12.06.2014

Zwei Stunden Realsonnenschein

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Zwei Stunden Realsonnenschein

Visionen vom Alltagsleben im Kapitalismus der Zukunft von Laurent Cordonnier

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Als Smithski gegen 18.30 Uhr beim Maklercafé ankam, waren auf der Terrasse noch ein paar Plätze frei. Bevor er sich setzte, konsultierte er schnell das Infoterminal. Die letzten Plätze waren noch zum Ausgabepreis der Nachmittagssitzung zu haben, für 150 Pfund. Das war teurer als gestern – im Frühling stieg die Nachfrage fast automatisch –, aber der Kalender verhieß immer noch ein Soll von gut drei Stunden Sonnenstrahlung. Da der Einfallswinkel durch das Charity Business Building verkleinert war und das dahinter stehende Türmchen des französischen Grand Hotels auch noch Sonnenlicht abhielt, blieben also noch gut zwei Stunden Realsonnenschein auf der Terrasse. Das versprach einen anständigen Wiederverkaufswert in einer Stunde, sofern der Andrang anhielt. Man musste nur den richtigen Moment erwischen.

In dem Bereich, der seiner Schätzung nach am längsten Sonne haben würde, entdeckte er einen freien Tisch. Sobald er saß, steckte er seine Chipkarte in den Schlitz der kleinen schwenkbaren Konsole, die an der rechten Seite seines Sessels als Ablage diente. Die Mietbestätigung wurde sofort angezeigt und auf sein Tablet übertragen. Nun war der Bildschirm frei für die Speisekarte. Im Maklercafé wurden die Preise in Echtzeit angezeigt, wer wollte, konnte sogar ein Termingeschäft mit einstündiger Fälligkeit abschließen. (...) Als Smithski seine Bestellung – einen koffeinhaltigen Kaffee mit Milchschaum – abgeschlossen hatte, blickte er vom Monitor auf und sah seinen alten Bekannten Bob Husrieh. Der hatte ihn anscheinend schon erspäht, denn er kam schnurstracks auf seinen Tisch zu. (...)

„Hallo, Philippe“, sagte er und zog sein Jackett über den Schultern zurecht. „Hallo, Bob, schön, dich zu sehen … fit wie immer!“ An der mürrischen Miene des früheren Freundes erkannte Smithski, dass er einen Fauxpas begangen hatte. Und, ehrlich gesagt, er wusste auch, welchen.

„Also wirklich, Philippe, du änderst dich nie!“, schimpfte Bob. „Ich glaube, du machst das mit Absicht. Du weißt doch genau, dass ich jetzt Ronald heiße. Ich könnte dich wegen Identitätsverletzung anzeigen, das weißt du, du bist ja ein Wiederholungstäter!“ Er meinte es nur halb im Scherz. Ronald hatte ein Vermögen ausgegeben, um sich diesen Namen zu leisten, der weit oben auf der Liste der bestnotierten Namen stand. Refinanziert hatte er diese Investition, die seine Mittel weit überstieg, mit einer Reihe von Prozessen wegen Identitätsverletzung gegen vergessliche oder unbesonnene, auf jeden Fall aber wohlhabende Opfer. Der Schadenersatz plus Zinsen, den er ihnen mithilfe eines führenden Anwalts für Familienrecht abgenommen hatte, hatte ausgereicht, um die Sache rentabel zu machen.

Smithski verließ sich darauf, dass ihm die Sympathie, die Ronald ihm entgegenzubringen schien, solche Unannehmlichkeiten ersparen würde. Ganz sicher war er nicht, aber er konnte sich die Sticheleien einfach nicht verkneifen. Ronalds kindisches Schmollen ließ ihn jedenfalls auf Nachsicht hoffen. „Entschuldige bitte, Ronald“, sagte Smithski, „aber ich weiß gerade nicht, wo mir der Kopf steht.“ (…) Allmählich hatte sich die Caféterrasse gefüllt. Anscheinend war kein Platz mehr frei. Smithski verfolgte auf seinem Tablet, wie der Preis stieg. Er schoss auf 195 Pfund nach oben und stabilisierte sich dann bei 175.

„Ich glaube, in ein paar Minuten machen wir einen guten Deal“, freute sich Ronald.

Plötzlich sprang er auf, ging hastig um den Tisch herum und hockte sich neben Smithski. Er stützte einen Ellbogen auf dessen Sessellehne, streckte die rechte Hand in Richtung Bildschirm und starrte eine ganze Weile darauf, wie hypnotisiert von den Informationen, die unter seinen Augen vorbeizogen.

Smithski fragte sich misstrauisch, was er wohl ausheckte. Ronald war zu allem fähig, bloß um ein paar Pfund zu kassieren. Selbst im Spiel. Die einzige Grenze, die er zwischen Arbeit und Freizeit zog, war eine kleine, imaginäre Furche, die die großen Bereicherungschancen von kleinen Gelegenheitsgewinnen trennte. „Ich hoffe, du hast nicht vor, unsere Plätze zu verkaufen, Ronald“, sagte Smithski gereizt. „Ich habe im Moment nicht die geringste Lust, hier wegzugehen.“

„Keine Angst. Ich wette, sie steigen noch ein Weilchen. Wenn noch mindestens anderthalb Sonnenstunden bleiben, kann man davon ausgehen, dass die Baisse erst in einem Stündchen einsetzt. Ich kaufe 10 Plätze per cassa für 175 und gebe Verkaufsorder für 190. Wir werden ja sehen.“ Während er zu seinem Platz zurückging, sah er sich auf der Terrasse um. Mit einem Wink lenkte er Smithskis Blick ein paar Tische weiter. „Die fünf freien Plätze müssen meine sein“, sagte Ronald triumphierend. „Bei den vielen Leuten, die hier rumstehen, wird der Preis bald steigen. Die sterben vor Lust, sich hinzusetzen, das spüre ich … Du nicht? Pass auf, gleich zücken sie ihre Scheinchen“, verkündete er zufrieden.

Ronald würzte seine Sätze gern mit veralteten Redewendungen. Wahrscheinlich dachte er, das lasse ihn besonders gebildet erscheinen. Die Erwähnung von Banknoten, einem vorsintflutlichen Zahlungsmittel, von dem niemand mehr redete, war so ein Beispiel.

Nach diesem kurzen Intermezzo beruhigte sich Ronald für eine Weile. Er war gefesselt von den vorbeiziehenden Werbespots an der Fassade des Charity Business Building. Auf der riesigen Tafel rieb sich eine Frau die Brüste mit einer Vergrößerungscreme ein. Nach ein paar Sekunden wolllüstiger Massage begannen sie anzuschwellen, kurz darauf war ihr Busen von unwiderstehlicher Fülle und Festigkeit. Das Bild erstarrte kurz bei diesem grandiosen Anblick. Eine sanfte Frauenstimme aus dem Off versprach, dieses Produkt werde den sexuellen Anziehungsquotienten von Nutzerinnen auch jenseits der sechzig beträchtlich steigern. Nach ihrer Verwandlung hatte die Dame wirklich ein Upgrade in Kategorie 5 verdient – der höchsten Wertung auf der Skala der Sexualquotienten, die von den Finanzämtern vergeben wurden. Aus eben diesem Grund war es schwer, an so ein Wunder zu glauben. Die Rentabilität einer derartigen Investition wäre so unzweifelhaft gewesen (eine Crèmedose kostete 120 Pfund), dass sich schon längst alle Frauen so einen Brustumfang zugelegt hätten. Das war aber offensichtlich nicht der Fall.

Während Ronald seine Kommentare abgab, hatte er ohne hinzusehen sein Tablet ausgerollt und gestartet. Er rief eine Übertragungsseite auf und wählte diejenige Kamera der Umgebung aus, die die besten Aufnahmen lieferte. Es war die Kamera auf dem Notfallsauerstoffhydranten am anderen Ende der Terrasse, die auf sie gerichtet war. Ihre Gesichter erschienen auf dem Bildschirm.

Busen-Upgrade: Kategorie 5 auf der Skala des Finanzamts

„Ich schicke meinem Sohn zwei, drei Minuten Film, da freut er sich“, nuschelte Ronald. Er ging mit dem Mund dicht an den Mikrofonpunkt und zögerte kurz. „Ich hoffe, es stört dich nicht, wenn deine Visage auch auf dem Film ist. Oder soll ich einen anderen Ausschnitt wählen?“ „Keine Sorge“, antwortete Smithski. „Ich habe ein C-Badge. Du kannst es überprüfen. Mach eine Vorschau, bevor du’s abschickst …“

„Ein C-Badge?“, stammelte Ronald fassungslos. „Hast du zu viel Geld oder was? Was willst du denn mit deinem C-Badge schützen? Dein Privatleben eines von den Fans verfolgten Stars? Echt mal, Philippe, du bist und bleibst ein schräger Vogel. Aber vielleicht kann ich dich gerade deswegen so gut leiden.“

Er machte ein Testbild. Ronalds Gesicht erschien allein auf dem Bildschirm, das von Smithski war verschwunden, stattdessen war die Stelle mit den Tischen aufgefüllt, die hinter ihnen standen. Als wäre Smithski zu diesem Zeitpunkt gar nicht im Maklercafé und Ronald säße allein dort. Ein C-Badge machte seinen Eigentümer im ganzen Netz unsichtbar. Der Nachteil war, dass man dafür eine sehr hohe Gebühr zahlen musste. (…) Die meisten Leute hatten ein B-Badge, und ungefähr jeder Vierte nur A. Das war gewissermaßen das Gegenteil von C. Wer ein A-Badge hatte, konnte auf Bestellung überall verfolgt werden. Wenn ein Cybernaut ein Zielobjekt mit A-Badge anvisierte, konnte er es „fixieren“, wie man es nannte, und ihm ununterbrochen folgen, egal wo es sich rumtrieb. Das System wählte automatisch die Kamera aus, die den besten Winkel bot, um dem Nutzer eine optimale Darstellung des Zielobjekts zu liefern. So folgte man ihm ohne jede Mühe in Echtzeit und im Rhythmus der hundertfünfundzwanzig Bilder pro Sekunde, die das hochauflösende Netz lieferte. (…)

Die meisten A-Badger ließen sogar zu, dass in ihrer Wohnung, auch im Schlafzimmer und im Bad, Kameras installiert wurden. Darum ging es ihnen eigentlich. Neben der narzisstischen Befriedigung, die ihnen die Registrierung als „Fixierte“ bereitete, bestand das Ziel der Operation natürlich in den Bildtantiemen, die sie ihnen einbringen konnte. Mithilfe eines Ariadnefadensystems konnten sie die Zuschauer erfassen und ihre Aufmerksamkeit einen Moment lang fesseln. Die Bildtantiemen stiegen proportional zur Zahl der Zuschauer und der Verbindungszeit. Zwar stand es jedem frei, seinen eigenen Preis für die Sekunde Zurschaustellung festzulegen, aber der Preis, den man verlangen konnte, und die Einnahmen, die man mit einem A-Badge insgesamt generierte, stand in eindeutigem Verhältnis zum sexuellen Anziehungsquotienten des Badgers und zu seiner Bereitschaft, sich zu zeigen. (…)

Darüber dachte Smithski nach, während Ronald der Nachricht an seinen Sohn den letzten Schliff gab. Als er sie abgeschickt hatte, schaute er nach dem Kurs der Plätze, die er gekauft hatte. Die Quote lag bei 189 Pfund. Ein paar Sekunden später sprang sie auf 190. Die Transaktion wurde automatisch abgewickelt. Ronald jubelte. Er hatte gerade 150 Pfund verdient.

Aus dem Französischen von Claudia Steinitz Laurent Cordonnier ist Ökonom und Autor des Zukunftsromans „La Liquidation“, Paris (Édition Les Liens qui libèrent) 2014, dem dieser Text entnommen ist.

Le Monde diplomatique vom 12.06.2014, von Laurent Cordonnier