15.12.2006

Stützpunkte der Zukunft

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Stützpunkte der Zukunft

Eine Weihnachtspredigt von Mathias Greffrath

Irgendeine Firma, ich vermute, die Tochter einer Holding mit Sitz in Luxemburg, hat das Land mit hunderttausend Holzbuden vollgestellt. Es riecht nach Glühwein mit Geschmacksverstärker. Angehörige des Prekariats verkaufen Holzspielzeug aus dem chinesischen Erzgebirge. Wir Freiberufler stehen schon nachmittags in der Chocolaterie, schräg gegenüber von der Eso-Buchhandlung und gleich neben der Salumeria, und tragen schwer an der Entscheidung zwischen Elisenlebkuchen mit fair getradetem Kakaoguss, Zimtsternen aus garantiert biologischem Anbau im Sixpack oder hausgegossenen Nikolausen, die eine pausbäckige Angehörige des gehobenen Prekariats im Hinterzimmer fertigt.

Während ich mich mit Optionen quäle, tuscheln hinter mir zwei Damen, das Körbchen voll mit dänischem Manufakturmarzipan und einigen Tafeln Jahrgangsschokolade: Ach, Weihnachten sei doch arg profaniert ohne seinen transzendenten Kern. Ebenso geht es der Linken. Wo ist die große Erzählung geblieben, hinter all den Kleingefechten um Rentenprozente, Arbeitslosenquoten, Dienstleistungsrichtlinien und Bahn-Privatisierung? Nur noch auf Theaterfestivals oder in Antiglobalisierungsmatineen taucht sie auf: die Frage nach der linken Utopie, mit dem großen Anfangsbuchstaben.

Hier sei es gestanden: Ich stehe auf Kriegsfuß mit dem Wort Utopie, seit wann, kann ich genau sagen. Es war bei der Lektüre von Adornos „Ästhetischer Theorie“ im Sommer 1976. Der utopische Impuls der Kunst, las ich dort, entstehe in jener Sphäre der Freiheit, die dem Grauen der Natur entronnen und dem Bann der Gesellschaft noch nicht unterworfen sei. Ein Ort zwischen Grauen und Bann – wo könnte der zu finden sein, außer in der Kunst?

Ich grübelte phylogenetisch – aber nirgends in der Geschichte der Menschheit gab es einen solchen Ort. Ich grübelte ontogenetisch – und da streifte mich der Blitz der Erkenntnis: Dem Grauen der Natur ist entronnen, wer seinen Körper beherrschen kann und keinen Hunger mehr hat; der Bann der Gesellschaft beginnt spätestens mit der Schule.

Der Seelenkern des utopischen Denkens ist die Erinnerung an die Welt- und Glückserfahrung des Vier- bis Fünfjährigen, der seine Schließmuskeln beherrscht und noch nicht eingeschult ist, unter Bedingungen relativen Wohlstands und sozialer Sicherheit der Eltern. Eine völlig unromantische Sache, aber wenn’s gut geht, entsteht ein Gefühlswurzelgrund von Urvertrauen zur Welt und Empörung über ihre Unvollkommenheit; wenn’s schlechter geht, eine lebenslange Nostalgie ohne politischen Nährwert.

Grundlage beider Varianten ist eine Gesellschaft von Erwachsenen, die sich Wohlstand und Sicherheit erarbeitet hat. Vor Beginn der Neuzeit war das anders. Die Erde war ein Jammertal, das Leben von wilden Tieren, Strauchrittern, Gewittern und der augustinischen Höllendrohung bedrängt. Utopien waren Volksträume von einer „anderen Welt“, die nur nach dem Tod möglich war, in der Transzendenz des Paradieses oder hinter dem Griesbrei des Alltags im arbeitslos geträumten Schlaraffenland.

Die ersten Utopisten der Neuzeit, Morus und Campanella, holten diesen Traum auf die Erde, verlegt in ferne, fiktive Gegenden. Ihre Utopien antizipierten alle Elemente der großen Erzählung der bürgerlichen und sozialistischen Moderne: Technik verringert die notwendige Arbeitszeit, Herren und Knechte werden zu Gleichen, die drohende Religion weicht pantheistischer Diesseitsfrömmigkeit. Die Produktivität gemeinschaftlicher Arbeit ermöglicht allen die Kultivierung all ihrer Fähigkeiten, das wichtigste Unternehmen der Gesellschaft ist die Bildung der Kinder.

Die große Selbstverständlichkeit all dieser Zukunftsprojektionen aber – und das gilt für die „bürgerlichen“ von Voltaire bis zu Rathenau und Keynes, wie für die „linken“ von den Siedlungsträumen Robert Owens über die Fantasien Fouriers bis zur Arbeitsphilosophie des André Gorz – war die gemeinschaftliche Organisation der notwendigen Arbeit. In Marxens Worten, „mit dem geringsten Kraftaufwand und unter den ihrer menschlichen Natur würdigsten und adäquatesten Bedingungen“. Immer, auch in Lafargues „Lob der Faulheit“, ging es um die Verkürzung der Arbeitszeit, damit alle das „Reich der Freiheit“ – die Kultur, das Leben als „Selbstzweck“, die Demokratie realisieren können, die nur unter gleichgestellten und gleichverpflichteten Menschen in sozialer Sicherheit möglich ist.

Arbeitsgesellschaft und Demokratie – das war die Doppelhelix der Aufklärung. Schön gedacht, von Rousseau bis Keynes und Gorz, wäre da nicht noch ein schlimmer utopischer Rest: die „metaphysischen Mucken“ des Kapitals. Wir müssen sie heute nicht mehr dialektisch ableiten. Sie sind offenbar: Der kapitalistische Idealismus des unendlichen Wachstums ohne Rücksicht auf die Endlichkeit der Rohstoffe, die Verletzbarkeit der Wälder und der Seelen. Der Spiritualismus der dritten technologischen Revolution, der die Reibung der Materie, den Rhythmus eines menschlichen Tages zu überwinden sucht, die Begrenztheit alles Lokalen sprengt, die Lebenswelt verflüssigt und die Menschen flexibilisiert. Die Verführung zur Gier, die dem endlichen Dasein so viele Güter, Optionen, virtuelle Leben wie möglich abpressen will.

Ein destruktiver Utopismus, der die Grundlagen der Zivilisation – die Erde und die gesellschaftlich arbeitenden Menschen – zerreibt, ihre Institutionen zu Un-Orten werden lässt. Die Nation vom Gefäß der Gesellschaft zum geografischen Standort „fragmentierter und fragmentierender Konkurrenzvergesellschaftungen“ (wie es in Soziologenklarheit heißt), das Parlament vom Ort, an dem Bürger beschließen, wie sie leben wollen, zum Notariat für die Investorenimperative. Städte, Regionen, Fabriken werden zu Transiträumen, belebt oder entwohnt nach der Logik des Kapitals, die Familien zum Ort, wo Humankapital aufgezogen und Kaufkraft generiert wird. Und am Ende werden die Menschen sich selbst fremd, finden keinen Ort in ihrer Seele. Depression ist heute laut WHO die zweithäufigste „Krankheit“. Die Gier des Kapitals nach Transzendenz (sprich Wachstum) siegt über Geschichte und Tradition, lässt Politik (die menschliche Form der Existenz) zur Administration der humanitären Kollateralschäden verkommen.

An die Wand geschrieben stehen die Bilanzen des Klima und der Rohstoffe, das Ende des fossilen Zeitalters kündend. Gegenüber die Zahlen über die wachsende Kluft zwischen Arm und Reich, Beschäftigten und Arbeitslosen, profitträchtigen und irrelevanten Ländern und Kontinenten, über die Zunahme von irrationaler Gewalt und Elend.

Die Lage ist also alles andere als unübersichtlich. Und es mangelt auch keinesfalls an „postkapitalistischen Modellen“. Die Leitbilder der „Solaren Weltwirtschaft“ und der „Dreizeitgesellschaft“ zielen auf Zustände jenseits des globalen Marktstaats, sind sogar aufeinander bezogen.

Langzeitprojekte statt Utopien

Eine Solare Revolution, wie sie etwa Hermann Scheer vorschwebt, würde die weltweiten Netze von Energie-, Rohstoff- und Warenhandel entflechten, würde auf lokale Ressourcen und Energiequellen setzen, die Mobilität von Menschen und Gütern reduzieren, den regionalen Agrarsektor stärken und die Reparaturökonomie aufwerten. Als Deglobalisierung zielte sie auf eine Weltwirtschaft mit mehreren, der EU vergleichbaren, Wirtschaftsregionen, in denen sozialdemokratische Neuanfänge möglich würden.

Die „Dreizeitgesellschaft“ wäre eine der „Vollbeschäftigung“, in der Menschen ihre Lebenszeit auf drei Tätigkeitsbereiche verteilen: auf die „erwachsene“ Sicherung des gesellschaftlichen Reichtums, auf die Wiederaneignung von Tätigkeiten, die in Warenform pervertiert sind – Krankenpflege, Kinderaufzucht, Altenbetreuung – und auf kulturelle Aktivitäten. Voraussetzung ist, knapp gesagt: eine Halbierung der Lohnarbeitszeit und eine Verdoppelung der Bildungsausgaben.

Solar- und Dreizeitgesellschaft sind Groß- und Langzeitprojekte. Reale Nöte weisen in ihre Richtung, und sie sind uns mit Notwendigkeit vorgegeben, jedenfalls solange wir noch „Welt“, „Demokratie“ und ein prävirtuelles Menschenbild normativ voraussetzen.

Zwei Projekte, die zurzeit „links““ diskutiert werden, sind demgegenüber eher von Resignation grundiert: das „bedingungslose Grundeinkommen“ und die Gründung „Solidarischer Ökonomien“. Beide suchen die Nischen der Not zu stabilisieren: Weil der sozialdemokratische Reformismus (seit dem Tod des Kommunismus?) im Absterben begriffen ist, hat sich die Tendenz zur Verkürzung der Lebensarbeitszeit totgelaufen. Aber ein „bedingungsloses Grundeinkommen“, das Ulrich Beck, der Lyriker unter den deutschen Soziologen, mit der Parole „Freiheit statt Vollbeschäftigung“ feiert, wäre – jedenfalls ohne Verdoppelung der Bildungsausgaben – nur die auf Dauer gestellte humanitäre Intervention in die Zonen der Überflüssigkeit.

„Investivlöhne“ würden komplementär dazu den Gruppenegoismus der Arbeitnehmer in den globalisierten Exportbranchen fixieren. Die Spaltung der Gesellschaft wäre auf Dauer gestellt, zugleich dem Populismus über die Höhe der Armenpflege Tür und Tor geöffnet. Aber die „Vollbeschäftigung“ ist keine „Utopie“. Umgekehrt ist die zur Norm erklärte 40-Stunden-Woche ein ideologischer Block, der uns daran hindert, mehr Menschen in qualifizierten Berufen weniger arbeiten zu lassen.

Und die „Solidarische Ökonomie“? Die 1 400 Teilnehmer an dem gleichnamigen Kongress in Berlin vor einem Monat, die Solarbastler, die alternativen Landwirte, die Genossenschaftsgründer und die Hartz-IV-finanzierten Kleinstunternehmer? Sie gründen Inseln der Vernunft und Solidarität in den Nischen des Systems. Das sind – aus Not und Überzeugung geborene – Stützpunkte der Zukunft, Saumpfade aus der Utopie des Schrankenlosen. Der große Exodus hingegen erforderte die Wiederkehr der Politik, des Verfassungspatriotismus gegen „die multinationalen Sekten, die nach dem Staat greifen“ (Sloterdijk), die Revolte der Stadtbürger gegen die Privatisierung ihres Territoriums, die Selbstrekrutierung der Bürger zur Besetzung der politischen Orte, an denen die Funktionäre der kapitalistischen Utopie sitzen.

Warum sind alle so ruhig? Es ist wohl doch die kollektive Resignation vor der Übermacht des kapitalistischen Utopismus. Millionen von individuellen Kalkülen, die verständlicherweise besagen: Ich würde mehr opfern, als ich gewönne in diesem einen, endlichen Leben. Ach ja, die Weihnachtspredigt. Der da geboren wurde, war kein Utopist. Eher ein topologisch denkender Stratege. Er eroberte Räume. Den Tempel, den Predigtberg, das Gericht, die Volksversammlungen, die Ärztepraxen – die politischen und symbolproduzierenden Orte seiner Zeit. Und er wusste, er würde verlieren.

Woher also kommen die Energien, der Antrieb, das Notwendige zu tun, wenn das Himmelreich leer ist, wenn der Konsumismus die Kollektive zerstreut hat und keine Revolution in Sicht ist? Am Ende von Jean-Christoph Rufins Dystopie namens „Globalia“, in einer Welt, in der ein lemurenartiges Arbeiterheer unter Glaskuppeln dem Tod entgegen konsumiert, während die Häretiker und Freibeuter draußen auf der wilden Heide leben, geht einer der Privilegierten auf die andere Seite. „Aus Langeweile“, wie er sagt.

Langeweile, das ist die Luxusform der Askese, das Privileg derer, die alles haben. Aber auch von Fünfjährigen in geschützten Milieus, die am Weihnachtsmorgen, wenn die Erwachsenen noch schlafen, auf dem Klo davon träumen, wie Zorro zu werden.

©Le Monde diplomatique, Berlin

Le Monde diplomatique vom 15.12.2006, von Mathias Greffrath