Die Muslime von Tansania
Begegnungen mit Sheiks, Ninjas, Predigern und Professoren auf einer Reise von Daressalam nach Sansibar und Morogoro von Charlotte Wiedemann
Es ist halbdunkel im Arbeitszimmer von Ally Bassaleh. Zwischen Stapeln vergilbter Zeitungen sitzt der Scheich auf dem Boden, im Schneidersitz vor einem niedrigen Schemel, auf dem er in zügiger Schrift eine Radioansprache entwirft. Es liegt etwas Asiatisches über der Szene, Bassaleh trägt zum Achselhemd einen karierten Sarong. Der Indische Ozean ist kaum einen Kilometer entfernt, hier im Marktviertel von Daressalam mischen sich von jeher Einflüsse und Kulturen. Bassaleh, ein landesweit bekannter Prediger, lebt volksnah: ein geducktes, einstöckiges Häuschen, die Tür offen zur Straße, staubgesättigt fällt Licht herein, draußen die rostigen Handkarren der Händler. Der Scheich ist 63, er bebt vor Energie, ein kleiner, kerniger Kämpfer mit leuchtendem Blick. Wie andere tansanische Protagonisten der muslimischen Sache hat er etwas entschieden Diesseitiges, ähnelt eher einem aufgebrachten Gewerkschafter als einem samthändigen Religiösen.
Bassaleh predigt nicht nur im Radio und nebenan in seiner kleinen Moschee, sondern öffentlich, auf der Straße. Eine tansanische Spezialität, mihadhara genannt. Eine Art Kampfpredigt, für die eine polizeiliche Genehmigung erforderlich ist. Die Pfingstkirchen hatten damit begonnen; die Muslime zogen nach. Öffentlich predigen, das ist riskant in einem Land, in dem Christen und Muslime Tür an Tür leben – und jede Seite sich gern als Mehrheit fühlt. Der Staat hat seit langem darauf verzichtet, die jeweiligen Schäflein zu zählen. Im Zensus von 1967 hatten Christen 32 Prozent, Muslime 30, afrikanische Religionen 37. Muslime zitieren lieber den letzten kolonialen Zensus von 1957, der sie bei über 50 Prozent ansiedelte. Wenn man in Daressalam die Religionszugehörigkeit seines Gegenübers erfahren möchte, muss man ihm nur die Frage stellen: Wer ist die Mehrheit in dieser Stadt?
Scheich Bassaleh streicht sich über Knie und Schultern; manchmal muss er sich Spritzen setzen, damit seine Glieder nicht steif werden; das kommt von der Prügel, sagt er, die er sich geholt hat, als es darum ging, ob Jesus Gottes Sohn ist. Ein typischer, bizarrer Konflikt: Ein Prediger in der Stadt Morogoro hatte damals öffentlich ausgerufen „Jesus ist nicht Gottes Sohn!“. Nichts Besonderes eigentlich, für Muslime ist Jesus bekanntlich nur ein Prophet. Doch die Behörden im christlich dominierten Morogoro drehten durch, der Prediger wurde verhaftet, bekam 18 Monate Gefängnis. „Unglaublich in einem Land mit Religionsfreiheit!“, ruft Bassaleh. In Daressalam ging er auf die Barrikaden, führte eine Demonstration gegen das Urteil an, wurde von der Polizei verprügelt und landete selbst im Gefängnis, wegen Erregung öffentlichen Ärgernisses. Danach brüllten seine Kollegen im ganzen Land den Jesus-Satz.
Am Ende dieser Affäre stand ein kluges Urteil des obersten tansanischen Berufungsgerichts. Der Mann in Morogoro sei freizusprechen, denn er habe nur seinen Glauben ausgedrückt. Das könne unangenehm sein für Andersgläubige, müsse aber ausgehalten werden. „Damit waren wir sehr zufrieden“, sagt Bassaleh. Aber die Jesus-Affäre hatte lange genug gedauert, um sich ins Bewusstsein vieler Muslime einzubrennen. So wie zuvor die Morde im Stadtteil Mwembechai: Polizisten töteten vier Muslime außerhalb einer Moschee, nachdem ein christlicher Prediger behauptet hatte, in dieser Moschee sei Jesus beleidigt worden. Solche Vorfälle werden wachgehalten in der Erinnerung, sie werden zu wichtigen historischen Ereignissen stilisiert, wie die mythischen Erzählungen eines unterdrückten Volkes.
Denn die alltägliche und entscheidendere Bedrückung der Muslime ist weniger plakativ: Sie sind in der höheren Bildung und im Staatsdienst stark unterrepräsentiert. Nie stellten sie mehr als ein Fünftel der Studenten, oft weniger. Wie in der britischen Kolonialzeit dominieren Christen, vor allem Katholiken, im Bildungswesen. Weil es an Oberschulen mangelt, entscheiden nicht allein die Noten darüber, wer nach der Grundschule weiter lernen darf. Es wird ausgewählt – ein Nadelöhr. „Dieser Staat ist nur scheinbar neutral“, schimpft Bassaleh. „Er ist christlich, und er diskriminiert uns. Wir kämpfen für Gerechtigkeit, für gleiche Repräsentanz im Staat.“
Tansania hat 40 Millionen Einwohner; es ist das Land, in dem die Mehrzahl der ostafrikanischen Muslime lebt – und vor dem Hintergrund ihrer Geschichte ist ihr Statusverlust tatsächlich dramatisch. Kisuaheli, die Sprache Tansanias, war die Sprache der Muslime an der Küste; die Suaheli waren über Jahrhunderte eine gebildete, weltoffene Händlergesellschaft, sie hatten eine Literatur in arabischer Schrift, lange bevor die Afrikaner im Landesinnern ans Schreiben dachten. Die deutschen Kolonialherren nahmen deshalb Suahelis als Verwaltungsgehilfen mit ins Landesinnere und machten Kisuaheli zur Amtssprache der gesamten Kolonie Tanganjika. Muslimsein hatte damals einen Nimbus der Überlegenheit.
Als Tanganjika nach dem Ersten Weltkrieg an die Briten fiel, bekamen die Missionare freie Hand; sie züchteten nun eine neue, meist katholische Bildungselite heran. Bei den Muslimen mischte sich später die Wut auf koloniale Unterdrückung mit dem Grimm über die wachsende Christianisierung; die ersten Aufstände gegen die Briten begannen in muslimischen Stadtvierteln, später standen Muslime in der Unabhängigkeitsbewegung an vorderster Front. Doch nach der Unabhängigkeit 1961 bevorzugte der erste Präsident, Julius Nyerere, ein frommer Katholik, für die Verwaltung die gebildeten Christen.
Kisuaheli hält heute eine Nation von enormer ethnischer Vielfalt zusammen: Niedergerissen sind die Sprachbarrieren zwischen 130 Volksgruppen, alle Grundschüler sprechen dieselbe Sprache. Jedes vierte Wort dieser Sprache hat arabische Wurzeln, und doch scheint aus dem nationalen Gedächtnis wie ausradiert, dass Kisuaheli ein Erbe muslimischer Kultur ist. „Muslime lesen nicht gern“, sagt ein christlicher Journalist. „Sie haben immer lieber Moscheen als Schulen gebaut. Aber darüber kann man öffentlich nicht reden. Muslime sind so schnell beleidigt, sie würden uns umbringen.“
In den Siebziger Jahren kam ein pakistanischer Lehrer nach Tansania, der das Selbstbild der Muslime radikal verändern sollte. Sheikh Muhammad Hussain Malik war von der Regierung als Mathematiklehrer geholt worden; mehr als ein Jahrzehnt später wurde er des Landes verwiesen, doch da war seine Saat unter den Muslimen längst aufgegangen: Empörung und Selbstbewusstsein. Malik war hochgebildet, hatte in Vergleichender Religionswissenschaft promoviert, kannte Marx und Mao und die Debatten der Linken. Seine Wirkung war so ungeheuer, weil er auf ein Vakuum traf: Die Sheikhs, die in Tansania das islamische Wissen weitergaben, waren allenfalls zur Grundschule gegangen, lehrten religiöse Riten ohne Bezug zur Gegenwart, ohne Kenntnis vom Weltgeschehen. An der Universität von Daressalam scharten sich um Malik wissbegierige junge Männer und Frauen; im Laufe eines Jahrzehnts wuchsen sie zu einer neuen Generation muslimischer Intellektueller heran. Es war die Zeit des weltweiten islamischen Erwachens, die Revolution im Iran strahlte bis nach Afrika aus.
Mohammed Said gehörte zu dieser Gruppe der neuen Selbstbewussten, er wurde als Autor ein Motor der Bewegung. Said, jetzt 58, ist ein eloquenter, ungestümer Mann; er arbeitet bei der Hafenbehörde, im Marketing – ein Feind der Regierung im Sold der Regierung, auch das ist Tansania. Sein Großvater, erzählt Said, war ein Protagonist der frühen Unabhängigkeitsbewegung, „aber er wurde nirgendwo erwähnt“. So begann Said selbst zu schreiben, Bücher, Curricula, Pamphlete, gegen „die Verschwörung des Schweigens“, „gegen den Ausschluss der Muslime“ aus Tansanias Zeitgeschichte, „Es gibt zwei Geschichtsschreibungen; die offizielle, das ist die christliche, und unsere.“
Said brach als Erster ein Tabu: Er griff Julius Nyerere an, den Vater der Nation, den alle immer noch Mwalimu nennen, „großer Lehrer“. Er starb 1999; überall im Land hängt millionenfach noch immer sein Bild. „Niemals zuvor hatte jemand gewagt, Nyerere anzuklagen“, ruft Said donnernd und zeigt mit ausgestrecktem Zeigefinger so drohend in eine Ecke, als stünde dort der Mwalimu. „In seinen 23 Amtsjahren gab es keinen einzigen muslimischen Bildungsminister. Hat man je gefragt, warum?! Wir, die Muslime, wir haben Nyerere groß gemacht“, fährt Said fort. „Er machte damals eine gute Figur, er hatte einen Abschluss aus Edinburgh, so jemanden hatten die Muslime nicht. Sie merkten zu spät, dass sie betrogen wurden.“
Aber warum haben sich die Muslime damals ihrer Ausgrenzung nicht widersetzt? Mohammed Said antwortet mit einer Gegenfrage: „Wie hätten sich die Juden gegen Hitler wehren können?“ Ein grotesker Vergleich; bemerkenswert daran ist eine psychologische Komponente: Es geht ja um die Väter und Großväter der heutigen Kritiker; zur eigenen Entlastung werden sie zu hilflosen Opfern einer übermächtigen Diktatur stilisiert. Die Auseinandersetzung mit Nyerere, die derzeit alle islamischen Medien beschäftigt, ist auch eine Abrechnung mit der Anpassungsbereitschaft der beiden letzten muslimischen Generationen, mit ihrem unpolitischen Islam, der sich oft als Treue zur Qadiriyya zeigte, einer großen afrikanischen Sufi-Bruderschaft.
Generationskonflikte zwischen den jüngeren Gebildeten und den Altvorderen kennen auch die Muslime anderer afrikanischer Länder. Tansania hat jedoch seine spezielle Prägung, durch Nyereres Sozialismus und die Orientierung auf unverbrüchliche nationale Einheit. „Nyerere ist es gelungen, den Menschen eine extreme Loyalität zur Partei und zu sich selbst einzupflanzen“, sagt ein älterer Muslim. „Es war wie ein konfessionelles Bekenntnis. Kritik war Abweichung und Verrat. Niemand wollte illoyal erscheinen.“ Bricht heute auf, was Nyerere zusammenschweißte?
Die frühere Einheitspartei Chama Cha Mapinduzi (Partei der Revolution) wurde im November, bei der jüngsten Präsidenten- und Parlamentswahl, erstmals ernsthaft erschüttert: Ihr Anteil sank auf gut 60 Prozent – für eine ehemalige Staatspartei Afrikas ist das die gefühlte Nähe zum Abgrund. Die CCM gilt weithin als korrupt, ihre muslimischen nichts anders als ihre christlichen Funktionäre. Doch die Muslime, die es auf hohe Posten geschafft haben, gelten bei zornigen Glaubensgenossen als doppelt verkommen: Als Opportunisten in einem „christlichen System“ hätten sie für materielle Vorteile Glaube und Würde verraten.
So überkreuzen sich die Spannungen zwischen Christen und Muslimen mit den Spannungen innerhalb des muslimischen Lagers. Der regierungsnahe oberste Muslimrat trifft sich mit christlichen Partnern zu rituellen Dialogen – doch wen vertritt dieser Rat? Auf der Straße, in Moscheen und Marktbuden wächst die muslimische Opposition. Unter dem Sammelnamen Ansar al-Sunna firmieren diverse Gruppen, die das säkulare System ablehnen und bereits Wählen für Sünde halten: eine Untergrundbewegung. Die „Unabhängigen“ wie Sheikh Bassaleh und der Autor Said kämpfen hingegen um Einfluss im bestehenden Staat. „Tansania ist ein multireligiöses Land“, sagt Said. „Dazu passt das säkulare System, das wollen wir nicht ändern. Wir kämpfen innerhalb des Systems.“ Schließlich sind da noch die Wahabiten, die mit ihrem puristischen, textrigiden Islam beide Strömungen zu beeinflussen suchen.
Die arabisch-afrikanische Symbiose der Ungleichen
Doch Tansanias neuer politisierter Islam ist kein Import; die Spannungen werden durch die Weltlage nur verschärft. (Ebenso wie die antimuslimischen Gefühle vieler Christen. Sie bekommen nun Rückhalt durch eine Islamophobie, die aus Europa herüberschwappt.) Gegenüber der Mtoro-Moschee im Zentrum von Daressalam verkauft ein kleiner Laden DVDs mit den Ansprachen von Predigern; selbst gebrannte Scheiben, hübsch aufgemacht, alle einheitlich mit einem Foto. Testhalber lassen wir uns von den jungen Verkäufern die Scheiben der populärsten Sheikhs zeigen: Alle sind Tansanier, alle gehören zu den „Unabhängigen“.
So gibt es die eigenartige Situation, dass sich Muslime diskriminiert fühlen in einem Land, das derzeit von einem muslimischen Präsidenten regiert wird: Jakaya Kikwete, gerade in eine zweite Amtszeit gewählt. Er hatte die Steuerbefreiung der zahlreichen kirchlichen Betriebe abschaffen wollen; damit kam er nicht weit, aber die katholische Kirche nahm ihm schon den Versuch übel. Daraufhin bekam er die Stimmen vieler Muslime, die eigentlich nichts mehr von ihm wissen wollten. Der Feind meines Feindes ist mein Freund, so wurde häufig auf dem Wahlzettel entschieden.
„Der Vorwurf der Katholiken, er bevorzuge die Muslime, hat Kikwete so eingeschüchtert, dass er gegen unsere tatsächliche Benachteiligung nichts mehr unternehmen kann“, meint der Kolumnist Khalid Mtwangi. Der frühere Eisenbahner empfängt in einem Wohnzimmer von makelloser Bürgerlichkeit; Tischdecken mit Bügelkante, Plastikblumen, gerahmte Bilder. Doch Mtwangi schreibt für eine Zeitung, deren Schlagzeilen manchmal gefährlich auflodern. An-Nuur (Das Licht), wird vom Muslimischen Studentenverband herausgegeben, erscheint zweimal pro Woche, gilt als einflussreich. Als im Wahlkampf in manchen Kirchen eine geheime Kampagne für christliche Kandidaten lief, titelte An-Nuur: „Die Bischöfe machen unser Land zu einem Ruanda“. Als drohe den Muslimen ein Genozid.
Kurz nach dem Ruf des Muezzin zum Frühgebet hört man vielerorts die Kirchenglocken für die 6-Uhr-Messe. Dies ist ein Land der angespannten Religionsbeziehungen, aber auch der verschränkten Religiosität. Alle konfessionellen Festtage sind nationale Feiertage. Konversionen sind möglich, auch vom Islam zum Christentum, anderswo eine Todsünde. Viele Familien sind nicht ausschließlich christlich oder muslimisch, und Namen können täuschen: Der oberste Richter heißt Ramadhani, er ist Christ. Und dann ist da noch die Parallelgesellschaft der Muslime mit asiatischen Wurzeln, meist Schiiten der kleineren Denominationen, Ismaeliten, Bohoras.
Sie halten sich aus den Statuskämpfen der Sunniten heraus, hüten ihre Communitys und sichern deren Zukunft durch saftige Schecks an die herrschende Partei. Anders als in Nigeria, wo Christen und Muslime ebenfalls annähernd gleich stark sind und es immer wieder zu tödlichen Konflikten kommt, ist unter den Tansaniern das gemeinsame Nationalbewusstsein bisher stark genug, den Frieden zu erhalten. Noch handelt es sich hier nur um etwas, das wir in den Industriegesellschaften des Nordens normal finden: Verteilungskämpfe.
Oft scheint es gar nicht um Glaubenskonkurrenz zu gehen, sondern um schiere Macht. Und um eine Psychologie der Dominanz, wie man sie aus Genderdebatten kennt. Die Muslime in Tansania ähneln Frauen vor den Schranken männlicher Netzwerke. Christsein ist – unbewusst – die Norm, Muslimsein ein Sonderfall. Als am Institut für Diplomatenausbildung einmal alle drei leitenden Kader Muslime waren, kam es zu einer Parlamentsdebatte, wegen der Gefahr religiöser Bevorteilung. Jene Christen, die die Debatte beantragten, hatten schlicht übersehen, in wie vielen anderen Behörden Christen das Leitungsmonopol innehaben.
Seit langem verlangen die Muslime die Kadi-Gerichte zurück, die es in der Kolonialzeit gab: Solche Gerichte entscheiden muslimische Ehe- und Erbschaftsfragen nach der Scharia; es gibt sie in vielen islamisch geprägten Ländern mit ansonsten säkularem Recht. Seit anderthalb Jahrzehnten setzt das tansanische Parlament dazu Kommissionen ein, die sich stets vor einer Empfehlung drücken. Weil die katholische Kirche Druck macht, sagen Muslime. Aber auch säkulare Frauenrechtlerinnen stellen sich gegen die Anwendung der Scharia. Kenia hat Kadi-Gerichte jüngst in seiner reformierten Verfassung festgeschrieben; Muslime sind in Kenia nur eine Minderheit von 7 Prozent. Ist es leichter, einer Minderheit Zugeständnisse zu machen als einer halben Bevölkerung?
Das Schnellboot braucht von Daressalam nach Sansibar nur zwei Stunden. Kulturell und politisch ist die Entfernung zwischen der Insel und dem Festland weitaus größer. 1,2 Millionen Menschen, meist Muslime, leben auf Sansibar und den kleineren Schwesterinseln. Die Union mit Festlands-Tanganjika gab TanSANia 1964 den Namen, aber schon am Hafen gibt sich Sansibar so hochmütig, als sei es immer noch ein eigenes Sultanat: Pass vorzeigen! Sansibar, halbautonom, hat einen eigenen Präsidenten, ein Parlament, eine Flagge, eine Hymne – und wollte Mitglied der OIC werden, der Konferenz islamischer Länder. Das Festland stellte sich dagegen. Auch die Union ist eine Bühne, auf der die Konflikte um den Status der Muslime ausgetragen werden.
Stonetown, die arabisch geprägte Altstadt Sansibars, zählt 51 Moscheen auf einem knappen Quadratkilometer. Die meisten sind kaum als Gebetshäuser zu erkennen: So unprätentiös bauten Muslime in einer Umgebung, wo der Islam immer schon da war – seit dem 10. Jahrhundert; er kam mit Persern und Jemeniten. Später residierten in Sansibar lange die omanischen Sultane. Hier bündelt sich islamische Geschichte, einschließlich der unrühmlichen des Sklavenhandels; hier gingen Arabien und Afrika eine Symbiose der Ungleichen ein.
Trügerisch die Erwartung, an einem solchen Ort eine gesicherte, gesättigte muslimische Identität zu finden, ein Gegenmodell zum hungrigen, ruhelosen Islam der tansanischen Festlandsmuslime. Zuerst sieht man nur die blendende Vielfalt in Sansibars kosmopolitischer Alltagskultur, eine Melange aus Pilau und Biriyani, aus Bob Marley und Kairo-Pop, mit uralten indischen Türen und neuen chinesischen Fahrrädern. Und am Eingang des Ladens für traditionelle Medizin hängt links die Fahne von Chelsea und rechts die von Manchester United. Auf den zweiten Blick beginnt man zu ahnen, wie eine konservative islamische Kultur, die einst im Rhythmus der monsungesteuerten Schifffahrt lebte, nun flattert in den heftigen Böen aus zwei ganz gegensätzlichen Richtungen: Hier die Libertinage, die mit den westlichen Touristen kam; dort der wahabitische Einfluss, den junge Sansibarer vom Studium in Saudi-Arabien heimbrachten.
Junge Frauen mit Niqab fühlen sich cool und special
Selbstbewusstsein und Zerrissenheit: Farid Hamid, ein junger Historiker, verkörpert beides. Ein Mann im Blumenhemd, der seine Tasche aus Palmfasern, ein unverzichtbares Utensil in Sansibar, damenhaft-elegant unter den Arm klemmt. Hamid arbeitet mit Jugendlichen, viele haben Drogenprobleme, und wenn er erzählt, wie „verwirrt“ sie seien, spricht er zugleich über sich selbst. „Wir lieben den westlichen Lifestyle, aber nicht die westlichen Regierungen. Die jungen Leute flüchteten vor dem Islam, weil sie dachten, das bringt sie nicht weiter. Jetzt kommen sie zurück und sagen: Der Islam ist die Lösung. Wir fangen an, erwachsen zu werden. Wir begreifen jetzt: Die Globalisierung war immer schon islamisch – der eine Gott! Später wurde die Globalisierung verwestlicht. Aber der Westen muss respektieren, dass wir, die Muslime, gewinnen werden.“ Hamid lacht: Ist das nicht alles zu komisch? „Wir benennen vieles nach westlichen Filmen“, sagt er noch. „Zum Beispiel die Ninjas.“
Die Ninjas sind Frauen, die den Niqab tragen, den Gesichtsschleier, und sie sind das auffälligste Zeichen einer Verwirrung, einer suchenden hybriden Kultur. Sie binden das schwarze Rechteck des Niqab über grellbunte Tücher, über orangefarbenen oder rotgetupften Polyester. Wenn ihnen heiß wird im gedrängt vollen Bus, schlagen sie das Ding einfach zurück, es flattert dem Nachbarn ins Gesicht, das ist den selbstbewussten Ninjas völlig egal. Sie verhüllen sich, wenn sie nicht erkannt werden wollen; man munkelt von Seitensprüngen, Ladenbesitzer klagen über Diebstähle im Schutz des Schleiers. Die Ninjas gelten als Symbol von Frömmigkeit wie von Heuchelei; sie schwimmen im Strom mit und wollen darin doch ihr eigenes Spiel spielen. Wir treffen sie auch auf dem Festland, junge Frauen, denen anzusehen ist, dass sie sich special fühlen, wenn sie Schwarz in Schwarz im Dunkel ihrer Marktbude stehen, wie eine reglose, geheimnisvolle Säule.
Von Sansibar begleitet uns der Mond zurück aufs Festland. Hilal, die Mondsichel, das Symbol des Islam. Sie zu sehen ist Muslimen eine Herzensangelegenheit, so war es jedenfalls früher; ihr Erscheinen nach dem Neumond bestimmt, wann Muslime ihre Festtage feiern. Nun naht das Opferfest, aber wann genau? Die Wahabiten auf Sansibar verlangen: Mekka entscheidet, der Mond über Mekka. Aber haben sich die stolzen Sansibarer nicht immer nach ihrem eigenen Mond gerichtet? Nun sind sie entzweit über diese und andere Fragen des Ritus. Darf man Maulid feiern, den Geburtstag des Propheten? In Ostafrika ein fröhliches Weihnachten der Muslime. Nein!, sagen die Wahabiten: Der Prophet pflegte seinen Geburtstag nicht zu feiern.
Auch auf dem Festland: ein geteilter Mond. Hier sagt der hohe Rat der Regierungsmuslime: Das Opferfest beginnt Mittwoch. Doch in vielen Moscheen ruft schon Dienstag früh, wie zum Hohn, der Muezzin zum Festgebet. Vor die Wahl gestellt zwischen dem Regierungsmond und dem Mekkamond scheint das halbe muslimische Tansania dem Wahabiten-Mond den Vorzug zu geben. Ein Debakel: Wie wollen Muslime ihren Status verbessern, wenn sie sich nicht einmal einig sind, wann ihr höchstes Fest stattfindet?
Ankunft in Morogoro, unserer letzten Station. Morogoro, die Stadt der Jesus-ist-nicht-Gottes-Sohn-Affäre. Aber deswegen sind wir nicht hier. Morogoro hat seit fünf Jahren eine „Muslimische Universität“, der Versuch einer Antwort auf die muslimische Bildungsmisere. Ein grünes Eisentor, dahinter ein beschaulicher Campus mit Blumenrabatten. Noch sind es erst 1 500 Studenten, darunter viele Mädchen, ein Teil sogar Christinnen. Sie schätzen die behütete Atmosphäre, ohne Alkohol, der sonst in Tansania allgegenwärtig ist. Die Uni ist privat, finanziert sich vor allem über Studiengebühren; damit folgt sie einem Trend: Es entstehen immer mehr private, religiöse Bildungsinstitute im Land, und auch da gelten die christlichen als die besseren.
Die muslimische Uni entstand indes durch eine Geste: Der damalige Staatspräsident Benjamin Mkapa, ein Christ, wollte 2005 vor seinem Ausscheiden aus dem Amt ein Signal der Versöhnung an die Muslime senden; er schenkte ihnen den Campus eines früheren staatlichen Trainingszentrums für Elektroingenieure. „Mkapa konnte das nur tun, weil er Christ ist. Ein muslimischer Präsident wäre dafür mit Amtsenthebung bedroht worden“, meint Hamza Njozi, der Vizekanzler. Njozi ist ein bekannter Kopf der „Unabhängigen“, eines seiner staatskritischen Bücher wurde verboten. Der geschenkte Campus löste unter den oppositionellen Muslimen damals heftigen Streit aus: Nur Gebäude mit nichts drin, nach Jahrzehnten der Diskriminierung?! Njozi schlug sich auf die Seite der Pragmatiker: „Ich konnte zumindest verhindern, dass die Übergabezeremonie gesprengt wurde.“
Die neue Uni überrascht in jeder Hinsicht. Zunächst durch ihre Säkularität. Die meisten Studenten wollen Lehrer werden, und auch die übrigen Fächer sind nur zum kleineren Teil islamisch. Jura wird zum Beispiel durch einen Scharia-Teil ergänzt – und selbst das wurde von einem christlichen Experten abgesegnet. Denn alle Curricula bedürfen staatlicher Genehmigung, und der Kreis der wissenschaftlichen Gutachter, die von der Regierung betraut werden, besteht – man ahnt es schon – vorwiegend aus Christen.
Die Überraschung wird aber noch größer: 90 Prozent der Dozenten an der Muslimischen Universität sind Christen. „Wir wollen gute Leute, sonst schneiden wir uns ins eigene Fleisch“, sagt Njozi lapidar. Die Dekanin der naturwissenschaftlichen Fakultät ist sogar eine Hindu, eine Inderin mit rotem Fleck auf der Stirn. Das alles ist ein Zeichen großer Toleranz, aber auch ein Zeichen der Not. Denn erst hier versteht man so richtig, wie knapp die Ressource Bildung in einem armen Land wirklich ist. Alle tansanischen Unis nutzen denselben kleinen Pool von Professoren; sie reisen quer durchs Land, fliegen im Flugzeug zur Vorlesung an den Victoria-See oder versuchen im Langstreckenbus auf holprigen Pisten zu schlafen. Den Lehrplan der Muslimischen Universität zu organisieren, ist ein Albtraum; manche Fächer werden nur am Wochenende unterrichtet, mit Dozenten von auswärts.
„Diese Uni ist muslimisch“, sagt der Vizekanzler, „weil sie Muslimen gehört, von ihnen geleitet und finanziert wird. Und weil die meisten Studenten Muslime sind.“ Islamisch sind vor allem die Werte, denen die Studenten folgen sollen. Eine Erziehung zu Würde und Selbstlosigkeit. Von hier sollen nichtkorrupte Anwärter für den Staatsdienst kommen. Und die Lehrerstudenten verpflichten sich, später auch in den abgelegensten Landesteilen zu unterrichten.
Über den Campus schlendert eine Ninja in leuchtendem Rot. Ursprünglich hatte die Universität die Vollverschleierung verboten, ein Signal gegen Extremismus. Als eine Studentin mit Niqab der Vorlesung verwiesen wurde, flammten Proteste auf, eine Demonstration auf dem Campus, die Presse kam, und die Kommentatoren echauffierten sich: Wieso sind Ninjas an Regierungsunis und an christlichen Colleges erlaubt und hier nicht?! So schrieben auch christliche Journalisten. Die muslimische Stiftung, in deren Besitz sich die Universität befindet, gab dem Druck nach, hob das Niqab-Verbot auf. Nun gibt es mehr Ninjas als zuvor, Vizekanzler Njozi ist besorgt. Er hofft, das alles sei nur eine schreckliche Mode, die wieder verebbt. „Aber leider sieht es gar nicht danach aus.“ Ob ihn beruhigen würde, was Studentinnen in einer Vorlesungspause erzählen? Es gebe jetzt auch christliche Ninjas.
Charlotte Wiedemann ist Journalistin und Autorin, zuletzt erschien von ihr: „Ihr wisst nichts über uns! Meine Reisen durch einen unbekannten Islam“, Freiburg (Herder) 2008.
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