Brief aus Tallinn
von Anne Burghardt
Am 1. Januar landete auf dem Theaterplatz vor dem Estonia-Theater, unserem nationalen Opernhaus, ein Ufo. Wie es sich für Estland gehört, war es ein virtuelles Ufo. Schließlich ist das Virtuelle unsere starke Seite. Parkautomaten brauchen bei uns nur die Touristen. Wir selbst bezahlen Parkgebühren und Busfahrkarten per Handy. Auch sonst steht für uns das „Elektronik-E“ im Namen „Eesti“ nicht ohne Grund an erster Stelle. Skype ist eine estnische Erfindung. Steuererklärungen werden per Knopfdruck und ganz ohne Bierdeckel gemacht und mit maschinenlesbaren Personalausweisen elektronisch unterschrieben. Natürlich landen die Außerirdischen zuerst bei uns! Wenn auch nur virtuell.
Die Landung des Ufos läutete das Jahr, in dem nun Tallinn Kulturhauptstadt Europas ist, symbolisch ein. Unwillkürlich fühlte ich mich an den Slogan der Fußball-WM 2006 in Deutschland erinnert: „Die Welt zu Gast bei Freunden“ – wobei ich mich immer gefragt habe, wer diese „Freunde“ wohl sein mögen. Das Motto des Kulturhauptstadtjahrs lautet dagegen „Geschichten am Meer“. Es ist sehr gut gewählt, dieses Motto! Meer gibt es hier, wir sind eine Hafenstadt. Tallinn liegt an zwei Buchten und einem großen See. Besonders eindrucksvoll ist der Anblick, wenn man sich mit dem Schiff nähert, den Domberg und die Kirchtürme sieht man schon von Ferne aufragen. Der Silhouette wegen ist unsere Stadt Teil des Weltkulturerbes.
Der mittelalterliche Stadtkern ist hervorragend erhalten, die grauen und gelben Gemäuer bergen in ihren Kellergewölben sehr gemütliche Cafés und Restaurants. Die Straßen und Gassen sind mit Kopfsteinen gepflastert, mal gerade, mal krumm und manchmal winzig. Man hätte hier gut die Filmtrilogie „Herr der Ringe“ drehen können – die Szenen in Minas Tirith, der Festungsstadt der „Guten“ –, anstatt sie virtuell (und das nicht einmal von Esten!) erschaffen zu lassen.
Die alte Silhouette ist allerdings nicht ohne Konkurrenz geblieben. In neuester Zeit ragen, etwas abseits, auch Bank- und Hotelgebäude unschön in den Himmel. Sie stehen auf einem mittelalterlichen Pestfriedhof. Geschieht ihnen recht! Die Wege hier, vom Mittelalter zur Moderne, vom Hafen in die Stadt und von der Stadt in die schönen oder hässlichen Vorstädte, kann man meistens zu Fuß machen.
Das Meer ist bei uns. Und Geschichten haben wir auch jede Menge, zum Beispiel die von der ersten Veranstaltung der rund 7 000, die im Kulturhauptstadtjahr stattfinden sollen. Es ist eine ungewöhnliche Ausstellung am Flughafen: Da steht ein aus Holz und Pappe gebautes Luxusauto in Originalgröße, das über und über mit Briefmarken beklebt ist. Was mag der Künstler wohl damit beabsichtigt haben? Im russischen Zarenreich wurden ja sogenannte potemkinsche Dörfer gebaut, mit denen Fremden eine nicht vorhandene Schönheit vorgegaukelt werden sollte. Ist das also eine selbstironische Werbung für die Kulturhauptstadt Tallinn: Schöne Kulisse und nichts dahinter?
Dabei sind wir Esten eigentlich gar nicht so! Wir sind geradlinig, sehr individualistisch und lieben unsere Privatsphäre. Vielleicht müssen wir deshalb ab und zu eine Kulisse bauen, weil man uns sonst zu sehr auf die Pelle rückt. Man will uns besuchen, das ist ja nett, und wir wollen auch versuchen, gastfreundlich zu sein. Wenn ein wenig Angeberei eben sein muss, können wir uns mit einem potemkinschen Auto behelfen. Na ja. Aber warum dann die Briefmarken?
Oder die Geschichte mit der Euroeinführung: Unser Premierminister Andrus Ansip steht wegen seiner starren Mimik mitunter selbst im Verdacht, ein Außerirdischer zu sein. Er antwortete darauf einmal allen Ernstes, dass er mit Sicherheit nicht zu den Ufos zu rechnen sei, da er erstens in Estland kein Unbekannter sei und zweitens nicht fliegen könne, womit die Definition eines unbekannten Flugobjekts in seinem Falle nicht erfüllt sei.
Derselbe Premierminister, ein in vielerlei Hinsicht typischer Este, zog kurz nach der Landung des virtuellen Ufos auf dem Theaterplatz vor laufenden Fernsehkameras einen 20-Euro-Schein aus dem Geldautomaten. Einige von uns haben das gleich als Wink mit dem Zaunpfahl verstanden, dass wir in Zukunft alle den Gürtel etwas enger schnallen müssen.
Seit Beginn dieses Jahres gilt in Estland also der Euro als Zahlungsmittel. Der Abschied von der Estnischen Krone fällt schwer. Der einzige Vorteil bei der Einführung des Euro, finden viele, sei, dass die Abwertung der Krone gegenüber dem Euro nun ausgeblieben ist. In manchen deutschen Medien wurde das von Wirtschaftsexperten kritisiert. Die Krone hätte unbedingt abgewertet werden müssen. Aber vermutlich haben diese Experten kein estnisches Einkommen und auch keine Kredite abzubezahlen, die in Euro festgelegt sind. Die Preise hier sind im Vergleich zum Vorjahr um sechs Prozent gestiegen. Kraftstoff- und Lebensmittelpreise haben deutlich angezogen.
Aber es gibt mit dem Euro auch ein ästhetisches Problem: Die Scheine und Münzen sind eher langweilig gegenüber denen der Krone mit ihren für Estland wichtigen Persönlichkeiten. Zudem hat die Krone bei der Wiedergewinnung der Unabhängigkeit vor zwanzig Jahren eine wichtige Rolle gespielt: Damals war sie Symbol unserer Eigenstaatlichkeit. Ist der Euro jetzt ein Symbol der Abhängigkeit?
Die Brückensymbolik auf den Euroscheinen, die in der Fernsehwerbung für den kommenden Euro aufgegriffen wurde – optimistische Brückenschläge über ganz Europa hinweg –, wirft bei uns vor allem die Frage auf, wer denn demnächst unter der Brücke Quartier beziehen muss. Und um die Euromünzen gab es auch schon Ärger: Russische Kreise (wie der Botschafter) behaupten, der Umriss Estlands auf der Rückseite sei nicht nach den heutigen Grenzen wiedergegeben, sondern nach denen von 1920, das sei provokativ. Die Reaktion darauf ist gespalten. Manche weisen darauf hin, dass die älteren ohnehin die echten Grenzen seien, Stalin habe Estland gewaltsam um immerhin zwei halbe Landkreise beraubt. Andere meinen, die Russen hätten falsch nachgemessen, die dargestellten Grenzen seien genau die heutigen.
Und dann gibt es da noch die Setu, ein kleines finno-ugrisches Volk im Südosten Estlands, das durch Stalins Grenzziehung heute in zwei Ländern lebt, ein Teil in Estland, ein Teil in Russland. Die estnischen Setu haben angekündigt, die Euromünzen ihren Silberschmieden zur Bearbeitung zu geben: Die Grenzen von 1920 seien nicht eindeutig erkennbar, das müsse verändert werden. Es wird also wohl bald neben dem estnischen auch den Setu-Euro geben, mit einem ausgeschabten Millimeter an der südöstlichen Grenze des Landes. In Estland hat jedenfalls jeder Haushalt einen kostenlosen Umrechner bekommen. Denn es ist nicht einfach, alle Eurobeträge im Kopf mal 15,6466 zu rechnen. Mein sechsjähriger Sohn war von dem Umrechner begeistert und rechnet jetzt alles sofort um, einschließlich des Datums und der Temperaturen.
Es gibt noch eine weitere große Geschichte in diesem Winter: Die Vorbereitungen zur Parlamentswahl am 6. März. Nach Medienberichten sind die Parteien ziemlich pleite. Da hilft nur noch kreative Wahlhilfe: Kurz vor Weihnachten gab es einen Skandal um den Tallinner Bürgermeister und Vorsitzenden der größten Oppositionspartei, Edgar Savisaar. Die Staatspolizei veröffentlichte Material, das ihn als russischen Lobbyisten entlarvte. Mehrfach soll er sich mit dem Chef der russischen Eisenbahngesellschaft, der aus dem estnischen Seebad Pärnu stammt, getroffen haben. Dabei sei es auch um Geld gegangen. Der Eisenbahnchef habe Savisaar privat 1,5 Millionen Euro für den Bau einer orthodoxen Kirche in der Trabantenstadt Lasnamäe zur Verfügung gestellt und eine Summe in ähnlicher Höhe als Wahlkampfhilfe überwiesen.
Savisaar verteidigt sich mit dem Hinweis auf die Gemeinnützigkeit des Kirchenprojekts und die Notwendigkeit ausländischer Hilfen bei vielen Projekten. Er sei von der Polizei falsch informiert worden, und der ganze Skandal sei eine Kampagne gegen ihn. Es wird interessant, wie das Wahlvolk die Vorgänge bewertet. In Umfragen ist die Partei jedenfalls weit zurückgefallen.
Ausländer, aus welcher Himmelsrichtung auch immer, spielen hier stets eine Rolle: Die Schnapstouristen aus Skandinavien, Urlauber und Geschäftsreisende, wie der eben erwähnte Herr Direktor aus Russland, und so manche Kosmopoliten aus dem Westen. Wie zum Beispiel der Deutschfinne Mikko Fritze. Er war Leiter des Kulturhauptstadtprojekts, erdachte das Motto von den „Geschichten am Meer“, plante, netzwerkte und organisierte und kämpfte nebenbei unter Einsatz seines Lebens noch für das Fahrradfahren in Tallinn. Ein aussichtsloser Kampf, hier liegt an die fünf Monate im Jahr Schnee, und zwölf Monate im Jahr zeigt sich der Tallinner Autofahrer solchen Neuerungen wie öffentlichem Fahrradfahren gegenüber eher unaufgeschlossen.
Mikko hat unsere Herzen im Sturm erobert, wenn auch nicht alle Herzen, sonst wäre er noch Kulturhauptstadtchef. Es gab Probleme mit manchen Politikern. Versteht mich bitte nicht falsch, wir freuen uns über Gäste und freuen uns auch, wenn jemand mit uns Glück und Leid, Sommer und Winter teilt. Aber wenn es uns zu eng wird, ziehen wir im Zweifelsfall das virtuelle Ufo dem realen Besucher vor. Das ist nicht persönlich gemeint. Das ist eben eine von diesen Geschichten am Meer.
Anne Burghardt ist Übersetzerin und Programmleiterin am Theologischen Institut der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Tallinn. © Le Monde diplomatique, Berlin