10.04.2014

Albaniens neues Gesicht

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Albaniens neues Gesicht

Bunte Häuser, Tourismus und Investitionen von Justus von Daniels

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Für albanische Verhältnisse war die Abfuhr an den US-amerikanischen Außenminister schon recht selbstbewusst. Ob die Regierung nicht Interesse habe, die Zerstörung der syrischen Chemiewaffen zu übernehmen, hatte John Kerry im Oktober in Tirana anfragen lassen. Das Geschäft mit den Giftwaffen hätte Geld in die Kasse des klammen Staats gespült. Aber: Nein, man habe kein Interesse, antwortete Albaniens neuer Ministerpräsident Edi Rama. Früher hätte das kleine Land seiner großen Schutzmacht den Wunsch wohl nicht abgeschlagen. Die Regierung hatte in der Vergangenheit auch zugestimmt, Häftlinge aus Guantánamo aufzunehmen. Aber Albanien will nicht mehr die miesen Jobs machen, die kein anderer übernehmen will.

Edi Rama ist ein ziemlich auffälliger Typ. Nicht nur aufgrund seiner Größe, die ihm einen Platz in der albanischen Basketballnationalmannschaft bescherte. Der 49-Jährige tritt lieber im T-Shirt auf statt mit Krawatte. Und bei einem Besuch überreicht er einem gleich sein neues Buch mit Skizzen und Zeichnungen. Rama ist nämlich auch Künstler. Im Wahlkampf hatte er seinem Land eine „Renaissance“ versprochen und klare Worte nicht gescheut: Im Ausland werde Albanien vor allem mit Kriminalität verbunden. Durch und durch korrupt sei es und kaum ein Staat zu nennen.

Nun soll ein Aufbruch her, und den trauen die Albaner ihrem neuen Ministerpräsidenten zu. Gleich nach seinem Wahlsieg im vergangenen September hat Rama ein wichtiges Signal gesetzt: Anstatt nur alte Politprofis zu Ministern zu machen, holte er Aktivisten aus der Zivilgesellschaft wie Arbjan Mazniku in die Regierung und eröffnete ein Bewerbungsverfahren für wichtige Verwaltungsposten. Vor ein paar Monaten leitete der 35-jährige Mazniku noch einen Verein für Bildungspolitik, und jetzt ist er stellvertretender Bildungsminister.

Vor allem die jungen Albaner setzen zum ersten Mal Hoffnung in ihre Regierung. Rama weiß, wie man politisch Symbole setzt. Als er vor 14 Jahren Bürgermeister von Tirana wurde, hat er als Erstes viele Häuser in der grauen Hauptstadt bunt anmalen lassen. Was aber auch zur Wahrheit seines Wahlsiegs gehört: die Koalition mit Ilir Meta, dem Chef einer Kleinpartei, den Rama vor ein paar Jahren noch als typischen Vertreter für alles, „was in diesem Staat faul ist“, bezeichnet hat. Meta war schon in der Vorgängerregierung Außenminister und hat mit seiner Partei die Seiten gewechselt.

Jahrzehntelang haben die Albaner ihre Antennen heimlich nach Italien ausgerichtet. Zur Zeit des Kommunismus war der Fernsehsender RAI die einzige Verbindung in den Westen. Die meisten Albaner haben auf diese Weise Italienisch gelernt, sie haben die Mode kopiert und lieben den italienischen Espresso. Nach der Wende sind viele nach Italien emigriert und nahmen dafür die einfachsten Jobs in Kauf. Auch ins benachbarte Griechenland sind Hunderttausende ausgewandert. Viele von ihnen haben Griechisch gelernt oder ließen sich sogar einer unauffälligen Integration zuliebe auf christliche Namen taufen. Ein Drittel der Bevölkerung, etwa eine Million Albaner, hat in den letzten zwei Jahrzehnten das Land verlassen. Jetzt kehren einige von ihnen zurück.

Nicht nur die Exilanten sollen kommen, sondern auch Touristen. Die New York Times hat Albanien schon als Geheimtipp empfohlen, und Reiseblogger preisen die Gastfreundschaft. Das Land gilt als ursprünglich: Nördlich der griechischen Insel Korfu liegen die traumhaften Strände der albanischen Adriaküste, im Hinterland erstreckt sich eine unberührte Berglandschaft. Die Rückständigkeit wird gefeiert, als würde man am Mittelmeer noch einmal jenen vom Kommerz befreiten Zustand vorfinden, der vor einigen Jahrzehnten den Reiz Griechenlands oder Süditaliens ausgemacht hat. Die Touristen erwähnen allerdings auch die schlechten Straßen, Stromunterbrechungen und Bauruinen.

Im ganzen Land lassen sich die äußeren und inneren Fehlentwicklungen der letzten Jahrzehnte an den Gebäuden ablesen. Die Hauptstadt Tirana ist geprägt von klobigen sozialistischen Einheitsbauten, die aus einer Zeit stammen, in der Albanien hoffnungslos isoliert war. Überall im Land liegen winzige militärische Bunker verstreut und bezeugen die unter Enver Hoxhas jahrzehntelanger Herrschaft (1944 bis 1985) ängstlich kultivierte Alarmbereitschaft – in Erwartung von Gegnern, die es nie gab.

In den letzten Jahren haben vor allem Korruption und organisierte Kriminalität die Entwicklung des Landes behindert. Besonders offensichtlich wird das im Baugewerbe. Im Großraum Tirana entstanden ganze Stadtteile ohne Baugenehmigung – und ohne jede Infrastruktur. An den Küsten stehen geschmacklose Hotelburgen und Bauruinen, weil es an einer durchdachten Tourismuspolitik fehlte. Zahlreiche dieser Bausünden sind das Ergebnis einer groß angelegten Geldwäsche: Die albanische Mafia hat ihr Geld aus dem Menschen- und Drogenhandel in Beton und Glas gesteckt.

Zusammen mit dem Müll, der überall herumliegt, bietet sich ein tristes Bild. Rama setzte mit seiner Anstreichaktion für Tirana genau an diesem Punkt an. Die Aktion brachte nicht nur Farbe in die Stadt, sie war auch Symbol dafür, dass die Albaner bei sich selbst anfangen müssen. Und dass man etwas aus dem machen kann, was da ist. Seit fast 25 Jahren befindet sich das Land in einem andauernden gesellschaftlichen und staatlichen Wandel. Es gibt mittlerweile eine ganze Generation, die in diesem Übergang groß geworden ist.

Nach dem Ende des kommunistischen Systems waren Staat und Industrie komplett zusammengebrochen. Und in den Wirren des Jugoslawienkriegs kümmerten sich weder die Europäische Union noch die USA um die Probleme in der Nachbarregion. Hier spielten ethnische Konflikte kaum eine Rolle, obwohl es unter den 3 Millionen Einwohnern genug Zündstoff gibt. Vor allem die griechische Minderheit meldet sich gelegentlich lautstark zu Wort, und ein organisierter Angriff von Unbekannten auf eine Roma-Siedlung hat scharfe Rügen der EU ausgelöst. Von rund 20 Prozent Atheisten und Auskunftsverweigerern abgesehen, ist das Land religiös bunt gemischt. Offiziell sind 60 Prozent der Bevölkerung muslimisch, 10 Prozent katholisch und 7 Prozent orthodox. Aber die Spannungen aus den Nachbarregionen haben sich nicht auf Albanien übertragen.

Aus einem ganz anderen Grund ging Albanien 1997 erneut in die Knie. Die „Pyramiden“ brachen zusammen, ein Geldbetrugssystem, in das auch Politiker verwickelt waren. Es kam zu gewaltsamen Protesten, in dessen Folge sich sogar die Armee auflöste. Seitdem kämpft sich das Land mühsam voran. Aber die Reformer kommen gegen die Probleme nicht an, es bessert sich kaum etwas. Nach wie vor sind Bestechungsgelder gang und gäbe. Die Korruption hat die Bevölkerung müde und misstrauisch gemacht. „Ich wollte hier nicht mehr leben“, sagt Iris Xholli. Als junge Studentin ging sie vor über zehn Jahren in die USA und war froh, der depressiven Stimmung entkommen zu sein.

Edi Rama baute allen eine Brücke

Dabei gab es durchaus kleine Erfolge. Außenpolitisch verhielten sich die wechselnden Regierungen pragmatisch. Das Land, das einst nur China zum Freund hatte, wurde 2009 auch dank der Unterstützung der USA in die Nato aufgenommen. Die Amerikaner hatten Albanien nach der Wende schnell als strategischen Stützpunkt genutzt. Sie unterhielten dort während des Jugoslawienkriegs wichtige Flugbasen und ließen sich durch die guten Beziehungen Albaniens zum Kosovo über die dortige Lage informieren. Die Mitgliedschaft in der Nato war der Dank dafür und gilt im Land als Beweis, international als vertrauenswürdig anerkannt zu sein. Für die Nato, ist zu hören, war es ein verkraftbarer Schritt. Und in all den Jahren wurde auch die Annäherung an die EU vorangetrieben: Seit 2006 gibt es ein Assoziierungsabkommen. Im Juni wollen die Staats- und Regierungschefs der EU endlich darüber entscheiden, ob Albanien den Status eines Beitrittskandidaten erhält.

Aufgrund der krassen Korruption war der Verhandlungsbeginn für einen Beitritt immer wieder verschoben worden. Davon abgesehen hatte sich bisher sowieso keiner der Schritte in die internationalen Großorganisationen für die Bürger ausgezahlt. Irgendwann war ein toter Punkt erreicht, aus dem es nur noch einen Ausweg gab: ein Neuanfang. Als Edi Rama seine Renaissance ankündigte, traf er damit genau den richtigen Nerv. Die Bevölkerung wollte endlich die Zeit des Übergangs beenden. Albanien sollte endlich ein normales Land werden. Der neue Ministerpräsident baute allen eine Brücke: „Wenn ein deutscher Beamter in Albanien arbeiten würde, wäre er auch korrupt. Umgekehrt sehen wir viele Albaner, die ins Ausland gehen und sich dort an die Regeln halten.“ Rama gab dem System die Schuld und nicht den Menschen. Mit dieser Botschaft gewann er die erste Wahl ohne Wahlbetrug.

Ervin Qafmolla hat bisher sein ganzes Leben in Tirana verbracht und freut sich über die neue Dynamik in der Stadt. „Vor ein paar Jahren ist kaum jemand ausgegangen. Es gab nur die Oper und ein Theater. Jetzt ist kulturell was los, die Cafés sind voll“, erzählt der 34-jährige Journalist. Die Stadt sei in den letzten Jahren normaler geworden, die Menschen gäben sich offener. „Tirana ist noch längst keine glänzende Hauptstadt“, sagt Qafmolla, „aber Rama hat illegale Häuser abreißen lassen, Viertel wurden aufgeräumt. Er hat damit ein Zeichen gesetzt.“ Kritiker sagen hingegen, Rama habe in den elf Jahren als Bürgermeister nur Kosmetik betrieben. Die Stadt leide weiter unter der unzulänglichen Versorgung mit Wasser und Strom. Baugenehmigungen seien unseriös erteilt worden, auch Rama sei korrupt. Seine Bilanz als Bürgermeister mag nach elf Jahren durchwachsen sein, aber die meisten Albaner sehen vor allem, dass Rama etwas in Bewegung setzen kann.

So wie er in Tirana erst mal äußerlich für Farbe und Ordnung sorgte, will er jetzt mit einem landesweiten Aufräumprogramm punkten. Er will die unglaublich abfallverseuchte Küste säubern lassen, Bauruinen sollen beseitigt und illegale Müllhalden geschlossen werden. Es ist eine Art Therapie für Albanien: nicht negativ auf die Zustände blicken, sondern darauf, was entstehen kann. Rama weiß selbst, dass seine Glaubwürdigkeit davon abhängt, was er für die Rechtssicherheit tut. Außerdem muss er sich vor allem selbst an die Regeln halten.

Dass die staatlichen Institutionen nicht funktionieren, ist im westlichen Balkan nichts Ungewöhnliches. Dort hat jedes Land seine eigenen Probleme. Sei es, dass es, wie im Kosovo oder in Bosnien und Herzegowina, an staatlichen Strukturen fehlt oder dass, wie in Serbien oder eben Albanien, korrupte Eliten keine funktionierende Demokratie zulassen wollen.

Dabei ist das Land einfach zu klein, als dass man die Elite und die von ihr dominierte Verwaltung einfach durch eine andere ersetzen könnte. Die politischen Strukturen und wirtschaftlichen Kräfte sind immer noch stark von Familienclans geprägt. Edi Rama muss mit dem Dilemma leben: Wenn er die Korruption bekämpfen will, muss er diejenigen überzeugen und mit denjenigen zusammenarbeiten, die sie ausüben.

Der Ministerpräsident hat sich entschieden, seine Botschaft vom neuen Albanien Seite an Seite mit der alten Machtelite zu vertreten. Gegen seinen Koalitionspartner Meta sind etliche Vorwürfe erhoben worden, zu denen Rama jetzt nicht mehr Stellung nimmt. Meta hat sich dadurch zumindest vorübergehend Immunität gesichert. Aber der Deal kann Ramas Aufbruchstimmung auch schnell wieder zunichtemachen.

Der Bürgermeister ist ein Rückkehrer aus Holland

Einige Auswanderer sind wieder zurückgekehrt. Was damals das Land ausbluten ließ, könnte jetzt zum Vorteil werden. Denn die Heimkehrer bringen ihre Erfahrungen aus dem Ausland mit. Xholli, die in den USA Politikwissenschaften studiert hat, suchte vor zwei Jahren den Kontakt zu ihrem Heimatland und bekam einen Job im Ministerium für europäische Integration. Sie wurde zwar von der Vorgängerregierung eingestellt, aber sie begrüßt den Wechsel. „Es wird egal sein, wer künftig regiert“, sagt sie, „denn alle Seiten sind reifer geworden.“

Lulzim Basha, der neue Gegenspieler von Edi Rama, ist ebenfalls ein zurückgekehrter Emigrant. Der in Holland ausgebildete 39-jährige Jurist war unter anderem beim Jugoslawien-Tribunal tätig und bringt sich jetzt als neuer Bürgermeister von Tirana in Stellung. Er ist Vorsitzender der größten Oppositionspartei, der Demokratischen Partei (PD), und einer der wichtigsten Politiker des Landes. Basha hatte in der Vorgängerregierung schon mehrere Ministerposten inne und war wegen Bestechung angeklagt, wurde aber aus Mangel an vom Gericht akzeptierten Beweismitteln freigesprochen. Dennoch steht auch er für eine Normalisierung des Landes.

„Er vertritt die neue Generation“, sagt Albert Rakipi, Leiter des albanischen Instituts für Internationale Studien. „Basha trägt Streit mit seinem Gegner aus, aber es gibt ein professionelles Verständnis, dass Politik nicht feindselig sein muss.“ Die PD hat bis zum Regierungswechsel das Land lange Jahre dominiert, ohne innenpolitisch Akzente zu setzen. „Aber Basha war als Außenminister erfolgreicher als alle vor ihm“, sagt Rakipi. Der Oppositionschef geht nun auf Konfrontation zu einigen Plänen Ramas, aber er stellt die grundsätzliche Richtung nicht infrage. Bisher bestand mit Ramas Sozialistischer Partei (PS) und der konservativen PD ein stabiles Kräfteverhältnis im ansonsten chaotischen albanischen Parteiensystem, in dem sich Dutzende Splittergruppen tummeln, die sich im Parlament um die PS und die PD gruppieren. „Noch ist es zu früh, zu sagen, ob Basha seine Partei zusammenhalten kann. Er braucht jetzt Zeit“, sagt Rakipi.

Wirtschaftlich kommt dem Land nun die Verbindung zu Italien zugute. Fast 50 Prozent aller Exporte gehen nach Italien, und umgekehrt investieren Italiener in Albanien. Ein großer Trumpf sind die Sprachkenntnisse der Albaner. Wenn ein Italiener im Callcenter anruft, landet er mit hoher Wahrscheinlichkeit auf der anderen Seite der Adria. In Albanien hat sich ein ganz neuer Sektor von Dienstleistungsfirmen entwickelt, die für italienische Auftraggeber arbeiten. Das Land präsentiert sich gegenüber den Investoren als Billiglohnland mitten in Europa. Albanien wirbt zum Beispiel aktiv um die Textilindustrie, die sonst eher in Südostasien oder Nordafrika herstellen lässt.

Es sind nur kleine Früchte, aber noch hat Albanien kaum die Kraft, selbst finanzielle Anreize zu schaffen. Fast die Hälfte der Einwohner arbeitet immer noch in der Landwirtschaft. Arbjan Mazniku, der neue stellvertretende Bildungsminister, sieht darin die größte Herausforderung: „Es wird nicht reichen, nur einfache Arbeit anzubieten. Es ist ein langer Weg. Aber wir können von anderen Staaten in der EU, wie Irland oder Estland, lernen, dass es nicht so bleiben muss.“

Die Albaner positionieren sich jetzt auch selbstbewusster in der Region. Die Regierungen erkennen, dass ihre vielen kleinen Staaten nicht erfolgreich sein können, wenn sie gegeneinander arbeiten. Der Kosovokonflikt hatte die Beziehungen in der Region lange Zeit vergiftet. Im Januar kündigte Rama nun an, die Annäherung an die Europäische Union stärker mit dem Kosovo zu koordinieren, denn auch dort wird im Sommer über ein eigenes Abkommen mit der EU verhandelt. Und als erster albanischer Regierungschef seit 1946 reiste Rama zu einem Besuch nach Serbien, um die Beziehungen endlich zu normalisieren.

Wenn Albanien den Schwung behielte, den es gerade hat, wäre schon viel erreicht. Und wenn es, was wahrscheinlich ist, in den nächsten zehn Jahren Teil der EU würde, wäre das der größte Triumph. Dann wird das Land endlich sichtbar werden und eine erkennbare Stimme innerhalb Europas bekommen.

Justus von Daniels ist Jurist und arbeitet als freier Journalist in Berlin. © Le Monde diplomatique, Berlin

Le Monde diplomatique vom 10.04.2014, von Justus von Daniels