufnehmen kann. Am Ende entschiede dann Qualität, und ein vielleicht sogar besseres Konzept. Weil alle mitmachen.

Peter Glaser, geboren 1957 in Graz, ist Schriftsteller und Journalist in Berlin und Ehrenmitglied des Chaos Computer Clubs. Für seine Erzählung „Geschichte von Nichts“ wurde er 2002 mit dem Ingeborg-Bachmann-Preis ausgezeichnet. Der vorliegende Beitrag erscheint auch in der neuen Edition LMd, Nr. 8 „Nano. Gen. Tech. Wie wollen wir leben?“

© Le Monde diplomatique, Berlin

Marc Francis

Auf den ersten Blick wirkt die meist großformatige Malerei von Mark Francis abstrakt. Dabei sind die Motive der Gemälde oft mikroskopischen Abbildungen feinstofflicher Organismen, grafischen Aufzeichnungen von Schallwellen und ähnlichen wissenschaftlichen Darstellungen entlehnt. In letzter Zeit beschäftigt sich Francis auch mit der Technik des Kartografierens. Die Weichheit des Nass-in-Nass-Verfahrens lässt die Gegenstände in den Hintergrund treten und nimmt den Bildern jegliche klinische oder trocken-wissenschaftliche Anmutung. Francis’ Werke bewegen sich an der Grenze zwischen abstrakt und figurativ und lassen deshalb viel Raum für Assoziationen; einige Arbeiten haben etwas Textiles, andere erinnern an Hochhäuser. Mark Francis ist 1962 in Newtownards, Nordirland, geboren und lebt und arbeitet in London. Bis zum 23. Oktober sind seine Arbeiten in der Galerie Thomas Schulte in Berlin zu sehen, der wir für die Abbildungen danken.

www.galeriethomasschulte.de

Wilhelm Werthern

Le Monde diplomatique vom 08.10.2010, von Peter Glaser