Die Vernunft des Orakels
von Bruno Preisendörfer
Tina ist überall: Sie fällt von hinten in den Rücken, steht vorne im Weg, hetzt von rechts, eifert von links und breitet sich schamlos in der Mitte aus. Zu Tina gibt es keine Alternative, sie ist das Akronym der Alternativlosigkeit: There Is No Alternative! Die größte Virtuosin des Tina-Prinzips war Baroness Thatcher. Dieses Prinzip war gewissermaßen der Revolver in der Handtasche, den sie herauszog, wann immer ihr jemand in die Quere kam. Mit Tina lässt sich Kritik als Bedenkenträgerei verunglimpfen, Interessenpolitik als Sachzwang darstellen und das Faktische zur Norm erheben: Es ist, was es ist. Wie die Liebe in einem Gedicht von Erich Fried: „Es ist Unsinn / sagt die Vernunft / Es ist was es ist / sagt die Liebe.“ Der Philosoph Hegel rief in einer Vorlesung erschrocken aus: „Die Liebe ist der ungeheuerste Widerspruch, den der Verstand nicht lösen kann.“
Für den am 21. April vor 150 Jahren geborenen Soziologen Max Weber „weiß sich der Liebende in den jedem rationalen Bemühen ewig unzugänglichen Kern des wahrhaft Lebendigen eingepflanzt, den kalten Skeletthänden rationaler Ordnungen ebenso völlig entronnen wie der Stumpfheit des Alltages“. Und der Sozialanthropologe Ernest Gellner bemerkt nüchtern: „Für die Wahl eines Ehepartners gibt es keine rationalen Kriterien, die sich sinnvoll anwenden ließen. Die Auswahlkriterien sind zu vielfältig und widersprüchlich, um sich formalisieren zu lassen. [...] Wie in anderen Zusammenhängen kaschiert auch hier die Berufung auf ein Orakel (in diesem Fall ein internes) die Unmöglichkeit, in komplexen Situationen Entscheidungen auf rationalem Weg herbeizuführen.“
Ganz genauso ist es auf der höchsten Ebene politischer oder ökonomischer Entscheidungen, wie Gellner in seinem Buch „Pflug, Schwert und Buch“ betont: „Die Rationalität, die der Arbeitsteilung korrespondiert, hat unsere Welt verändert, wird sich aber nie auf jene allumfassende und von Natur aus vielsträngigen Optionen erstrecken können, bei denen es um die Entscheidung zwischen unvereinbaren Alternativen geht.“ Eben deshalb halten die Tina-Leute denjenigen, die mit ihren Entscheidungen nicht einverstanden sind, jedes Mal entgegen, es gebe diese Alternativen gar nicht, jedenfalls nicht, wenn man sich den Sachzwängen stelle. Wie sich der Verliebte auf das Orakel des inneren Gefühls beruft, so beruft sich der Entscheider auf das der äußeren Sachzwänge. Und zwar, nach Gellner, mit umso weniger Recht, je höher die Machtebene ist, auf der entschieden wird. „Umfassende Entscheidungen stellen vor Probleme, die zwangsläufig kompliziert sind und bei denen Erfolg oder Misserfolg von vielen verschiedenen und auch von miteinander unvereinbaren Gesichtspunkten abhängen. In Ermangelung eines einheitlichen Kriteriums sind wir gezwungen, uns mit Bewertungsverfahren zufriedenzugeben, die unterhalb der ‚rationalen‘ Ebene bleiben.“
Der Sachzwang ist das moderne Orakel, der Experte der delphische Deuter, die Öffentlichkeit der Tempel. Eines geradezu religiösen Frevels macht sich schuldig, wer an diese Rationalität nicht glaubt und Alternativen sucht. Kurioserweise wird das Verleugnen und Verleumden von Alternativen selbst mit einer solchen gerechtfertigt: der von Gesinnungs- und Verantwortungsethik.
1919, der Krieg war für Deutschland verloren und der abgedankte Kaiser hackte Holz in Holland, behauptete Max Weber in seinem Vortrag „Der Beruf zur Politik“: „Politik wird mit dem Kopfe gemacht, nicht mit anderen Teilen des Körpers oder der Seele.“ Ach, wenn es doch nur so wäre. In diesem Vortrag erklärte Weber zum Entweder-oder, „dass alles ethisch orientierte Handeln unter zwei voneinander grundverschiedenen, unaustragbar gegensätzlichen Maximen stehen kann: es kann ‚gesinnungsethisch‘ oder ‚verantwortungsethisch‘ orientiert sein.“
Die sogenannten Realpolitiker nehmen bis auf den heutigen Tag für sich in Anspruch, verantwortungsethisch zu handeln, und schieben den „Idealisten“ oder den „Gutmenschen“ eine Gesinnungsethik unter, was nahelegen soll, die mit der Gesinnung seien verantwortungslos und unverständig. Weber hatte zwar zunächst betont: „Nicht daß Gesinnungsethik mit Verantwortungslosigkeit und Verantwortungsethik mit Gesinnungslosigkeit identisch wäre. Davon ist natürlich keine Rede.“ Am Ende aber dann doch: „Politik wird zwar mit dem Kopf, aber ganz gewiss nicht nur mit dem Kopf gemacht. Darin haben die Gesinnungsethiker durchaus recht.“ Aber er habe den Eindruck, dass man es bei den Gesinnungsethikern „in neun von zehn Fällen mit Windbeuteln zu tun habe“.
Professor Weber hielt seinen Vortrag in München, und wer in den Tagen der Räterepublik den 26-jährigen Schriftsteller Ernst Toller als roten Militärkommandeur auf weißem Pferd durch die Stadt hatte reiten sehen, wird – selbst bei anderen Zählergebnissen – das mit den Windbeuteln verstanden haben. Weber bestritt ihnen jedes „sachliche Verantwortungsgefühl“.
Nach der von Weber begrüßten blutigen Niederschlagung von „diesem Karneval, den man mit dem stolzen Namen einer ‚Revolution‘ schmückt“, wurde auf Toller ein Kopfgeld von zehntausend Mark ausgesetzt. Er wurde schnell verhaftet. Nach einer ersten Festnahme im Februar 1918, also vor der Revolution, hatte sich Weber für den jungen Dichter eingesetzt. Auch diesmal sagte er für ihn aus, wie Marianne Weber im „Lebensbild“ ihres Mannes erzählt: „Weber charakterisiert ihn im Verhör als ‚Gesinnungsethiker‘, der den politischen Realitäten gegenüber weltfremd sei und sich unbewusst an die hysterischen Instinkte der Massen gewendet habe. ‚Gott im Zorn hat ihn zum Politiker gemacht.‘ “
Diesmal kam Toller nicht frei, sondern wurde im Juli 1919 zu fünf Jahren Festungshaft verurteilt. Im Gefängnis schrieb er: „Das ist eine der furchtbaren Charakterschwächen der Deutschen: dieses Sichgewöhnen an alle Einrichtungen des Ungeistes, dieses Sichunterordnen unter die Gesetze der Unmenschlichkeit, dieses Sichwohlfühlen in der Knechtschaft, diese Scheu vor der Verantwortung, dieses Nichthören auf den Ruf des eigenen Gewissens.“ Verantwortungsbereitschaft und Gewissen sind für Toller gerade keine Gegensätze. Allerdings ist das Gewissen auch ein rechter Windbeutel – oder ein linker. Jedenfalls kann sein Ruf aus sehr verschiedenen Richtungen erschallen, gerade woher eben der Wind weht.
Umgekehrt müssen sich die Sachzwangethiker fragen lassen, wie Verantwortung im strengen Sinn überhaupt möglich sein soll bei der Gellner’schen „Unmöglichkeit, in komplexen Situationen Entscheidungen auf rationalem Weg herbeizuführen“. Wo soll die rationale Einsicht in den Zwang denn herkommen, wenn die Sache unbegreiflich ist? Und wie soll Rationalität organisiert werden, wenn sie immer nur auf einen Zweck oder einen Wert hin bestimmt werden kann, und wenn des Weiteren weder Zweck noch Wert die Mittel heiligen? Rationalität auf einen Zweck hin kann sich sehr irrational auf andere Zwecke auswirken; was hinsichtlich eines Wertes rational ist, kann sich für einen anderen als Katastrophe erweisen. Aufklärung wirft immer Schatten. Eben dies war die Einsicht der „Dialektik der Aufklärung“ von Horkheimer/Adorno, die wiederum von Webers Rationalitätsanalyse beeinflusst war.
Zu einer geschlossenen Theorie hat Weber es dabei nicht gebracht, obwohl sein posthum von der Gattin kompiliertes Hauptwerk „Wirtschaft und Gesellschaft“ so tut. Er macht es sich (und der Leserschaft) nicht leicht. Um es österlich auszudrücken: Er eiert ziemlich herum. Das lag nicht etwa an einer Selbstüberforderung Webers durch seine spezielle Begriffssoziologie, sondern hat mit der generellen Selbstüberforderung des Menschen beim Begreifen der Gesellschaft zu tun. Was wir handelnd anfassen, können wir meistens erst im Nachhinein denkend begreifen. Rationalität ist oft nur Rationalisierung, eine den vorgeschobenen Sachzwängen hinterhergetragene Vernünftigkeit.
Doch selbst wenn Verantwortung im Großen rational nicht möglich ist, muss sie aus emotionalen Gründen übernommen werden. Die Menschen halten es nicht aus, wenn etwas schiefgeht und niemand ist daran schuld. Eine rationalisierende Befreiung aus dieser emotionalen Zwangslage bietet die sogenannte politische Verantwortung. Berufspolitiker übernehmen sie, und nehmen sie bei Rücktritten auch mit sich fort. Dann können die Zurückbleibenden im Prinzip weitermachen wie bisher. There Is No Alternative. Es gibt bloß Webers harte Bretter: „Die Politik bedeutet ein starkes, langsames Bohren von harten Brettern mit Leidenschaft und Augenmaß zugleich.“ Nur wenn Revolution ist, wird die Bretterbude eingerissen. Und manchmal bricht sie einfach zusammen.
© Le Monde diplomatique, Berlin Bruno Preisendörfer ist Schriftsteller. Zuletzt erschien sein Roman „Die Schutzbefohlenen“, Gießen (Psychosozial Verlag) 2012; www.fackelkopf.de.