Südsudan – Zeit für einen Staat
von Anne-Felicitas Görtz
Wenn die Stimmen des Referendums vom 9. Januar 2011 unter Aufsicht der UN ausgezählt sind, wird der vorwiegend christlich geprägte Südsudan offiziell unabhängig sein. Doch außer dem Willen zur Separation vom muslimischen Norden gibt es nichts, was dem zukünftigen 5-Millionen-Staat als Gussform dienen könnte. Mindestens 60 Prozent Wahlbeteiligung und 51 Prozent der Stimmen für die Separation verlangt Khartoum als Ergebnis des Referendums, um den Südsudan als unabhängigen Staat anzuerkennen, mit dem dann über die Nutzung seiner Erdölressourcen verhandelt werden soll.
In der südsudanesischen Hauptstadt Juba herrscht seit Kriegsende das ökonomische Gesetz des Wilden Westens: Wie Panzertiere nach einer Feuersbrunst kamen schnelle Investoren und Kriegsgewinnler aus allen Ecken gekrochen. Sie sitzen hinter schweren Rollläden als Geldwechsler oder Importeure chinesischer Billigwaren und haben schon die ersten Luxusapartments bezogen. Ihr Interesse gilt kaum dem Aufbau eines Gemeinwesens. Die in Elendsviertel und Behelfssiedlungen fragmentierte Stadt wird über den Transportweg von Süden her versorgt, über die Grenzen der Anrainerstaaten Uganda, Kenia und Demokratische Republik Kongo. Täglich bringen die Lastwagen von dort die knappen Güter, mit denen Geschäfte gemacht werden.
Fährt man auf dieser Straße aus Juba hinaus, zeigt das Land ein ganz anderes Gesicht. Den Straßenbau mit dem dringenden Ersatz kriegszerstörter Brücken besorgen US-amerikanische Hilfsprogramme, aber es ist, als bauten sie jeden Tag neu. Wildwuchs drängt bis an die Fahrbahn, die Natur hat Brandschneisen und Kriegswunden überzogen, aber die Landschaft ist noch lange nicht geheilt. Ins Dickicht hinein fährt der Minenwolf, und auf dem immer wieder stundenweise gesperrten Terrain sind die Minensucher am Werk, Männer und Frauen in Mondstiefeln, die Gesichter hinter Schweißerhelmen verborgen, stapfen in Zeitlupe über den Boden. Sie graben zentimeterweise die Erde um nach den tausenden von Teller- und Drahtminen, mit denen das Land übersät ist, den Schmetterlingsminen, die Kinder im Entdeckerglück in die Luft halten. Neun Quadratmeter schafft ein Arbeiter pro Tag.
Eastern Equatoria, eine der elf Provinzen, stößt an die Grenze zu Uganda. Hier liegt der Bezirk Magwi County. Sein Zentrum, die Ortschaft Magwi, ist vier Autostunden von Juba entfernt. Kaum einer ihrer Einwohner ist dort jemals gewesen. In der Secondary School, vor drei Jahren mit ausländischen Hilfsgeldern wieder aufgebaut, sitzen über fünfhundert Schüler. Sechzehn Lehrer fragen die Hausaufgaben mit drohendem Rohrstock ab. Den Schülern in grünen Schuluniformen, die oft nur in einem einzigen als Uniform erkennbaren Stück bestehen, ist der altertümliche Drill anzumerken. Die Mädchen halten neben vorbeifahrenden Wagen inne und knicksen bis zum Boden, wie einst die Missionsschülerinnen. Sie sind zu Hause in den runden Lehmhütten links und rechts des Weges, wo sie später am Tag die Vorplätze fegen und mit gelben Kanistern auf dem Kopf Wasser vom Bohrloch holen. In Magwi gibt es weder Wasserleitungen noch Strom.
In einem Gebäude mit nur einem Raum residiert Seine Exzellenz der Commissioner, die politisch wichtigste Person in jedem Verwaltungsbezirk. Wer hier ankommt, sollte ihm seine Aufwartung machen. Seine Exzellenz ist ein hochgewachsener Mann in gebügelter Uniform, den seine Orden als Kämpfer der Sudanese People’s Liberation Army (SPLA) kenntlich machen. Was er in erster Linie braucht, ist Geld, und deshalb liebt er die ausländischen Geberorganisationen, die in großer Zahl im Land sind, auf eine einfach zu verstehende Weise: Er sieht sie als ein Angriffsziel und versucht sich in Taktiken, wie er sie einnehmen könnte. Sein lichtloses Büro ist von einem schweren Sitzungstisch nahezu ausgefüllt. Am Kopfende befindet sich auf einem Podest zudem ein Pult und der Amtssessel, auf dem er thront. Er schickt nach seinem Verwaltungsbeamten, denn Planung ist nicht sein Gebiet. Dieser nimmt ihm zur Seite auf einem Zwischentreppchen Platz – nicht König, nicht Gemeiner – und versucht, die Ansinnen des Commissioners nach Finanzierung eines Flugplatzes oder einer Schule hoch oben in einem Bergdorf, von dem er dringend die Stimmen braucht, diplomatisch einzugrenzen. Ein gewagtes Unterfangen, denn die Stimmung des Commissioners ist unstet, und man kann sehen, wie er sich vom gezähmten Bürokraten schnell in den Krieger zurückverwandelt.
Erst vor der Tür lässt der Beamte, ein diplomierter Ingenieur, seiner Meinung freien Lauf. Es gehe darum, die Leute zu erreichen, einfach jeden, man müsse Feindschaften schlichten, Verständnis schaffen, auch wenn staatliche Strukturen noch gar nicht greifen. Er spricht von der Liebe, die man zu den Menschen haben müsse, sie sei die Basis, unverzichtbar für jedes neue Staatsmodell. Er ist Christ, und unter vier Augen deutet er an, dass er nicht lange auf diesem Dorfposten bleiben werde. Man brauche ihn auf höherer Ebene, zu wenig ausgebildete Leute stehen dem kommenden Staat zur Verfügung.
Akteure wie er sollten den Bewohnern im Vorfeld des Referendums eine Vorstellung davon geben, was ihre Stimme für die Unabhängigkeit bedeutet. Das Puzzle der Bevölkerungsgruppen in Magwi County, das sich aus den Stämmen der Acholi und der Madi zusammensetzt, dazu den Minoritäten von Lulobo, Latuka und Bor-Dinka, hat schwierige Schnittkanten. Zudem haben die heimgekehrten Kriegsflüchtlinge, die ihr Stück Land von anderen besetzt vorfanden, für Unruhe gesorgt. Was all diese Menschen nun verbinden soll, bedarf der Aufklärung über Sinn und Zweck des Staates. Die pathetischen Beschwörungen des südsudanesischen Präsidenten Salva Kiir sind als Zukunftsvision wenig hilfreich: „Unsere Märtyrer sind nicht umsonst gefallen. Es liegt an uns, ihr großes Werk zu vollenden! Manche sprechen von Sezession, andere von Separation. Für mich ist es eine Chance, für das Ende der Kolonisation zu stimmen!“ Die Leute, die auf dem Marktplatz von Magwi diese Botschaft aus dem Kurbelradio hören, wirken ein wenig verwirrt.
Dass der Wille zur politischen Unabhängigkeit zwar stark, aber auf ein Abstraktum gerichtet ist, wird überdeutlich, wenn Menschen zusammenkommen, für die es – mit Hilfe Gottes und zahlreicher Geberorganisationen – um die Sicherung von Nahrungsmitteln, um ein minimales Einkommen geht. Hier, unter den Kleinstbauern, lautet die entscheidende Frage: Was habe ich zur Verfügung, um zu überleben? Landauf, landab werden Workshops abgehalten zur Entwicklung der Landwirtschaft, der Gesundheit, der Gemeinden. „Progress“ heißt das verheißungsvolle Wort, das jetzt, nach Jahren der Gratisversorgung durch Lebensmittelhilfen, nach Planung verlangt.
Vielleicht liegt es an der inzwischen fest verwurzelten Empfängermentalität, dass solche Schulungen ganz ohne ideologische Visionen vor sich gehen. Das Politische ist mit dem Ökonomischen völlig verschmolzen, jeder kämpft nur um seine persönlichen Interessen. Als hätte der endlose Bürgerkrieg das Modell des Staates ausgelöscht, sind die Parameter für „Progress“ fast identisch mit denen der globalisierten Welt: Sie bestehen in der Abwesenheit von Krieg und im wirtschaftlichen Wachstum, nicht in der Festigung des Gemeinwesens als Basis von Gesellschaft. Es war der Krieg, sagen Community Development Workers, die seit Jahren in der Nothilfe arbeiten: Er hat den Einzelnen gelehrt, allein zu überleben. Die Gemeinschaft, vormals tief verankert in der Stammeszugehörigkeit, funktioniert nicht mehr. Die früher vom Chief angeordnete gemeinschaftliche Arbeit bei der Ernte oder beim Beseitigen von Naturschäden ist nur mit Geldanreiz in Schwung zu bringen. Wer heute Chief ist, hat diesen Titel nur noch pro forma, eine Altersgabe. Den jungen Männern, die sich als Kämpfer hervorgetan haben oder aus dem Exil zurückgekommen sind, hat er nichts mehr zu sagen. Mehr als zwei Drittel der Bevölkerung sind unter 25 Jahre alt. Zerfall und neue Allianzen im Autoritätssystem – man weiß nicht, ob sie Gefahr oder eine Art Reinigung und neue Stabilität bedeuten.
Zur Informationsversammlung über Kleinkredite im Grenzort Nimule sind vier Chiefs erschienen. Ihre dünnen Körper sind gezeichnet von Hunger und Alkohol, und nur wenn sie sich erheben, zeigt sich im allerletzten Aufrichten ein Rest von großer Haltung. Nur einer von ihnen kann schreiben und setzt zu diesem Zweck jedes Mal eine goldgefasste Brille auf. Sie sind schnell ermüdet und können bald nicht mehr folgen. Sie zucken zusammen, wenn sie etwas gefragt werden, und wenn einer den Blick hebt, so bleibt er nirgends haften, weder am Flipchart noch an den Versammelten. Ob sie denn nun für das Stempeln eines Dokuments in ihrem Dorfbüro Gebühren verlangen, obwohl es doch gratis sein sollte? Ja, was sollen sie da nun sagen? Ihr umständliches Abwägen erntet respektloses Gelächter. So sitzen sie da, als wären sie wirklich alte Kinder aus einer völlig überholten Zeit – wären da nicht ihre Augen, jener abgestorbene Blick, dem man nicht gern begegnet. Unwillkürlich drängt sich die Frage auf, wer sie während des Krieges waren. Was haben sie erlebt oder getan, das diesen Blick hinterließ? Es ist das innere tote Feld, das sich nach großem Grauen Täter und Opfer teilen.
Die fünf Jahre seit dem Friedensschluss sind eine kurze Zeitspanne, in der versucht wurde, wieder Fuß zu fassen in einem Leben, dem über 22 Jahre der humane Boden entzogen war. Die Zukunftslosung heißt: den Krieg vergessen. Nach den internationalen Angeboten für Konfliktlösung und Friedenssicherung ist die Haltung der Leute nun kategorisch: Schluss mit dem Aufarbeiten, nach vorn blicken, aufbauen. Was sich aber festgesetzt hat an seelischer und körperlicher Erfahrung, vor allem bei den über 40-Jährigen, ist unübersehbar. Nur für die Jungen schwingt das Pendel der Geschichte jetzt zur anderen Seite. Dennoch stehen auch sie vor den Schlüsselfragen: Wohin wollen wir? Wie viel Zeit brauchen wir dafür? Wie können wir wissen, ob wir auf dem richtigen Weg sind?
Der junge Fahrer unseres Pick-ups entfloh als Kind einem Militärlager der Lord’s Resistance Army (LRA), die an der ugandischen Grenze operierte, und kam nach zwei Monaten in einem Flüchtlingslager an. Er überdeckt seine entsetzlichen Erlebnisse mit sprudelndem Reden. „You will see“, sagt er, und sein ganzer Körper legt sich in diese freudige Botschaft, „nach dem Referendum werden alle kommen und helfen.“ Soweit es die internationalen politischen und ökonomischen Interessen betrifft, hat er mit dem ersten Teil recht. Für den zweiten Teil gibt es keine Prognose.
Anne-Felicitas Görtz ist Journalistin und Autorin. © Le Monde diplomatique, Berlin