08.05.2014

Brief aus Oslo

zurück

Brief aus Oslo

von Daniele Godor

Audio: Artikel vorlesen lassen

Es war zu jener Zeit, als ich in Kristiania umherging und hungerte, in dieser seltsamen Stadt, die keiner verlässt, ehe er von ihr gezeichnet worden ist …“ So begann Knut Hamsun seinen berühmten Roman „Sult“ („Hunger“), der 1890 in eben jenem Kristiania erschien, das heute Oslo heißt und Hauptstadt des Königreichs Norwegen ist. Oslo ist meine zweite Heimat, und ich habe diese Stadt immer schon als seltsam wahrgenommen, ohne wirklich zu verstehen, woran es liegt. Am 17. Mai begeht Norwegen den 200. Jahrestag der ersten eigenen Verfassung: ein großes Ereignis für Norwegen und vor allem für Oslo, wo die wichtigsten Feierlichkeiten stattfinden werden. Und ein guter Anlass, dem Eindruck des Seltsamen auf den Grund zu gehen.

Die Norweger genießen laut Human Development Index den höchsten Lebensstandard der Welt, und Oslo rangiert seit Jahren unter den Top 3 der teuersten Städte weltweit. Bei der Ankunft auf dem Osloer Flughafen erfüllt die Empfangshalle alle Erwartungen an moderne, skandinavische Aufgeräumtheit und den Wohlstand, von denen die Statistik spricht. Ein leiser Schnellzug bewältigt die 50 Kilometer bis ins Zentrum in 19 Minuten.

Auf der Fahrt beeindruckt eine Reihe avantgardistischer Hochhäuser, eng aneinander gebaut, schlank und unterschiedlich hoch. „Strichcode“ werden sie genannt: Oslo zeigt sich avantgardistisch, exklusiv und kapriziös. Dann aber der Kontrapunkt: Der Bahnhof, ein Ungetüm in graubraunem Beton aus den 1980er Jahren, vermittelt den Eindruck einer heruntergekommenen Shoppingmall, der Vorplatz ist eine von Teerflicken und Abfällen übersäte Asphaltfläche, wo sich Bettler, Fixer und andere Unglückliche tummeln.

Um einen herum dröhnt der Baulärm. Oslo ist eine gigantische Baustelle, seit Jahren eigentlich. Niemand scheint zu wissen, wie man den Verkehr, der sich durch einen unglaublichen Wirrwarr von Tunneln, provisorischen Kreisverkehren und Brücken quält, unauffällig ins neue Zentrum lenkt. Und mitten aus diesem hektischen, verstaubten Chaos ragt der Bau der neuen Oper aus weißem Carrara-Marmor. Sie ist nicht nur ein Anachronismus in modernem Gewand, sondern auch ein Symbol jener Gegensätze, die für Oslo so bezeichnend sind.

Ich gehe Richtung Osten, in den Bezirk Grønland. Langsam geht die Sonne unter und taucht die Stadt in jenes interessante blau-orangefarbene Licht, das für diese Tageszeit so charakteristisch ist und die berüchtigte Schäbigkeit des Bezirks für eine Weile in gnädigen, warmen Zauber taucht. Ich überquere Akerselva, den Fluss, der durch Oslo fließt. Direkt darüber eine heruntergekommene Autobahnbrücke in grüngrauem Beton. Am vermüllten Flussufer unter der Brücke ein Obdachlosenlager und ein anscheinend improvisierter Flohmarkt, auf dem abgenutzter Hausrat angeboten wird. Unwillkürlich muss ich an Queens oder Harlem denken, es fehlen nur noch die Tonnenfeuer, um das Klischee zu vervollständigen.

Das Straßenbild ist geprägt von den sogenannten Innvandrerbutikker („Einwanderergeschäfte“), die Schaufenster lieblos dekoriert und staubig. Das einzig Norwegische scheinen die Filialen der Zeitungs- und Junkfood-Kette Narvesen zu sein. Die Armut am Akerselva wirkt krasser, gnadenloser als anderswo, auch die Elenden am Bahnhof scheinen nicht nur Teil des üblichen städtischen Bahnhofsmilieus zu sein. Ich frage mich, woher die soziale Verwahrlosung im reichen Norwegen kommt.

An einem der für Oslo typischen gelb gestrichenen, dreistöckigen Altbauten wird mir die Tür geöffnet. Das Interieur wirft mich um: eine luxuriöse, komplett durchgestylte, moderne Wohnung mit Fußbodenheizung, ganz in Weiß und Naturholz. „Wie im Prenzlauer Berg“, fährt es mir durch den Kopf. Bei einer Flasche Rotwein erzählt mir Caroline, die Besitzerin, dass es vom Preis her kaum einen Unterschied mehr mache, ob man sich eine Wohnung im armen Grønland oder dem „spießigen Westen“ der Stadt kauft. Man müsse froh sein, überhaupt eine zu finden. Fast alle Wohnungen in Oslo sind Eigentum, die Mieten entsprechend hoch. Dabei war Oslo doch niemals „cool“, hier gab es keine Goldgräberstimmung wie in Prag oder Berlin.

Der Grund ist der Ölboom, der 1975 mit der Entdeckung der Ölquellen in der Nordsee einsetzte. Er machte Norwegen zum drittgrößten Erdölexporteur weltweit und brachte das Land quasi über Nacht auf die Weltkarte der Wirtschaftsmächte. Eine zutiefst lutherisch-protestantisch geprägte ländliche Gesellschaft musste plötzlich den Sprung in eine moderne Industriegesellschaft schaffen und verkraften. Dieses Dornröschen wurde nicht mit einem Kuss, sondern mit einem Elektroschock geweckt.

Oslo wurde forciert urbanisiert. Während eine finanzkräftige Mittelschicht sich des Wohnraums in der Hauptstadt bemächtigte, erlebte Norwegen einen Strom von Zuwanderung: Waren 1974 noch 67 439 Einwanderer in ganz Norwegen registriert (damals 1,6 Prozent von 4 Millionen Einwohnern), leben heute laut offizieller Statistik (des Statistisk Sentralbyrå, SSB) 200 000 Menschen mit Migrationshintergrund allein im Großraum Oslo, das sind 30 Prozent der Stadtbevölkerung.

Schon in den 1970er Jahren hetzte ausgerechnet die angesehene linke Tageszeitung Klassekampen (Klassenkampf): „Schließt die Grenzen! Bekämpft den Import von Fremdarbeitern!“ Die gesellschaftliche Ausgrenzung und die Bildung von „Problembezirken“ waren die Konsequenz, und die Entwicklung setzt sich fort. Anders Barstad vom SSB meint, dass die sozialen Unterschiede „sich reproduzieren“.

Die rechtspopulistische Fremskrittspartiet (Fortschrittspartei, FrP), der Anders Breivik einmal angehörte und die seit einem halben Jahr an der Regierung beteiligt ist, setzt prinzipiell Kriminalitätsrate und Ausländerquote gleich. Ausgerechnet diese Partei stellt die für die Einwandererpolitik relevanten Minister: Arbeit, Soziales, Integration und Justiz. „Ethnizität hat keinen Einfluss darauf, ob man kriminell wird oder nicht“, heißt es auf der Website der Partei, „aber viele haben sich entschlossen, am Rande des Gesetzes zu leben – jetzt muss aufgeräumt werden.“ Für die Obdachlosen hat die rechtskonservative Regierung bereits eine Lösung parat: Betteln soll schon ab diesem Sommer verboten werden.

Ich besuche die Oper, eines der Vorzeigeobjekte des neuen Oslo. Deren Architektur ist ebenso atemberaubend wie die Summe, die sie gekostet hat: Über 500 Millionen Euro hat der Staat für dieses Statement aus italienischem Marmor und Glas mit von einem dänischen Künstler eigens designten Toiletten springen lassen. Ein Statement wofür eigentlich, frage ich mich auf dem Operndach die Sonne genießend. Wohlstand? Kultur? Norwegen besitzt doch überhaupt keine Operntradition, wie ein Blick auf den Spielplan bestätigt. Opernvorstellungen sind neben allen möglichen anderen Veranstaltungen deutlich in der Minderheit, was freilich nicht daran liegt, dass das subventionierte Haus keinen ordentlichen Spielplan finanzieren könnte. In Wahrheit würden selbst die ganzen Eliten Kristianias einfach kein Haus füllen, in dem an fünf Tagen der Woche Oper gespielt wird. Der Unterschied zwischen Schein und Sein ist beträchtlich.

Diesen Gedanken werde ich auch beim Anblick des Astrup-Fearnley-Museums nicht los. Ein spektakulärer Neubau von Renzo Piano, bezeichnenderweise gesponsert von der Ölgesellschaft Lundin Norge, mit wechselndem Ausstellungsprogramm, das trotz der eigentlich guten Sammlung vor allem die Hoffnungen enttäuscht, das die extravagante Fassade erweckt.

Diese Bauten sind bezeichnend für das Problem des neuen Oslo und der norwegischen Gesellschaft insgesamt: Das, was einmal normal war und das Gefühl von Authentizität vermittelte, wurde durch „Motorbootrennen im Oslofjord“ abgelöst, wie der Historiker Berge Furre es ausdrückt, womit er eine neue Generation von Parvenüs meint. Krampfhaft wird dem Land in Oslo ein urbanes Image verpasst, das innen hohl ist, denn Norwegen war nie urban und hat inzwischen ein Identitätsproblem. Die Frage, was überhaupt „typisch norwegisch“ sei, wird häufig gestellt. 2003 kaufte das Außenministerium Berater ein, um zu definieren, was nun norwegisch und wie es am besten zu vermarkten sei. Der Versuch erbrachte zumindest das Ergebnis, dass diese Frage nicht mit Geld beantwortet werden kann. Das bisherige Vorgehen erinnert eher an die Entwicklung in Dubai oder das postsowjetische Neureichentum.

„Portionieren statt proportionieren“, nennt es mein Freund Justus und will damit sagen, dass Oslo in großen Portionen klotzt, statt Augenmaß walten zu lassen. In Verbindung mit der sozialen Verwahrlosung, dem Schmutz und der Lieblosigkeit macht dies einen Großteil dessen aus, was am modernen Oslo so seltsam ist.

Daniele Godor forscht an der Åbo Akademi in Turku, Finnland. Im Oktober erscheint seine Biografie des Opernsängers Set Svanholm: „Set Svanholm – Mästersångaren från Västerås“, Stockholm (Atlantis). © Le Monde diplomatique, Berlin

Le Monde diplomatique vom 08.05.2014, von Daniele Godor