15.12.2006

Eine Visionfür Nahost

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Eine Visionfür Nahost

von George Corm

Nach den Vorstellungen der US-Regierung, denen sich die europäischen Regierungen weitgehend angeschlossen haben, ist eine umfassende Lösung des Nahostkonflikts von drei Vorbedingungen abhängig: erstens von der Entmachtung der Hamas im Gaza-Streifen und im Westjordanland sowie der Hisbollah im Libanon – oder zumindest ihrer militärischen Flügel; zweitens von politischem Druck auf die Regime in Syrien und im Iran, die als Hindernis für die eigene Stabilisierungspolitik in der Region gesehen werden; und drittens von der Etablierung von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit in der arabischen Welt.

Nur wenn die Regierungen, die politischen Parteien und die Zivilgesellschaft der Region diese Politik energisch umsetzen, wäre demnach auch der Sieg über den Terrorismus im Nahen Osten möglich. Und nur dann könnte man auch eine Lösung für die Palästinafrage erreichen. Sobald Israel nicht mehr um seine Zukunft fürchten müsse und sich friedlich in die Region integrieren könne, werde es einige Territorien aufgeben und die Entstehung eines palästinensischen Staates zulassen.

Im Westen gehen also viele Akteure davon aus, dass die Streitkräfte der USA und Israels nur auf ein einziges Ziel hinarbeiten: die Welt von der Geißel des Terrorismus zu befreien und überall Frieden und Demokratie zu etablieren. Im Folgenden möchte ich eine abweichende Sicht der Dinge präsentieren, die man als unrealistisch oder gar gefährlich abtun wird. Ich muss sie hier dennoch vortragen, weil sie meiner Meinung nach die Hoffnungen vieler Demokraten und Pazifisten in der Region ausdrückt – seien sie Juden, Christen oder Muslime. Diese Vision orientiert sich weitgehend an dem rechtlichen Rahmen, den die internationale Gemeinschaft seit 1947 für die Lösung des israelisch-palästinensischen Konflikt gesetzt hat. Die folgenden Thesen gehen von einer Annahme aus, die der gesunde Menschenverstand nahelegt: Die Gewalt, die sich in der libanesisch-syrisch- palästinensischen Konfliktregion äußert, ist großenteils eine Folge der jahrzehntelangen Besetzung von Territorien dieser drei Länder durch Israel wie auch der tagtäglichen Erfahrung der Bevölkerung unter einem Besatzungsregime, das gegen allgemeine Rechtsgrundsätze und humanitäre Prinzipien verstößt.

1. Nach Geist und Buchstaben der Resolutionen, die von den Vereinten Nationen 1948 und 1949 zum israelisch-palästinensischen Konflikt verabschiedet wurden, erstreckt sich das Gebiet von Palästina vom Mittelmeer bis zum Jordan und ist Heimat einer offenen und vielfältigen Gesellschaft; keine Religionsgemeinschaft hat das Recht auf alleinige politische Machtausübung oder Bewaffnung. Jerusalem ist eine offene Stadt, die von einem zu gleichen Teilen aus Juden, Christen und Muslimen gebildeten Stadtrat geführt wird.

2. Nach der 2004 ergangenen Entscheidung des Internationalen Gerichtshof in Den Haag muss die von Israel im Westjordanland errichtete Mauer zur Einschließung der Bewohner dieses Gebiets unverzüglich abgerissen werden, um den Palästinensern uneingeschränkte Bewegungsfreiheit innerhalb des Westjordanlands und auch den Zugang zum Gaza-Streifen zu sichern. Die Ausreise aus diesen Gebieten – mit Ausnahme des Eintritts in israelisches Staatsgebiet – ist ausschließlich Sache der Palästinensischen Autonomiebehörde oder an den Landgrenzen Ägyptens und Jordaniens der Polizei dieser Staaten. Israel muss die gegen die palästinensische Bevölkerung gerichtete Blockade der Luft-, Land- und Seewege unverzüglich aufheben.

3. Die Bewohner der unter Bruch der Genfer Konvention errichteten israelischen Siedlungen können dort weiter leben, sofern Israel die Palästinenser entschädigt, deren Land beschlagnahmt wurde. Dabei wird eine Verzinsung nach dem Jahreszinssatz für Dollarguthaben im Interbankverkehr am Finanzplatz London berechnet.

Für ein Plebiszit der beiden Völker

4. In Anwendung der am 11. Dezember 1948 von der Generalversammlung der Vereinten Nationen angenommenen Resolution 194 sollen jene Palästinenser, die 1948 und 1967 von der israelischen Armee vertrieben wurden oder vor ihr flohen, sowie deren Nachkommen das Recht auf Rückkehr in das gesamte Gebiet des historischen Palästina wahrnehmen können oder ersatzweise vom Staat Israel entschädigt werden.

5. Die israelische Armee muss sich innerhalb von 15 Tagen aus dem Westjordanland und dem Gaza-Streifen zurückziehen, sie ist durch eine internationale Truppe zum Schutz der palästinensischen Bevölkerung in den besetzten Gebieten abzulösen.

6. Nach Ablauf von sieben Jahren wird in den von Israel seit 1967 besetzten Gebieten sowie in Israel selbst eine Volksabstimmung durchgeführt, in der die Angehörigen beider Völker darüber befinden, ob sie in einem gemeinsamen Staat, einem Bundesstaat oder in zwei getrennten Staaten leben wollen.

7. Es wird ein Fonds zur Entschädigung der palästinensischen Bevölkerung in den besetzten Gebieten gebildet, dessen Mittel zu gleichen Teilen von den G-8-Staaten und den arabischen Mitgliedern der Organisation erdölexportierender Staaten (Opec) aufgebracht werden. Aus diesem Fonds erfolgen die Reparationszahlungen für die in den vergangenen Jahrzehnten erlittenen Nachteile durch Unterdrückung und Besatzung.

8. Der gemeinsame Staat oder jeder der beiden selbstständigen Staaten wird sich international für neutral erklären und weder mit den Großmächten noch mit regionalen Mächten militärische oder politische Sonderbeziehungen unterhalten.

9. Das seit 1967 von Israel besetzte syrische Golangebiet wird an Syrien zurückgegeben. Auf beiden Seiten der Grenze werden entmilitarisierte Zonen geschaffen. Die israelischen Siedler in diesem Gebiet können dort bleiben, und zwar unter den gleichen Voraussetzungen wie die Siedler im Westjordanland. Nach Einrichtung der Sicherheitszonen und Entschädigungszahlungen durch die Siedler nehmen Israel und Syrien unverzüglich diplomatische Beziehungen auf.

10. Nach Rückgabe des von Israel besetzten Gebiets der Scheeba-Farmen an den Libanon sorgt Israel für die Räumung der Minen im Südlibanon, den es 22 Jahre lang besetzt gehalten hat (womit Israel die UNO-Sicherheitsratsresolution 425 missachtete und die UNO-Beobachtermission Unifil daran hinderte, Positionen unmittelbar an der Grenze zwischen beiden Ländern zu beziehen). Auf beiden Seiten der Grenze werden entmilitarisierte Zonen unter UNO-Kontrolle eingerichtet. Ein Entschädigungsfonds wird aufgelegt, aus dem die wirtschaftlichen Verluste auszugleichen sind, die Israel dem Libanon seit 1968 durch wiederholte und extrem unangemessene Vergeltungsmaßnahmen zugefügt hat. Die Mittel für diesen Fonds werden zu gleichen Teilen von Israel, den G-8-Staaten und den arabischen Opec-Staaten aufgebracht, wobei die aufgelaufenen Zinsen nach dem unter Punkt 3 geschilderten Verfahren berechnet werden.

11. Israel muss unverzüglich alle palästinensischen Gefangenen aus dem Gaza-Streifen und dem Westjordanland sowie alle libanesischen und syrischen Gefangenen freilassen.

12. Palästinenser mit israelischer Staatsbürgerschaft erhalten die gleichen bürgerlichen und politischen Rechte. Das israelische Wahlrecht muss ihnen die angemessene Vertretung im Parlament, in örtlichen Körperschaften sowie in der Verwaltung, im Militär und im Justizwesen des Landes sichern.

Aus dem Französischen von Edgar Peinelt George Corm war libanesischer Finanzminister und ist Autor u. a. von „Missverständnis Orient: Die islamische Kultur und Europa“, Zürich (Rotpunktverlag) 2004, sowie „Le Proche-Orient éclaté. 1956–2006“, Paris (Gallimard) 2006.

Le Monde diplomatique vom 15.12.2006, von George Corm