14.01.2011

Beulen am Ich

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Beulen am Ich

von Bruno Preisendörfer

Die Abwrackprämie hat es an den Tag gebracht, quasi über Nacht. Gestern noch Inhaber einer alten Schüssel, der sich um eine weitere Beule im Blech nicht kümmert, heute ein Neuwagenbesitzer, der Kratzer am Lack mit denen am Ego verwechselt. Und je größer das Auto, desto schlimmer der kleinste Schmiss. Teuer ist auch teuer kaputt. Außerdem ist der Ansehensverlust bei einer Beule am BMW größer als bei einer am Twingo, zumal beim Twingo von ‚Ansehen‘ ohnehin kaum die Rede sein kann.

Bei Autos auf Twingo-Niveau ist man froh, dass sie fahren, die bringt man nicht zur Handwäsche ins KaDeWe. Mit Vollglatze geht man ja auch nicht zu Udo Waltz. Die Autohandwäscherei im KaDeWe gibt es wirklich. Sie heißt Beauty Car und ist ein Schönheitssalon für Pkws. Die Handwäsche innen und außen würde beim Twingo 56 Euro kosten, Bodylotion inklusive. Ich habe mich telefonisch erkundigt. Der Mann am anderen Ende war indigniert. Deshalb habe ich mich auch nach dem Pflegesatz für einen BMW erkundigt. Damit es sich anhörte, als wäre der Twingo nur der Zweitwagen.

Dabei habe ich gar keinen BMW, und der Erstwagen-Twingo wird nicht einmal durch die Waschanlage gefahren. Das Putzen erledigt bei uns der Regen. Der arme Kerl ist obdachlos und übernachtet im Freien. Außerdem fehlen vorne die Radkappen, der Scheibenwischer müsste erneuert werden, und hinten ist die Halterung für die Hutablage kaputt. Auf dem Display leuchtet ein Symbol auf, das vor einem Motorschaden warnt. Das schadet dem Motor aber nicht, meinte schulterzuckend der Werkstattmeister, nachdem er sich die Sache angeschaut hatte, außerdem wäre eine Reparatur zu teuer. Dabei machte er ein Gesicht, als wollte er sagen: Das Auto hat so viele Probleme, dass es nicht lohnt, eines zu lösen.

Der Kfz-Doktor dachte wie ein Philosophieprofessor – wie der amerikanische Philosophieprofessor Charles Karelis. „Armut besteht nicht darin“, schreibt Karelis, „zu wenig Güter zu haben, sondern zu viele Probleme.“ Ein Bienenstich – Karelis meint nicht den Kuchen, sondern das Problem – ruft Aufregung hervor, bei vielen Stichen wird ein einzelner weiterer kaum wahrgenommen. Eine Beule am Auto löst Katastrophenalarm aus, bei vielen Beulen kommt es auf eine mehr nicht an.

Vergleichbares gilt für die Beulen am Ich. Die erste soziale Demütigung ist ein Schock, die nächste macht niedergeschlagen, die dritte gleichgültig. Wer verletzlich ist, kann sich Empfindlichkeiten nicht leisten. Wer sich vom Staat unter die Arme greifen lässt, muss sich von ihm auch in den Arm fallen lassen. Die Inanspruchnahme von Hilfe reduziert die Entscheidungsfreiheit. Wohlfahrtspolitik war seit ihren Anfängen im 19. Jahrhundert stets mit Kontrollen, Sanktionen, erzieherischen Ermahnungen und moralischer Diskreditierung verknüpft. „Das Elend und der Verfall des Verstandes, die Armut und der Kleinmut der Seele, die Erschlaffung und Zersetzung des individuellen Willens und der Tatkraft, das Abstumpfen des Gewissens und der Persönlichkeit – mit einem Wort, das moralische Element wird empfindlich, oft sogar tödlich getroffen.“ Diese Bemerkung stammt aus dem Jahr 1865 und wird von dem französischen Soziologen Robert Castel in seinem Buch „Die Metamorphosen der sozialen Frage“ als Beispiel dafür zitiert, wie die Folgen der sozialen Lage den Individuen als persönlicher Makel aufgebürdet werden. Dieser Sound des moralischen Vorwurfs tönt bis heute aus dem Off der Öffentlichkeit, wenn es um die Charakterdefizite der Unterschicht geht. Den Abgehängten fehlt es an Kraft und Kompetenz. Der Wille zur Selbsthilfe verkümmert. Die versorgten Versager lassen die Zügel schleifen. So stellen es sich die Mitmenschen vor, kühlen zu Nebenmenschen ab und verlangen für die finanzielle Solidarität, die ihnen durch die Steuer abgenötigt wird, dass der Staat die Zügel in die Hand nimmt und den Gezügelten die Gürtel enger schnallt.

Castel schrieb die Geschichte der Wohlfahrtspolitik entlang der Geschichte der Lohnarbeit. Wer mit der Hand für den Mund arbeitete, lebte auch von der Hand in den Mund, überlebte bloß von Tag zu Tag. Daseinsgestaltung war kaum, Aufstieg überhaupt nicht möglich. Für die Entwicklung einer sogenannten autonomen Persönlichkeit, wie sie dem Selbstbild des Bürgertums entsprach, fehlte jenes Minimum an Sicherheit, ohne die Freiheit sich nicht entfalten kann. Erst die Etablierung der sozialstaatlichen Institutionen verschaffte den Lohnabhängigen und ihren Familien die Chance, sich über das tagtägliche Durchwursteln hinaus in eine gewisse Saturiertheit hineinzuarbeiten.

Das „Goldene Zeitalter des Sozialstaates“, wie der englische Historiker Eric Hobsbawm es einmal ausgedrückt hat, waren die 1970er Jahre, auch wenn diese Jahre politisch als bleierne zu Ende gingen. Damals ‚vermittelschichtete‘ die Arbeiterklasse, inzwischen verproletarisieren Teile der Mittelschicht oder fürchten sich davor. Die soziale Verunsicherung macht heute auch Leuten zu schaffen, die gestern noch überzeugt waren, jede Beule an Auto und Ego sofort reparieren zu können.

Soziologen sprechen von der Verwundbarkeit (vulnérabilité bei Castel) der Menschen in prekären Lebenslagen. Man könnte aber auch von Verletztheit durch Verletzlichkeit sprechen. Diese Ur-Verletzung wird in dem Moment erlitten, in dem man zum ersten Mal erkennt und anerkennen muss, dass man zu den Verletzbaren gehört, auch wenn die Verletzung noch nicht stattgefunden hat. Schon vor der ersten Beule am Ich begreift man, dass es sich mit vielen wird abfinden müssen.

Man hat eben ein Problem, wenn man viele Probleme hat. Probleme lassen sich lösen. Wenn sie sich jedoch nicht lösen lassen, ziehen sie Folgeprobleme nach sich, und die Folgeprobleme noch mehr Folgeprobleme. Je nach Verlauf und Geschwindigkeit des äußeren Niedergangs und der inneren Einschnürung hat man irgendwann nicht nur Probleme, sondern ist selber eines. Man wird für den Staat und für die Mitmenschen zum Fall und zusätzlich auch noch sich selbst problematisch. Das Selbstvertrauen nimmt ab und das Misstrauen der anderen zu. Dem Problemfall wird immer weniger zugetraut und immer mehr zugemutet.

Das führt zu einer eigenartigen Doublebind-Situation: Einerseits soll der Hilfsempfänger so tun, als hätte sein Ich keine Beulen – andererseits wird von ihm die Demut des Nehmenden erwartet. Der mündige Hartz-IV-Empfänger, wie ihn sich die Forderer und Förderer vorstellen, darf nicht zu wenig Probleme haben, aber auch nicht zu viele. Die Twingos der sozialen Existenz, um die automobile Metapher noch einmal aus meiner nicht vorhandenen Garage zu holen, die Kleinwagen der Hilfsempfängerseelen sollen nicht völlig verbeult und verrostet sein, aber wie nach einer Handwäsche aus dem KaDeWe sollen sie den Behördenvertretern auch nicht unter die Augen und vor die Schreibtische kommen.

Trotz aller erkämpften sozialen Rechte und trotz aller Hartz-IV-Prozesse, die um ihre Inanspruchnahme geführt werden, werden Hilfsempfänger beargwöhnt wie Mischwesen aus bettelndem Betrüger und betrügerischem Bettler. Der Bettler, der seine Beulen vorzeigt, sammelt mit den Almosen auch Verachtung ein. Einem Bettler ohne Beulen würde mit der Spende auch das Mitleid verweigert. Man stelle sich vor, ich würde in Anzug und Krawatte in der U-Bahn eine Straßenzeitung verkaufen, um dem Twingo eine Verwöhnwäsche bei Beauty Car zu finanzieren. Sollte mir tatsächlich jemand etwas in den Plastikbecher werfen, dann höchstens aus Humor.

Es wäre so ähnlich wie bei diesem alten jüdischen Witz aus Zeiten, in denen Mayonnaise noch eine kulinarische Kostbarkeit war. Geht der Cohn zum Grün und sagt: „Ich bin total pleite. Bitte, kannst du mir Geld leihen?“ Grün ist nicht begeistert, rückt aber das Geld heraus. Ein paar Tage später kommt Grün bei Cohns zu Besuch. Auf dem Tisch steht frische Mayonnaise. Grün ist total sauer: „Du spinnst wohl, Cohn! Du leihst dir Geld und gehst damit Mayonnaise kaufen.“ Cohn antwortet: „Jetzt reg dich nicht auf. Wenn ich kein Geld habe, kann ich keine Mayonnaise essen. Wenn ich Geld habe, darf ich keine Mayonnaise essen. Sag mir, Grün: Wann soll ich Mayonnaise essen?“

Bruno Preisendörfer ist Schriftsteller in Berlin und Herausgeber von www.fackelkopf.de.

© Le Monde diplomatique, Berlin

Le Monde diplomatique vom 14.01.2011, von Bruno Preisendörfer