10.11.2006

Die Welt begreifen

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Die Welt begreifen

Die moderne Wissenschaft speiste sich aus vielen Quellen. Ausschnitt aus einer Globalgeschichte von Christopher Alan Bayly

Die Naturwissenschaft war vielleicht die radikalste aller neuen Philosophien, die vorgaben, die Welt zu verändern. (...) Während des 19. Jahrhunderts wurden wissenschaftliche und technologische Einrichtungen eigene soziale Gebilde, die auf ihre Weise so wichtig waren wie Klassen, Wirtschaftssysteme und Religionen.

Natürlich hatte es in vielen Kulturen vor dem 19. Jahrhundert Naturwissenschaftler gegeben. In Europa, China und der islamischen Welt hatten Gruppen von ihnen beachtliche Verdienste und Zugang zu königlicher Macht erlangt. Doch wurde die Naturwissenschaft erst sehr spät im 19. Jahrhundert zu einem Wissenskorpus, der sich wesentlich von den späteren Geisteswissenschaften, von Recht und Theologie unterschied. Zu diesem Zeitpunkt hatte die Naturwissenschaft einen inneren geistigen Zusammenhalt und eine Reihe von Kausalitätsprinzipien entwickelt, die allgemein von großen Gruppen professioneller Praktiker akzeptiert wurden. Diese Praktiker konnten jetzt die Politik von Regierungen in den Bereichen Gesundheitswesen oder militärischer und Umweltplanung direkt beeinflussen. Zunehmend legitimierten sich schließlich auch Kolonialregierungen und herrschende Gruppen in der außereuropäischen Welt, indem sie sich auf naturwissenschaftliche Erkenntnisse beriefen, welche die traditionelleren Forderungen nach Aufrechterhaltung von Gerechtigkeit und öffentlicher Ruhe stärkten.

Dieser Aufbau der akademischen Berufe und des systematischen Wissens erfolgte grob in drei Phasen. In der ersten wurden schnell riesige Datensammlungen über natürliche Phänomene angehäuft, die nach Arten und Familien klassifiziert werden konnten, etwa in den Bereichen Geologie, Geografie, medizinische Statistik oder Botanik. Das klassische Beispiel ist hier der schwedische Biologe Carl von Linné, der Pflanzen und Tiere in ein riesiges Schema von Lebewesen einordnete. Wie Richard Drayton mit Bezug auf die Botanik gezeigt hat, liegen die Ursprünge dieser Phase in der Renaissance, und sie erreichte ihren Höhepunkt im 18. Jahrhundert. In der zweiten Phase wurden die evolutionären Prinzipien und Muster des historischen Wandels, die diesen Systemen zugrunde lagen, gesucht, unabhängig davon, ob es sich um die Ausbreitung von Krankheiten, Tierfamilien oder die Menschheit selbst handelte. Diese Phase vollzog sich gleichzeitig mit dem ideologischen Wandel, der während und nach der Französischen Revolution kam. Ein weiteres Stadium bei der Aufstellung historischer Gesetze für die Naturwissenschaft trat Mitte des 19. Jahrhunderts ein. Die Veröffentlichung von Darwins Entstehung der Arten im Jahr 1859 bleibt ein Wendepunkt bei dieser Schwerpunktverlagerung. (…)

Die erste Phase, die massive Akkumulation und Kategorisierung von Daten über natürliche Phänomene, hatte in der Frühen Neuzeit begonnen und sich im 18. Jahrhundert beschleunigt. Himmelsbeobachtung, die Kartierung geologischer Schichten, die Anfänge der Archäologie in Süditalien und in der ägyptischen Wüste, die Auflistung der Vielzahl von Spezies als Ergebnis von Expeditionen in den Pazifik oder Reisen auf der Suche nach den Quellen afrikanischer Flüsse: All diese Entwicklungen spiegelten die wissbegierigen Anleihen bei Gelehrten und Reisenden der Aufklärung wider. Die systematische Organisation von Daten und die Schaffung von Kategorien und Verbindungen waren das Werk weniger großer synthetisierender Köpfe während der globalen Umwälzungen zwischen 1790 und 1813. Zum Beispiel standen Goethe und Alexander von Humboldt, der deutsche Geograf und Soziologe, im Zentrum eines riesigen Netzes taxonomischer Spekulation und schufen analytische Werkzeuge für so weit auseinanderliegende Gebiete wie Geologie, Botanik und Wahrnehmungspsychologie. Im Bereich der linguistischen Forschung waren der Richter der Ostindischen Kompanie William Jones und der spätere deutsche Sanskritgelehrte Franz Bopp (1791 bis 1867) ähnlich bedeutende synthetisierende Köpfe. Sie wollten die Elemente beschreiben, die historische Sprachen ausmachten, sie in Gruppen klassifizieren und dann Verbindungen zwischen ihnen entdecken. Afrika- und Asienforscher wie Mungo Park, der die Quelle des Nigers „entdeckte“, und William Moorcroft, der den Himalaja nach Zentralasien überquerte, transformierten die Daten, auf deren Grundlage die Geografie entstehen sollte. Linguisten und frühe Anthropologen brachten den Pazifik in den Kontext Asiens. Regierungen waren inzwischen davon überzeugt, dass sie eine Rolle bei der Entdeckung neuer Tatsachen spielen konnten, und meinten, dass sie dadurch Ehre und Ressourcen gewinnen würden.

Außerhalb Europas entstanden diese großen Sammlungen häufig aus Daten, die einheimische Intellektuelle und Verwaltungsbeamte geliefert hatten. Asiatische und afrikanische Herrscher und Intellektuelle hatten ebenfalls riesige Archive mit Informationen aufgebaut, als sich die Regierungsgewalten und der Welthandel nach 1500 über den Globus ausbreiteten. Medizinische Fortschritte in Europa stützten sich auf die Arzneien und Kräutersammlungen chinesischer und indischer Spezialisten sowie auf das verkörperte Wissen afrikanischer und indianischer Heiler. Indische brahmanische Grammatiker stellten die großen Wortschätze zur Verfügung, mit denen europäische Sprachtheoretiker ihre historischen Genealogien zu entwickeln begannen. Expeditionen innerhalb Afrikas, die man gegenüber den Europäern als „Entdeckungen“ darstellte, wurden von Einheimischen, die eine gründliche Kenntnis der Wildwechsel und der Lage von Lagerplätzen hatten, geführt, genährt und unterstützt. Pazifische Völker und kanadische Inuit brachten ihre Kenntnisse in der Tierjagd und ihr Wissen über die Strömungen der Wasserwege ein. In vielen Fällen enteigneten europäische und amerikanische Eroberer bloß deren Wissen und verwendeten es dann, um ihnen ihr Land, ihre Fische und ihre Tiere zu rauben.

Diese Flut naturgeschichtlicher Beschreibung wurde von Männern erzeugt, die als Helden der Wissenschaft, als Giganten der romantischen Welt betrachtet wurden, von denen Goethe der berühmteste war. Ihre Erkenntnisse wurden manchmal mit älteren Vorstellungen vermengt, denen zufolge alles Seiende in einer langen Kette vom Höchsten bis zum Niedrigsten miteinander verbunden war. Doch bald schon waren Regierungen darin verwickelt und wurden nach etwa 1760 sehr aktiv. Der Höhepunkt dieses Unternehmens war die wissenschaftliche Expedition der Gelehrten der Académie française, die Napoleon 1798 nach Ägypten schickte, um die Relikte alter ägyptischer Zivilisationen zu sammeln und die ägyptische Welt zu erfassen. Dies war und ist bis heute das größte „Forschungsprojekt“ einer Regierung. In Großbritannien organisierte Sir Joseph Banks von den 1780er- bis zu den 1820er-Jahren durch die Londoner Royal Society ein Netzwerk von Beobachtern und Entdeckern, die er unter den Ärzten der Royal Navy und der Ostindischen Kompanie rekrutierte, das ebenfalls die Form eines staatlichen Wissenschaftsprojekts annahm. Militär- und Schiffsärzte waren echte Fundgruben für Informationen. Jedoch hatten der Staat und das politische Establishment keineswegs ein Monopol auf die Sammlung wissenschaftlicher Daten oder die Schaffung von Wissensbeständen. Radikale Politiker und antihierarchische Missionsbewegungen trugen bedeutend zur Zunahme des wissenschaftlichen Wissens bei. Sie bauten es auch zu brauchbaren theoretischen Gebäuden auf, die ihre allgemeineren ideologischen Ziele unterstützten. Im Pazifik betätigten sich Missionare, die über eigene Teams aus eingeborenen Informanten verfügten, die sich als unschätzbare Beobachter menschlicher und natürlicher Formen erwiesen. Sie nutzten ihre Erkenntnisse, um den unerschöpflichen Charakter der Fülle Gottes und die bevorstehende Erlösung zu verkünden. Doch bestätigte Wissenschaft nicht nur das Establishment; auch dessen Opponenten stützten sich auf sie. Man berief sich auf „wissenschaftliche“ Theorien wie Phrenologie, Positivismus und die Vorstellungen Saint-Simons, um politischen Radikalismus in Großbritannien und auf dem europäischen Kontinent zu legitimieren, speziell während der politischen Eruptionen der 1840er-Jahre.

In den 1840er-Jahren, als Eisenbahn, Telegraf und Dampfschiff den globalen Informationsaustausch immens verbessert hatten, entstanden feste wissenschaftliche Bürokratien. Berufswissenschaftler und wissenschaftliche Abteilungen in Regierungen wurden immer bedeutender. Für alle Teile der Welt wurden Beschreibungen von Naturprodukten und Erzeugnissen angefertigt. Sir Roderick Murchison, der britische Entdecker und geologische Ingenieur, hatte dutzenden von Expeditionen und Informationsgesandtschaften in Kanada, Afrika und Südamerika den Weg bereitet. Er wurde nach Russland eingeladen, um mit russischen Wissenschaftlern auf der Suche nach Kohle und Eisenerz in den annektierten Gebieten im asiatischen Teil Russlands zusammenzuarbeiten. Kew Gardens in London, der preußische botanische Garten, und sein Äquivalent in Paris standen im Zentrum einer Reihe großer Erhebungen über Lebewesen, die eine wachsende Armee professioneller Forscher durchführte. Militärische Bergbauschulen hatten häufig die interessantesten Entdeckungen in Chemie, Physik und Geologie gemacht, doch nun begannen Universitäten, zunächst die neueren und dynamischeren Zentren wie Edinburgh und Hamburg, später Paris, Oxford und Bologna, die neue Naturgeschichte zu lehren. Bis zur zweiten Hälfte des Jahrhunderts hatten große Industrieunternehmen begonnen, ihre eigenen Forschungsabteilungen einzurichten, speziell in Deutschland und in den Vereinigten Staaten. Wissenschaft wurde mehr als eine bloße Anhäufung geordneter Information. Sie wurde zum Motor menschlicher Vollkommenheit, eine geschichtliche Kraft, die die materiellen Lebensgrundlagen der Menschheit und sogar ihren Geist verändern sollte. Regierungen beriefen sich zur eigenen Legitimation ebenso häufig auf die Wissenschaft wie auf Gott. (…)

Wenn wir das Entstehen des wissenschaftlichen Denkens im 19. Jahrhundert auf globaler Ebene beschreiben wollen, scheinen die folgenden Vorschläge in dieser aufgeladenen und inzwischen stark politisierten Debatte über den Charakter des Unternehmens Wissenschaft und die Beziehung zwischen Wissenschaft und Kolonialismus annehmbar zu sein. Komplexe menschliche Gesellschaften überall hatten rationale Denksysteme und Verfahren zum Einsatz von Technologie für die Produktion entwickelt. Durch die frühe Ausbreitung der Industrialisierung und die Professionalisierung in Europa und Nordamerika hatten jedoch Spezialisten dort einen wesentlichen Vorsprung bei der Erarbeitung allgemeiner Systeme wissenschaftlichen Denkens erhalten, durch den sie intern legitimiert wurden, ohne dass sie auf theologische oder kulturelle Argumente zurückgreifen mussten. Die europäisch-amerikanische Expansion ermöglichte auch physikalische, chemische und biologische Entdeckungen, die schneller für die routinemäßige Massenproduktion genutzt werden konnten. Als schnelle Urbanisierung, Staatsbildung und Industrialisierung auch in nichteuropäischen Gesellschaften einsetzten, fanden auch diese schnell Möglichkeiten, Anleihen bei den westlichen Zentren zu machen, aber ebenso Teile ihrer eigenen älteren Systeme brauchbaren Wissens und rationaler Untersuchung anzupassen, um ein einheimisches wissenschaftliches Denken hervorzubringen. (…)

Japans Übernahme des wissenschaftlichen Denkens ist ein gutes Beispiel zur Illustration dieser Aspekte. Die frühe japanische Gesellschaft nahm vor allem Ideen aus dem Ausland auf. Lange Zeit vorher hatten japanische Herrscher, Adlige und buddhistische Weise Gesandtschaften nach China geschickt, um Veränderungen im Denken und Handeln des chinesischen Gelehrtenadels zu erkunden und darüber zu berichten. „Holländische“ Gelehrsamkeit wurde eifrig über die Handelsniederlassung der holländischen Ostindischen Kompanie in Nagasaki aufgenommen. Schon 1777 wurde eine Übersetzung einer holländischen anatomischen Abhandlung angefertigt. Entscheidend ist, dass dieses holländische medizinische Wissen dann nach Maßstäben der empirischen Beobachtung überprüft wurde, die die Methoden widerspiegelten, die zur Bestätigung von Texten und Methoden unter streitenden Gruppen konfuzianischer Gelehrter verwendet wurden. Dieser „Positivismus, der verlangte, dass alle Hypothesen bestätigt werden“, machte es den Japanern viel leichter, westliche wissenschaftliche Vorstellungen zu akzeptieren, von denen sie während der vielen Gesandtschaften in den Westen, die von den Tokugawa- und Meiji-Regierungen nach 1854 auf den Weg gebracht wurden, erfuhren. Er bildete auch eine Grundlage, auf der westliche Lehrer und Ingenieure aufbauen konnten, als ihre Zahl in Japan nach der Meiji-Restauration von 1868 zunahm.

Zwei weitere Merkmale des japanischen Beispiels sind wichtig. Erstens war die japanische Gesellschaft wie die Koreas und Chinas durch den Blockdruck gut auf die schnelle Verbreitung von nützlichem Wissen eingestellt. Das gilt sogar für das 18. Jahrhundert, als es in Edo ebenso viele Buchläden wie in London und in Paris gab. Neue Drucktechniken wurden bereitwillig übernommen und verbreiteten neue Denksysteme tatsächlich sehr schnell. Der klassische Lobgesang auf nützliches und praktisches Wissen, Samuel Smiles’ „Self-Help“, wurde in Großbritannien und Amerika in rund 250 000 Exemplaren verkauft. Von der japanischen Ausgabe wurden eine Million Exemplare verkauft, und 1920 wurde das Buch neu aufgelegt. Zweitens scheint sich die sehr schnelle Entwicklung berufsständischer Organisationen von Wissenschaftlern, Ingenieuren und anderen Experten in Japan teilweise der Umwandlung der Loyalität gegenüber einem Feudalherren, der Bushido-Ethik, in eine Vorstellung des professionellen Dienstes für eine nationale Öffentlichkeit zu verdanken. Japanische Patrioten der Mitte des 19. Jahrhunderts schämten sich offenbar, dass ihr wissenschaftliches, technisches und medizinisches Wissen dem der westlichen Barbaren deutlich unterlegen war, und gingen eifrig daran, das zu ändern. Sie hatten recht früh Erfolg damit. Ende des 19. Jahrhunderts steuerten japanische Wissenschaftler eigenständige Beiträge von Weltrang zu den Wissenschaften bei. Die Seismologie etwa, die Wissenschaft von den Erdbeben, war ein Gebiet, auf dem japanische Forscher wie Sekiya und Omori zu neuen Erkenntnissen kamen. Sie arbeiteten mit im Land lebenden Amerikanern zusammen, für die Japan ein ideales Labor zu sein schien.

© Le Monde diplomatique, Berlin Christopher A. Bayly ist Professor an der Cambridge University. Der vorliegende Text stammt aus Christopher A. Bayly, „Die Geburt der modernen Welt. Eine Globalgeschichte 1780–1914“, übersetzt von Thomas Bertram, Martin Klaus und Manuela Lenzen, Frankfurt am Main (Campus) 2006.

Le Monde diplomatique vom 10.11.2006, von Christopher Alan Bayly