Säen und ernten
von Mathias Greffrath
Irgendwann kippt es. Ich kaufe prinzipiell nur noch teure Hühner, selbst wenn ich in der Hühnersuppe den Geschmacksunterschied nicht merke. Der Wendepunkt war ein Doppelporträt vom Hybridgeflügel. Die beiden gleich alten Junghühner, die nebeneinanderstanden, das eine spezialisiert auf fleischige Brust, so sehr, dass das Hähnchen gegen Ende seines Erdenlebens umkippt, das andere klein und schäbig, weil alle Kraft ins Eierlegen geht. Hochoptimierte Leistungsträger, keine Öko-, sondern Ökonomiehühner, gefüttert mit Gensoja aus Argentinien, wo Großagrar die Kleinbauern vertreibt, den Boden ruiniert, Fauna und Flora dezimiert. Wir essen die, der Rest geht nach Afrika und ruiniert dort die Kleinbauern. Aber die Sache mit dem Geflügel ist noch harmlos gegen die Folgen der Schweinemast (Deutschland ist übrigens der zweitgrößte Exporteur von Schweinefleisch).
Da kommt etwas in Bewegung. Immer häufiger wird, um mich herum, beim Essen über das Essen geredet. Denn es geht um mehr als um das Essen. Es geht – das große Wort sei einmal gestattet – um die Zukunft der Menschheit. Und deshalb glaube ich an die Zukunft einer Massenbewegung, die ähnlich stark werden wird wie die in den 70ern und 80ern gegen die Atomkraft. In diesem Januar hatten es vor dem Kanzleramt schon mehr als 30 000 Bürger satt. Und genauso wie bei mir und in den Gründerjahren der Grünen kommen sehr heterogene Motive, Gesinnungen, Interessen zusammen.
Das Spektrum reicht von den geschmacksfetischistischen Verfassern überdrehter Gourmetprosa (à la „leichte Rustikalität mit wunderbaren Durchblendungsmöglichkeiten auf eine Bioanmutung, die weder aromatisch noch texturell zu dominant ist“, wo es eigentlich doch nur um überbackenen Sellerie geht) über biobewusste Mittelschichtler mit ausgeprägter Vergiftungsphobie, kompromisslose Veganer („Ich esse nichts, was eine Mutter hat“) und Kleinbauern, die es bleiben wollen und nicht den Agrarmultis weichen, bis hin zu Gewerkschaftern und Ökonomen. Gerade diese Mischung aus existenzieller Erschütterung, sentimentalem Konservatismus, wissenschaftlichen Erkenntnissen und politischer Ungeduld machte diese Bewegung brisanter und langlebiger als „bloße“ Aufklärung.
Und die Politik? Den Weltagrarbericht der Weltbank hat unser Ministerium für Ernährung und Landwirtschaft zunächst bezweifelt und nimmt ihn bis heute nur widerwillig zur Kenntnis. Das ist kein Wunder, denn seine Kernaussage ist, kurz gefasst: Der Hunger und die mangelhafte Ernährung von 2,8 Milliarden Menschen und die Überernährung und die vielen Krankheiten von 2,1 Milliarden Menschen haben eine gemeinsame Ursache in der Entkoppelung, Ökonomisierung und Globalisierung von Lebensmittelproduktion und Verbrauch. Der Bericht fordert eine Rückkehr zu regionalen Kreisläufen und eine Ernährungsrevolution in den reichen Ländern. Und das heißt vor allem: weniger Fleisch. „Die feinen Küchen der Welt“, schreiben die Wissenschaftler lockend, „können uns den Weg dabei weisen. Viele pflanzliche, wenige, aber gute tierische Produkte und eine maximale Vielfalt an Speisen.“
Man könnte meinen, hier sollten Wähler gewonnen werden mit einer starken Reformpolitik, die überdies noch Genuss verspricht. Aber nach wie vor bleibt Agrarpolitik im Wesentlichen auf die hyperkomplexe und möglichst geräuschlose Verteilung der Brüsseler Subventionen beschränkt, auf das Drehen an sehr kleinen Rädchen, so dass es keinem wehtut. Für ein Umsteuern der Landwirtschaft aber müssten Politiker an vielen Fronten kämpfen: gegen Lebensmittelketten, Agrarchemie, Bauernverbände, gewerbesteuerabhängige Bürgermeister. Vor allem aber gegen ein Volk von Grillern.
Eine staatlich implementierte Ernährungswende stieße auf den harten Widerstand der Gewerkschaften und Unternehmerverbände – und eines ganzen Volks von Wurst- und Fleischessern. Das Veggie-Day-Desaster der Grünen war allen Wiederwahlabhängigen eine Warnung.
Aber es geht noch weiter: Eine nachhaltige Veränderung unseres Lebensmittelkonsums würde die Weltwirtschaft in den Zusammenbruch treiben. Und das ist wörtlich zu nehmen. Denn die Art und Weise, wie wir ernährt werden, ist nicht nur gesundheitsschädlich und unter dem Aspekt einer globalen Moral unanständig. Sie ist systemnotwendig für den Kapitalismus.
Billiges Essen ist die Hauptbedingung für die Aufrechterhaltung von Wachstum: Der Anteil der Haushaltsausgaben für Essen und Trinken in einem Durchschnittshaushalt fiel in den letzten fünfzig Jahren von 40 auf unter 15 Prozent der Einkommen. Nur durch diese enorme Verbilligung des Essens wurden die Mittel für den Massenkonsum von Autos, Haushaltsgeräten, Fernreisen und Billigklamotten frei; nur weil das Essen weniger kostet, können die Löhne „vernünftig“ bleiben.
Eine Umstellung vom Kilo Kasseler Kamm für 2,79 Euro auf Bio, von Fertigmahlzeiten auf frisches Gemüse und Rohkost wäre die ultimative Wachstumsbremse. Deshalb ist sie nicht parlamentsfähig; da helfen auch nicht die Rechnungen der Sozialmediziner, nach denen die Folgen von Diabetes 2 allein in Deutschland jedes Jahr 40 Milliarden Eurokosten – ein Fünftel der Gesundheitsausgaben.
Ein Staat, der seinen Auftrag zur Daseinsfürsorge ernst nähme, könnte dieses Geld ja auch nachhaltiger einsetzen: für Prävention, oder noch besser, indem er die Kinder in der Schule oder im Kindergarten Genießen, Kochen und Ernährungswissen lernen ließe, mit Schulkantinen, die nicht von Caterern beliefert werden, sondern in denen Heranwachsende kochen lernen und dabei merken, dass Kartoffeln nicht aus dem Glas kommen, die Lammstulle nicht vom Döner-Tier, dass Pastinaken keine Sekte sind und dass man Brause aus Zitronen machen kann. Mit einer solchen Kulturrevolution des Genusses würde man nicht einmal Arbeitsplätze vernichten, sondern hunderttausende schaffen.
Ich gebe gern zu, diese Idee vom Staat verstößt gegen die wirtschaftsliberale Religion und greift in Besitzstände. Geschmacksbildung, so unisono die Progressiven und die Konservativen, solle man doch bitte den Eltern und der privaten Industrie überlassen. Nun, die Entscheidung fürs Rauchen haben wir auch entprivatisiert und zur öffentlichen Angelegenheit erklärt, warum sollte das nicht bei Softdrinks und zerkochten Vitaminen gelingen? In den Mittelschichten sind Fernsehköche zu Popstars geworden, steigt die Zahl der Vegetarier und der Abonnenten in Sportstudios. An der Massentierhaltung und der Kinderabspeisung in den Kitas, deren Zutaten nicht mehr als 70 Cent kosten dürfen, hat das bis heute nichts verändert. Eine gastrosophische Instandsetzung des Landes zu erkämpfen – das ist eben nicht so sexy wie die Umrüstung ausgedienter Markthallen in Gastro-Lounges für geschmackssichere Besserverdiener.
Es geht hier nicht um ein Einpunkteprogramm. Das aufgeklärte Unbehagen über schlechtes Essen und Tierquälerei wird zu einem über den Zustand des Grundwassers, über Landgrabbing und milliardenfaches globales Unrecht. Es geht um ein politisches Gesamtkunstwerk, das Millionen von Facetten haben wird: von kleinteiligen Änderungen der Raumordnung bis hin zu einer Reform der Welthandelsordnung, von Menschenketten um Schlachthöfe bis hin zu einer Renaissance des Sonntagsbratens, von Verordnungen über Quadratzentimeter in Hühnerställen bis hin zu einer Bildungsoffensive.
Vieles geschieht ja schon, es wäre nun an der Zeit, diesen heterogenen sozialen Bewegungen einen politischen Namen zu geben. Die Grünen könnten mit einer solchen Politisierung einen zweiten Frühling erleben, bei dem alle ihre Triebe – die Ökologie, die globale Gerechtigkeit, die Lebensreform – zusammenwirken. Vieles geschieht, aber um den Wandel der Mentalitäten und Praktiken dauerhaft abzusichern, müssen am Ende Gesetze gemacht werden. Und deshalb werden Große Koalitionen nötig sein, Bündnisse über Partei- und Fraktionsgrenzen hinaus, so wie am Anfang der Energiewende, als eine Handvoll Abgeordneter die Initiative zum Erneuerbaren-Energie-Gesetz (EEG) ergriff.
Der Entwicklungspfad der industriellen Landwirtschaft in einem schrankenlosen Welthandel, so steht es im Weltagrarbericht, ist „keine Option“. Und wenn nun jede seriöse Analyse ergibt, der Zug sei abgefahren und gewinne eher noch an Fahrt? Dann kann man – wie einst die Katastrophenmarxisten – nur beunruhigt warten, bis die Fahrt an die Wand gegangen ist. Aber auf dieser Reise würden die Wohlstandsquellen für alle erdenkbare Zukunft zerstört, verbrannt, vernutzt. Vielleicht ist das sogar die wahrscheinlichere Option: eine Zukunft mit Hungersnöten und schließlich der Umstieg auf vollsynthetische Ernährung, eine endgültige Abkoppelung der Menschheit von der Natur. So gesehen wäre die Weltgeschichte dann wirklich das Weltgericht gewesen, und meine Biohühnersuppe bliebe auf ewig ein privates Heilsgeschehen.
Mathias Greffrath ist Soziologe und Journalist in Berlin. © Le Monde diplomatique, Berlin