Aus Ecuador
Rafael Correa, der Sieger bei der Präsidentenwahl vom 26. November, nannte die massenhafte Emigration seiner Landsleute eine nationale Tragödie. Es gibt keine präzisen Statistiken, wie viele der etwa 13,5 Millionen Ecuadorianer noch in ihrer Heimat leben. Etwa vier Millionen von ihnen sollen in den vergangenen 20 Jahren das Land verlassen haben. Von den im Land Gebliebenen lebt die Hälfte in Armut. 80 Prozent der ecuadorianischen Bevölkerung erhalten Geld von Verwandten aus dem Ausland, insgesamt 1,7 Milliarden Dollar pro Jahr.
Nachdem im Jahr 2000 der US-Dollar als Zahlungsmittel eingeführt wurde, ist der Lebensstandard dramatisch gesunken, denn diese Umstellung hat die Produktionskosten im Land über das Niveau der Nachbarstaaten angehoben und damit einen Kahlschlag in Industrie und Landwirtschaft bewirkt.
Das Land ist im Ausland mit 18 Milliarden Dollar verschuldet. Dabei verfügt es über große Erdölvorkommen und ist der viertgrößte Ölexporteur in der Region. Aber „80 Prozent Öl gehören den internationalen Konzernen“, sagt Correa, „Wir haben den niedrigsten Anteil in ganz Lateinamerika.“
Kein Wunder, dass in den letzten zehn Jahren drei Präsidenten durch Volksaufstände aus dem Amt gejagt wurden und die massenhafte Abwanderung das Land ausblutet.
Der Aderlass begann in den 80er-Jahren, als Präsident León Febres Cordero neoliberale Konzepte durchsetzte. Bis 2002 waren 80 Prozent der Auswanderer indigene Bauern. 2003 begannen qualifizierte Arbeitskräfte, darunter viele Ingenieure, Lehrer und Ärzte, auszuwandern, hauptsächlich nach Europa. Viele der qualifizierten Emigranten verfügen wenigstens über ein Einkommen, mit dem sie die Reise bezahlen können. Die Armen müssen sich dafür verschulden. 4 000 Dollar verlangten Menschenhändler, die sogenannten „Coyoten“, im Jahr 2000 von jedem, der von Ecuador aus illegal in die Vereinigten Staaten gelangen wollte. Drei Jahre später waren es 8 000 Dollar. Heute kostet die gefährliche Odyssee zwischen 10 000 und 12 500 Dollar.
Seit Beginn des Jahres treibt die neue Einwanderungspolitik der USA und die verschärfte Überwachung an ihren Grenzen die Kosten weiter in die Höhe. Den entstehenden Geldbedarf decken chulqueros genannte Kredithaie, die für ihre Dienste zwischen 30 und 40 Prozent Zinsen verlangen.
Geführt von den Coyoten, gelangen die Anwärter auf den American Way of Life über den Ozean bis nach Mittelamerika. Von dort übertreten sie auf geheimen Pfaden die Grenzen Mexikos und später, falls alles gut geht, auch die der USA.
Billiger ist die Reise nach Europa und auch weniger gefährlich, denn dafür benötigt man nur falsche Papiere. Laut der spanischen Tageszeitung El País leben in Spanien bereits 800 000 Ecuadorianer. Viele schuften hier im Obst- und Gemüseanbau bis zu 15 Stunden am Tag. Sie müssen mit Elendslöhnen nicht nur ihren Lebensunterhalt bestreiten und ihren Familien Geld schicken, sondern auch die Raten an die chulqueros bezahlen. Wenn etwas schiefgeht, ist das für alle Beteiligten eine Katastrophe. „Die chulqueros sind eine Mafia“, bestätigt Freddy Cabrera, ein Lehrer in einem alternativen Schulprojekt in Riobamba. „Bevor sie dir Geld leihen, belehnen sie das Haus oder die Felder deiner Familie. Wenn du deine Raten nicht zahlst, konfiszieren sie den Familienbesitz. Wenn du stirbst, stehen deine Eltern auf der Straße.“
Maurice Lemoine