13.10.2006

Staub

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Staub

Zwischen Jerusalem und Ramallah liegt immer der Checkpoint. Eine Erzählung von Adania Shibli

Als Erstes achtet man am Checkpoint immer auf das Auto nebenan: Ist es vor einem, oder ist man selbst weiter vorn, daran heftet sich Hoffen und Bangen. Wenn man selbst vorn ist, empfindet man ein Hochgefühl, das den ganzen Tag anhalten kann. Und wenn der andere vorn ist, bricht man zusammen. Was tun? Soll man blinken, in die andere, schnellere Schlange wechseln, oder warten, bis die eigene sich doch noch in Bewegung setzt. Man wird nervös und kann das nicht mehr verbergen. Niemand kann es. Niemand passiert den Checkpoint Kalandia ohne zumindest einen kleinen Nervenzusammenbruch.

Ich habe es aufgegeben, den Checkpoint im Auto zu passieren, ich habe sowieso keins. Ein- oder zweimal habe ich mir das Auto von einem Freund geliehen, dann gab es Missverständnisse, jetzt sind wir keine Freunde mehr. Also passiere ich den Checkpoint mit Hunderten anderer über den staubigen Durchgang neben der Straße.

Im Sommer wird es unglaublich heiß hier. Jeder Gegenstand zeugt von der Hitze, vor allem die herumliegenden Plastiktüten. Sie wirken so trist unter ihrer grauen Staubschicht, dass der Gedanke, sie hätten einmal Bonbons oder Chips enthalten, unmöglich wird.

Was noch auffällt, während man auf den Boden schaut: Niemand trägt Sommerschuhe. Hohe Absätze oder Sandalen passen nicht zur Mode am Checkpoint. Die meisten haben Turnschuhe an, da die Füße manchmal tief im Staub versinken. Wenn man versucht, neben dem Staubweg zu gehen, übertönt ein Soldat, der einen anschreit, die Stimme des Mannes, der mitten auf dem Weg zehn Paar Socken für zehn Schekel anpreist.

Normalerweise stehen drei oder vier Soldaten am Checkpoint. Sie halten sich nicht für Schauspieler auf der Bühne von Kalandia, aber sie sind es. Sie haben ein großes Publikum, das sich spontan und von allein hier eingefunden hat. Der eine rechts oben telefoniert über ein Handy, vielleicht mit seiner Freundin. Ein anderer kontrolliert die Papiere, sehr langsam, wahrscheinlich langweilt ihn seine Aufgabe. Daneben sitzt noch einer und schaut teilnahmslos zu. Der vierte, links von der Straße, hat sich plötzlich umgedreht und pinkelt. Er nimmt sich viel Zeit, als stünde er an einem faulen Nachmittag bei sich zu Hause im Badezimmer. Danach wendet er sich zum Publikum und knöpft seine Hose wieder zu.

Der Sommer ist zu Ende und der Herbst kommt mit seinem besonderen Wind. Von weitem sehe ich ihn, den Herbst. Ich gehe möglichst unauffällig zum Checkpoint. Da sehe ich, wie der stürmische Wind Staub und Plastiktüten fortträgt. Ich bleibe stehen. Was tun? Soll ich schneller gehen oder stehen bleiben, normal gehen oder mehr nach rechts oder nach links? Komme ich an den Staubflocken vorbei, ohne dass sie mich berühren? Kraftlos stehe ich vor dem Sturm und vor mir selbst und vor den verschiedenen Möglichkeiten. Kein Ausweg. Der Sturm lässt mir keine Zeit, er kommt in meinen Mund und verschluckt mich.

Staub. Die Tragödie kann alle erfassen, auch wenn sie noch so unauffällig vorwärtsgehen. Staub und Verzweiflung lasten auf meinem Haar, meinem Gesicht, meinen Kleidern.

Ich überquere den Checkpoint also nur noch zu Fuß, gehe ans Ende der Autoschlange, selbst wenn sie bis nach Ramallah reicht. Ich kann den Anblick wartender Autos nicht mehr ertragen.

Normalerweise halte ich nur Taxen an, die mich nicht anhupen. Und ich nehme keine mit gelben Nummernschildern, weil die aus Jerusalem kommen. Die Leute aus Ramallah brauchen das Geld dringender. Am liebsten nehme ich einen Mercedes mit sieben Sitzen, weil das alte Autos sind und die Fahrer alte Männer. In den neuen Autos sitzen immer Halbstarke.

Diese ganze Privattheorie kostet mich eine Viertelstunde. Als der richtige Fahrer auftaucht, winke ich ihn heran und bezahle. Ich bin schmutzig, möchte mich in Stücke reißen, ertrage das Gefühl auf meiner Haut nicht.

Ich komme an, und meine Freundin sieht, wie schmutzig ich bin. Sie bietet mir an, bei ihr zu duschen. Vielleicht nur die Haare, sage ich. Ihr kleiner Sohn kommt mit ins Bad, um mir beim Haarewaschen zu helfen. Für ihn ist es ein Spiel. Ich halte meinen Kopf unters Wasser, und er schüttet die halbe Flasche Shampoo in seine Hand. Ich schreie auf. Fast würde ich ihm eine knallen, hey, pass auf, bist du verrückt geworden? Ich reiße mich zusammen und sage: „Vorsicht, nicht so viel Shampoo, Süßer.“ Aber das reicht, um ihm Angst zu machen. Er geht hinaus und lässt mich unter dem fließenden Wasser stehen. Immerhin wartet draußen seine Schwester noch, um mich zu kämmen. Wie lange schon hat mir niemand mehr das Haar gekämmt.

Ich habe keine Zeit mehr, eine Geschichte vorzulesen, weil ich noch andere Freunde besuchen muss. Mehr als drei habe ich nie auf meiner Liste. Ich mache einmal in der Woche Besuche, damit ich möglichst selten durch den Checkpoint muss. Meine Besuche sind dadurch zu einem Wettlauf gegen die Zeit geworden. Ich falle meinen Freunden ins Wort, höre mir nichts mehr bis zu Ende an. Nach eineinhalb Stunden muss ich wieder los. Eine Stunde, wenigstens eine Stunde. Dann eine halbe Stunde Weg bis zum nächsten Haus.

Jedes Mal frage ich mich hinterher, warum ich gekommen bin. Meine Besuche sind zu einer Pflicht geworden und zu einer Art Widerstand gegen die Checkpoints. Ich weiß nicht, ob meine Freunde diese Besuche noch wollen, ob sie mich noch mögen. Ich spüre es nicht mehr. Ich werde es nächste Woche spüren, wenn ich wiederkomme. Vor allem bei meinem kleinen Freund, den ich fast geohrfeigt hätte. Das nächste Mal, wenn ich vor Sonnenuntergang da bin, schauen wir ihn uns zusammen an, den Sonnenuntergang.

Den Schmerz kann ich vielleicht aushalten, aber den Staub nicht: Ab heute werde ich am Checkpoint einen Hut tragen. Auf dem Hinweg bin ich auf der Post vorbeigegangen, um ein Päckchen ins Ausland zu schicken, außerdem musste ich die Telefonrechnung bezahlen. Sie ist niedriger geworden, das Telefon klingelt auch seltener. Ich stelle mich in die Schlange. Es ist mir egal, wie lange ich warten musste. Warten ist zu einer Lebensform geworden. Drei sind vor mir. Ich lese alle Werbeplakate um mich herum. Ein kleines Mädchen hält sich am dunkelblauen Kleid seiner Mutter fest und starrt mich an. Manchmal stellt sie sich auf ein Bein. Ihre Lippen bewegen sich, als sänge sie tonlos ein Lied vor sich hin. Ihre Mutter flüstert der Frau neben sich etwas ins Ohr. Ich weiß nicht, ob sie auch ansteht. Mit ihr wären vier Leute vor mir. Vor ihr wartet ein Mann mit seiner Tochter, die im Postamt auf und ab läuft, dann zu ihrem Vater geht und ihm etwas zuflüstert. Wenig später kommt eine andere Frau hinzu. Die meisten Leute in der Schlange sind Palästinenser. Der einzige Israeli steht vorn am Schalter. Während die anderen flüstern, erfüllt seine Stimme den Raum. Er spricht ein schwerfälliges Hebräisch mit amerikanischem Akzent. Wie wird meine Stimme klingen, wenn ich an der Reihe bin. Ich versuche, sie mir vorzustellen. Ich werde Englisch sprechen. Die beiden Mädchen starren mich an, vor allem die vor mir. Ich will sie nicht anlächeln, blicke zurück. Als ich Furcht in ihren Augen erkenne, steigen mir Tränen auf.

Ich senke den Blick. Eine Träne tropft von meiner Nase. Die Kleine starrt mich weiter an. Der Israeli geht, und der Mann mit seiner Tochter tritt vor und sagt mit zögerlicher ruhiger Stimme in einer Mischung aus Arabisch, Hebräisch und dem, was er sonst noch kann, dass er alles Geld von seinem Konto abheben möchte. Die Beamtin erwidert in deutlichem, teilnahmslosem Hebräisch, dass sie nicht genug Geld in der Kasse habe. Als er nicht versteht, wiederholt sie den Satz. Er steht da, fragt schließlich die beiden Frauen vor mir, was sie gesagt habe, doch sie erwidern, sie könnten kein Hebräisch. Eine deutet auf die Frau hinter mir, vielleicht könne sie Hebräisch, sagt sie. Ein kleines bisschen, sagt sie und geht nach vorn. Langsam, mühevoll und leise versucht sie die Frau hinterm Schalter zu fragen, was sie gesagt hat. An mich wenden sie sich nicht. Da sie mich nicht gefragt haben, helfe ich ihnen nicht. Ich kann gut Hebräisch, aber ich helfe ihnen nicht, schweige. Ich höre zu, wie sie sich abmühen, und schweige weiter.

Ich bin nicht ganz sicher, ob die Beamtin eine Rassistin ist, ich fürchte ja. Ich habe Angst, dass mein Päckchen nicht rechtzeitig ankommt, weil ich Araberin bin. Sie wird sich nicht darum kümmern, es wochenlang liegen lassen, es nicht mit der gleichen Sorgfalt behandeln wie die anderen, nichtarabischen Päckchen. Also bleibe ich weiter stumm. Bloß wegen des Päckchens verberge ich die Tatsache, dass ich Araberin bin. Was würde ich tun, wenn ich Afrikanerin wäre?

Während ich meine Augen nicht abwenden kann, rechtfertige ich mein Schweigen damit, dass sich niemand an mich gewandt hat. Ich beobachte alles, beobachte die Mühe, die zögerlichen, geflüsterten Worte, beobachte meinen Verrat. Wie kann ich das Arabische je wieder in den Mund nehmen, nachdem ich es so verraten habe. Ich möchte am liebsten nie wieder sprechen. Hätte ich doch gerade eben gesprochen. Aber nein. Ich spüre, wie meine Zähne und meine Kiefer fest aufeinander liegen. Ich kann nicht.

Ich fahre nach Hause und warte auf einen Anruf meines Freundes. Das Wasser in den Rohren klingt mehr und mehr wie das Klingeln des Telefons. Jede Bewegung in der Wohnung wirbelt Staub auf. Ich mache Großputz. Danach stopfe ich alles, was meinen Körper auch nur eine Sekunde lang berührt hat, in eine Tasche und trage es zum Waschen nach Ramallah. Außerdem vereinbare ich einen Termin mit meinem Hautarzt. Er ist ein alter Freund, aber ich habe den Eindruck, dass er mir seine politischen Ansichten verheimlicht. Verdächtigt er mich? Ich möchte eine Salbe, doch er ist dagegen, meint, ich hätte nichts. Ich gebe auf, und wir reden über Literatur.

Draußen gehe ich mit festem Schritt durch die Straße. Ich blicke auf die Straße und sehe Speichelreste. Als ich meinen eigenen Speichel im Mund spüre, muss ich mich fast übergeben. Ich hebe den Kopf, so hoch ich kann, drehe ihn zur Seite und entdecke in einem Laden eine große Zeichnung, auf der ein Flugzeug eine Rakete in die Brust eines Kindes abfeuert.

Auf der Rückfahrt im Taxi riecht es nach frischer Wäsche, und ich fühle mich sauber. Ich denke daran, was meine Freundin, die aus Nablus stammt, mir eben erzählt hat: dass sie ihre Familie vermisst, aber wegen der Checkpoints nicht hinfahren kann und sich deshalb verbietet, sich nach ihr zu sehnen.

Warum berührt mich das alles so sehr, vielleicht grüble ich zu viel, empfinde viel mehr als notwendig. Wann werde ich zum Notwendigen zurückkehren, oder ist es auf ewig für mich verloren?

Zehn Paar Socken für zehn Schekel. Die Welt ist noch die gleiche wie zuvor. Ich passiere den Checkpoint und versinke im Staub, der jetzt zehn Zentimeter hoch liegt, samtweich unter den Füßen. Der Staub macht mir dieses Mal nichts aus, im Gegenteil. Ich fahre ja nach Hause, und da kann ich duschen. Aber was ist mit dem Elend? Ich dachte, ich könnte es ignorieren, ganz normal den Checkpoint passieren. Dazu müsste ich nur alle meine Gefühle eine Weile einfrieren. Ich bekomme Angst, fürchte, dass ich auf diesen paar Metern am Checkpoint mein Empfindungsvermögen verlieren werde.

Während der Rückfahrt im Taxi will ich etwas aufschreiben, doch ich tu es nicht. Meine Mitfahrer könnten denken, ich notierte etwas über sie, das gegen sie verwendet werden kann. Also schaue ich weiter auf meine Schuhe. Ich sehe, dass sie schmutzig sind, staubig, und will möglichst schnell nach Hause, um sie zu putzen. Alles ist schmutzig, entsetzlich schmutzig, kein Wunder. Der Staub hat seinen guten Grund. Er ist der Beweis, dass ich den Checkpoint wie alle anderen durchquert habe. Ich muss ihn ertragen. Das ist das Mindeste.

Damit ich den Staub nicht länger sehen muss, wende ich den Blick von den Schuhen ab und nehme einen Prospekt aus meiner Tasche. Ich blättere ihn durch und stecke ihn wieder ein. Vielleicht brauche ich die Telefonnummer der Kaffeerösterei noch, deren Anzeige darin stand.

Vom Auto nach Hause. Wie immer habe ich es am weitesten. Ich gehe über den Markt. Blicke folgen mir. Aus dem Augenwinkel sehe ich eine Gruppe junger Männer, von denen einer auf einen Wink hin aufsteht. Ich habe das Gefühl, dass er gleich auf mich schießt. Doch er geht an mir vorbei. Ein anderer steht auf und stellt sich mir in den Weg. Ungläubig weiche ich aus. Er hat mich nicht getötet. Ich kaufe noch ein halbes Pfund Kaffee, zwei Drittel hellen und ein Drittel dunklen, mit viel Kardamom. Auf dem Gesicht des Verkäufers liegt ein seltsames Lächeln. Als er mir das Wechselgeld zurückgibt, hält er seine Hand so hoch, dass er meine nicht berührt. Will er meine Hand nicht berühren, als hätte ich eine ansteckende Krankheit? Als würde er sich ekeln?

Ich gehe weiter. Der Weg nach Hause ist lang. Ich darf nicht laufen, nicht die Ruhe verlieren. Meine Augen sind fest auf den Boden geheftet. Ich denke über das Funkeln der verstreuten Glassplitter nach; von einer Scherbe zur anderen wandert mein Blick. Ich darf nicht mehr über den Markt gehen, sollte mir lieber einen anderen Weg suchen. Ich rechne mir aus, wie oft ich noch aus dem Haus gehen muss, und weiß nicht, wie ich das schaffen soll. Ich versuche gelassen weiterzugehen, so als wäre ich keine Kollaborateurin.

Ich bin eine Kollaborateurin. Ich sitze auf meinem Bett und betrachte den Fußboden, ich kann nicht mehr zur Decke schauen. Die Zeit vergeht, und der Kühlschrank ist leer. Es ist nichts zu essen da, ich muss hinunter zum Markt. Ich versuche ein wenig von meiner alten Energie wiederzufinden, die mich jeden Tag zum Markt gehen ließ, finde aber nur Gleichgültigkeit, ziehe meine Schuhe an und gehe hinaus. Unterwegs treffe ich ein paar Nachbarinnen, die sagen, sie hätten mich lange nicht gesehen, wo ich gesteckt hätte, aber ich will nicht mit ihnen reden, merke, dass ich sie nicht mehr ertragen kann. Ich weiß nicht, was ich kaufen soll, habe auf nichts Appetit. Ich gehe über den Fleischmarkt, bringe nicht den Mut auf, den Blick zu heben und die Fleischwaren anzuschauen. Ich versuche mein Gleichgewicht nicht zu verlieren, mir ein Stück Vertrautheit vorzuspielen, und gehe zum selben Metzger wie sonst. Fleisch liegt da, eine rote Kalbskeule, Lammhaxen, Zungen, starre Augen in abgetrennten Schafsköpfen. Ich kann das nicht, habe nicht die Kraft, Fleisch zu zerschneiden. Ich gehe über den Markt zurück nach Hause. Unterwegs kommt mir ein Junge entgegen und schießt mit dem Finger auf mich. Ich weiß nicht, was ich ihm getan habe. Ich gehe weiter, der Schweiß rinnt mir übers Gesicht.

Als ich zurückkomme, hat mir eine Freundin auf den Anrufbeantworter gesprochen. Sie fragt, wann ich nach Ramallah komme. Noch einmal gehe ich über den Markt. Jemand ruft meinen Namen, beschimpft mich. Ich drehe mich um, sehe jedoch niemanden und kehre nach Hause zurück. Ich weiß nicht, wie ich wieder hinausgehen soll.

Es ist Nacht. Soldaten halten mich an. Einer fragt, warum ich einen Reisepass habe und keinen Personalausweis. Weil ich frei bin, sage ich. Er fragt mich noch einmal, und ich antworte: Weil ich frei bin, einfach so, weil ich frei bin. Er bedeutet mir, an der Seite stehen zu bleiben. Ich schreie und schreie und schreie. Einfach so. Ich schreie wie eine Verrückte. Ich schreie, weil ich keine Kollaborateurin bin. Der Soldat kommt und gibt mir den Pass zurück. Ich schreie trotzdem weiter, und er bittet mich höflich zu gehen.

Ich weiß nicht, warum er höflich mit mir spricht. Was sollen die Leute denken, die vorbeigehen und das sehen. Und wenn er beim nächsten Mal wieder höflich mit mir spräche, wenn er sich meinen Namen gemerkt hätte, wenn er mich damit anredete, während ich mit Hunderten anderer den Checkpoint passiere, wenn er mich fragte, wie es mir geht heute. Was soll ich den anderen dann sagen? Ich werde wieder schreien, dann werden sie mich zwar für verrückt halten, aber nicht für eine Kollaborateurin.

Ich wachte auf vom Jaulen eines jungen Hundes. Ungewohnt leichtfüßig stieg ich aus dem Bett und suchte ihn, den jaulenden kleinen Hund, um ihm zu helfen. Doch ich fand nicht heraus, aus welcher Richtung das Jaulen kam. Ich stieg aufs Dach, blickte mich suchend um und horchte, während er weiterjaulte, als würde er an meiner Stelle jaulen. Plötzlich sah ich eine Frau auf einem der Dächer der jüdischen Gasse. Ich winkte ihr zu und fragte sie auf Englisch, ob sie das Jaulen höre, doch sie ignorierte mich. Trauer überfiel mich. Ich habe sie nicht um ein unabhängiges Palästina mit Jerusalem als Hauptstadt gebeten, ich wollte nur wissen, wo dieser kleine, jaulende Hund war. Ich ging wieder ins Bett, und während sein dauerndes Winseln sich wieder um meinen Kopf legte und seine salzigen Tränen auf meiner Haut brannten, heftete ich meine Augen an die Zimmerdecke. Dann öffnete ich abwechselnd die Augen und spielte mit den Tisch- und Stuhlbeinen.

Aus dem Arabischen von Michaela Kleinhaus Adania Shibli lebt in Ramallah, Jerusalem und London. Ihre Kurzgeschichte „Staub“ (hier leicht gekürzt) wurde für das Literaturprojekt Westöstlicher Diwan ins Deutsche übertragen. ©Le Monde diplomatique, Berlin Le Monde diplomatique Berlin nimmt am Zeitschriftenprojekt Documenta 12 magazines teil.

Le Monde diplomatique vom 13.10.2006, von Adania Shibli