Brief aus Amsterdam
von Ine Poppe
Diesen Brief schreibe ich aus meinem neuen Büro in einem Künstlerclub in Amsterdam. Durch Regen und Wind bin ich mit dem Fahrrad an den mit Herbstlaub übersäten Grachten entlang hierher gefahren. Unser Club liegt mitten im Zentrum an der Keizersgracht, im Haus des Nederlands Instituut voor Mediakunst, das unserer bunt zusammengewürfelten Gruppe den Dachboden vermietet hat.
Die zwei hohen schönen Räume in dem riesigen Grachtenhaus erreicht man über ein imposantes hölzernes Treppenhaus. Früher war das Haus von angehenden Tänzern bevölkert, davor beherbergte es eine Mädchenschule. Vorläufig sind wir hier zu fünft: Sam, der an der Technischen Universität unterrichtet und für ein Medialab in Rotterdam arbeitet; Menno, der vor über zwanzig Jahren den illegalen Amsterdamer Sender Rabotnik-TV gründete; die kanadische Bloggerin Michelle, die dem McLuhan-Institut angehört (McLuhan, der „Medium is the message“-Mann); Mart, ein Kunstorganisator, und ich, Journalistin und Künstlerin.
Sonst arbeitet jeder hier an seinen eigenen Sachen, aber wir gründen gerade den Club „Karlsson van het dak, Centrum voor tegen cultuur“ (Karlsson vom Dach, Zentrum für Gegenkultur). Wer kennt nicht das Kinderbuch von Astrid Lindgren mit dem eigensinnigen, unbequemen kleinen Mann, der auf dem Dach wohnt und mit einem Propeller auf dem Rücken über die Stadt fliegt? Er nimmt den jüngsten Spross einer „ganz normalen Familie“ mit, und gemeinsam erleben sie Abenteuer. Niemand glaubt dem Jungen, wenn er von dem seltsamen kleinen Kerl auf dem Dach erzählt; Karlsson, denken alle, sei bestimmt ein Fantasiefreund.
Unser Verein ist ein Produkt des gegenwärtigen politischen Klimas in den Niederlanden. Ganz Europa erlebt gerade einen Rechtsruck, die Niederlande vorneweg mit Geert Wilders und seiner Partij Voor de Vrijheid, PVV (Partei für die Freiheit), die den Koran mit „Mein Kampf“ vergleicht und die islamische Religion mit einer feindlichen politischen Ideologie verwechselt.
Hervorgegangen ist die PVV aus der Ein-Mann-Fraktion „Groep Wilders“, die 2004 ins Leben gerufen wurde. Inzwischen stellt die Partei mit 24 Mitgliedern die drittstärkste Fraktion im Parlament. Chefideologe und Redenschreiber von Wilders ist Martin Bosma, der in seinem Buch „De schijn-élite van de valse munters“ (Die Scheinelite der Falschmünzer) mit scharfen Worten dafür plädiert, die „Ideologie des Multikulturalismus“ zu zerschlagen. Bosma brachte im März 2009 im Namen der PVV den Antrag ein, im öffentlich-rechtlichen Fernsehen weniger Talkshows zu senden – wegen ihres „linken Charakters“. Und im September unterstellte er dem Kinderprogramm „islamische Propaganda“, weil es in einer Sendung um das Zuckerfest ging, mit dem die Muslime das Ende des Ramadans feiern.
Ich erinnere mich noch an Martin Bosma, als er für den lokalen Amsterdamer Fernsehsender Salto die Talkshow „De Hoeksteen Live“ (Der Eckstein Live) moderierte. Manchmal kam ich mit in den kleinen Verschlag über dem Café, der als Studio diente; mein Mann arbeitete, genau wie Bosma, unentgeltlich bei den Livesendungen mit. Dort rauchten wir, tranken Bier und diskutierten mit Politikern und Künstlern.
Davon abgesehen, dass die Partij voor de Vrijheid forderte, von allen Schuldächern die niederländische Fahne flattern zu lassen, ist in puncto Bildung und Kultur nicht viel von ihr zu erwarten. Sie beschränkt sich auf die Themen Immigration und freie Meinungsäußerung.
Im Dezember kommt uns ein guter Freund aus Bogotá besuchen. Er ist ein berühmter Komponist moderner klassischer Musik. Als Kolumbianer kommt man aber nicht so einfach in die Niederlande hinein, selbst ein simples Touristenvisum für zwei Wochen erfordert einigen Aufwand:
Auf dem Amsterdamer Rathaus musste ich erst einmal ein Formular kaufen, mit dem ich für meinen Freund bürge (14 Euro); eine beglaubigte Kopie meiner Heiratsurkunde erwerben (14 Euro); die Pässe und Arbeitsverträge von mir und meinem Mann kopieren und einen Beleg von der Handelskammer besorgen (ich habe ja einen Ein-Mann-Betrieb). Per Einschreiben wurden diese ganzen Papiere in die USA geschickt, wo unser Freund gerade wohnt (24,50 Euro). Kurz und gut: Jemanden für zwei Wochen nach Amsterdam einzuladen, kostet mindestens einen Arbeitstag und über 50 Euro. An der Kunsthochschule, an der ich unterrichte, erlebe ich ständig, dass nichtniederländische Studenten monate-, manchmal jahrelang auf Aufenthaltsgenehmigungen und Visa warten müssen.
In Amsterdam, unserer einst pulsierenden Weltstadt, herrscht Unruhe. Es wird gespart. Kunst, Theater und Musik haben derzeit keinen hohen Stellenwert. Alle besetzten Häuser werden nach und nach geräumt, die neuen Gesetze gnadenlos angewandt. Rassistische Sprüche sind gang und gäbe und werden mit der Meinungsfreiheit gerechtfertigt. Menschen unterschiedlicher Bevölkerungsgruppen sagen einander die unhöflichsten und hässlichsten Dinge. Angst, Drohungen, Terrorismus bestimmen den Ton. Alles ruft nach Sicherheit.
Nach monatelanger Lobbyarbeit setzte die Aktionsgruppe „Wij vertrouwen stemcomputers niet“ (Wir vertrauen Wahlcomputern nicht) durch, dass wir vorläufig wieder mit dem guten alten Stift abstimmen können. Wahlcomputer sind durchlässig wie ein Sieb, bewies die Gruppe aus der Hackerszene, zu der auch Rob Gonggrijp gehört, Mitbegründer der Hackergang Hippies from Hell. Im Oktober 2010 sagte er: „Müsste es nicht Grenzen für das geben, was ein Staat über seine Bürger wissen darf? In diese Art von Fragen können wir (niederländische Bürger – IP) uns nicht einmischen. In Deutschland geht das! Da sehen wir zum Beispiel, dass das Bundesverfassungsgericht (eine Institution, die es in den Niederlanden nicht gibt), die Datenspeicherung, wie sie von der EU vorgeschlagen wurde, abgelehnt hat. In Deutschland sind auch Wahlcomputer nicht zulässig.“
Wir vom Club Karlsson, Zentrum für Gegenkultur, finden, dass man gemeinsam Initiativen entfalten muss gegen den kulturellen Kahlschlag. Selbstgemacht, ohne Subventionen oder formale Vorgaben. Der Vorteil für Karlsson ist, dass wir uns auf dem Dach über einem staatlich anerkannten Institut mitten im Zentrum befinden. So können wir in bescheidenem Rahmen richtige Publikumsevents auf die Beine stellen.
In Radio und Fernsehen ist zurzeit mit viel Trara die Rede von Leuten, die zwei Pässe besitzen. Entstanden ist die Debatte wegen der idiotischen Idee der PVV, eine doppelte Nationalität bei Amtsträgern mit dem Argument zu verbieten, dass klar und deutlich sein müsse, wo die Loyalitäten liegen. Diese Aktion ist typisch für eine Politik, die sich nach einer monokulturellen Identität sehnt, die es in Europa in Wirklichkeit nie gegeben hat.
Gestern Abend war ich in einem stellenweise ziemlich witzigen Musical über Wilders. Schon 2008 haben junge Filmemacher einen Anti-Wilders-Film gedreht. 2007 ermittelte die Staatsanwaltschaft wegen Bedrohung von Geert Wilders gegen den Rotterdamer Künstler Jonas Staal, der zwei Jahre zuvor auf öffentlichen Plätzen in Rotterdam und Den Haag fingierte Gedenkorte mit Fotos von Wilders, Kerzen und Blumen inszeniert hatte. Er wurde in zwei Instanzen freigesprochen.
Aus dem Niederländischen von Verena Kiefer
Ine Poppe arbeitet als Journalistin, hauptsächlich beim NRC-Handelsblad, und als Dokumentarfilmerin in Amsterdam.
© Le Monde diplomatique, Berlin