Portugals holpriger Weg in die Europäische Union
WENN die Portugiesen im Januar 1996 über die Nachfolge von Mário Soares im Amt des Staatspräsidenten entscheiden, werden sie das Ausmaß der Veränderungen abschätzen können, das eine zehnjährige Beteiligung ihres Landes am Aufbau der Europäischen Gemeinschaft mit sich gebracht hat. Die Bemühung um eine Angleichung an das übrige Europa hat einen tiefgreifenden Mentalitätswandel bewirkt und erste negative Reaktionen auf eine gewisse liberale Normalität hervorgerufen, die das Scheitern des rechtsgerichteten Demokratisch- Sozialen Zentrums (CDS) und die erneute Machtübernahme der Sozialisten bei den Parlamentswahlen vom vergangenen 1. Oktober nach sich gezogen haben.
Von BORIS MARCQ *
„Einst war die Seele meines Landes so groß wie die Welt. Und so ehren wir heute den Entdeckergeist der Portugiesen. Doch es ist höchste Zeit, daß Europa endlich auch zu würdigen weiß, welchen Beitrag mein Land zu dem tiefgreifenden kulturellen Wandel auf unserem Kontinent geleistet hat.“ Diese Worte des Schriftstellers Vergilio Ferreira, geäußert anläßlich der Portugal gewidmeten Ausstellung „Europalia“ in Brüssel im Jahr 1991, bezeugen die neue Geisteshaltung eines Landes, das auf dem Umweg über den Aufbau der Europäischen Gemeinschaft zu einer Öffnung zurückgefunden hat.
Es war ein langer und mühseliger Weg, vor allem in den Augen der Portugiesen. In den letzten Jahren hat ganz Portugal einen tiefen Kurswechsel durchgemacht – vielleicht sollte man besser von einem Crashkurs sprechen? Die Auswirkungen dieses Wandels werden erst langsam erkennbar. Die Entscheidung zugunsten Europas, die mit dem Beitritt zur EG am 1. Januar 1986 besiegelt wurde, war aus historischen und kulturellen sowie wirtschaftlichen Gründen alles andere als selbstverständlich und in keiner Weise mit dem gleichzeitig erfolgten Beitritt Spaniens vergleichbar.
Das Land im westlichen Teil der Iberischen Halbinsel besteht seit 1139 als Königreich und seit dem 13. Jahrhundert in den bis heute gültigen Grenzen. Ende des 14. Jahrhunderts setzte Portugal seinen Kreuzzug gegen die Mauren entlang der afrikanischen Küste fort – angeblich auf der Suche nach dem mythischen Reich des Priesters Johannes, Symbolfigur der Evangelisierung einer Region des Orients, der sagenhafte Reichtümer nachgesagt wurden. Tatsächlich ging es vor allem darum, die aus der Reconquista hervorgegangene Adelsschicht zu bewegen, ihr Engagement zum Nutzen der Krone weiter auszudehnen und dabei einen neuen Handelsweg zu den Goldminen im Sudan und nach China zu finden, von dem bereits ein Jahrhundert zuvor Marco Polo berichtet hatte. So entstanden die beiden Grundpfeiler der portugiesischen Wirtschaft: die Landwirtschaft, die die überseeischen Expeditionen ermöglichte, und der Handel mit Kolonialwaren, wobei Lissabon (abwechselnd in Allianz mit oder in Konkurrenz zu den Niederlanden, Spanien und England) der Hauptumschlagplatz für das nördliche Europa war.
Die portugiesische Identität ist zum einen nachhaltig geprägt worden von der Verbundenheit mit dem Land und einer aus der Entfernung von ihm geborenen Nostalgie, der berühmten saudade; auf der anderen Seite von dem Gefühl, man selbst nur in der Pluralität jener Welten zu sein, die man entdeckt und in der Folge an andere abzutreten hatte – ein Gefühl, dem der Dichter Fernando Pessoa auf unnachahmliche Weise Ausdruck verliehen hat. Diese multikontinentale geopolitische Vision hat sich der Geschichte des Landes eingeprägt, seit gegen Ende des 18. Jahrhunderts sein Niedergang sich anzukündigen begann. Ein bezeichnendes Beispiel: Nach den napoleonischen Kriegen wurde Lissabon, wie Portugal insgesamt, dem britischen Regenten Beresford überlassen, während König Johann VI. im brasilianischen Exil mit dem Gedanken spielte, Rio de Janeiro zu seiner Hauptstadt zu machen.
Mit dem per Verfassung von 1933 geschaffenen Estado Novo suchte António de Oliveira Salazar, der das Land de facto schon seit 1928 regierte, mit autoritären Mitteln ein Portugal der Splendid isolation zu festigen. Er setzte auf die Beibehaltung einer ursprünglichen und von der kapitalistischen Entwicklung des 19. Jahrhunderts vergleichsweise unberührten Versorgungswirtschaft auf der soliden Basis eines Kolonialreiches, das um vieles älter war als die der anderen europäischen Mächte. Damit gelang es Salazar, das Gespenst der von Marx prophezeiten Entwicklung in den fortgeschrittenen kapitalistischen Staaten zu bannen. Seine Überlegungen ließen ihn seinerzeit sogar auf das Projekt einer neuen Hauptstadt des „Reiches“ verfallen: Ein Nova Lisboa sollte im zentralen Hochland Angolas erbaut werden!
Abschied von kolonialen Ambitionen
DER Diktator wurde gleichwohl von Entwicklungen eingeholt, die eng verknüpft waren mit dieser grundsätzlich verfehlten Orientierung. Wie andere Kolonialmächte auch, hatte sich Portugal in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts der wirtschaftlichen und verwaltungstechnischen „Rekolonialisierung“ seiner afrikanischen Besitztümer verschrieben. Das System der auf die Küstenregion beschränkten Handelsniederlassungen wurde aufgegeben und eben jene Form der Herrschaft eingeführt, der die einheimische Bevölkerung nach 1961 mit Waffengewalt ein Ende bereitet hat. Zugleich vermochte sich das Regime nicht dem Druck des Handelsbürgertums zu entziehen. Dieses forderte am Ende des Zweiten Weltkriegs eine politische Neuorientierung – nämlich die Förderung einer wirtschaftlichen Entwicklung innerhalb des portugiesischen Hoheitsgebietes. Diese schlug sich, ähnlich wie in anderen westlichen Ländern, in einem kräftigen industriellen Wachstum nieder: Von 1955 bis zum Tode Salazars 1970 lag es bei durchschnittlich 5,5 Prozent.
Auch die Führer der „Bewegung der Streitkräfte“, die am 25. April 1974 die Revolution herbeiführten, um eine durch das militärische Scheitern in Afrika unausweichlich gewordene Beendigung der Kolonialherrschaft durchzusetzen, teilten noch die Vorstellung, daß Portugal eher anderen Kontinenten als dem europäischen verbunden sei, und sei es nur, weil die Armut des Landes es in die Nähe der Dritten Welt rückte. Was man als „den unsicheren Gang der jungen portugiesischen Demokratie“ bezeichnen könnte, resultiert weitgehend aus der Kontroverse zwischen den Anhängern dieser Einschätzung und den Parteigängern einer europäischen Anbindung, die Anfang der achtziger Jahre die Oberhand gewannen.
Über Jahrhunderte hinweg und bis zum Eintritt in die EG zeitigten die überseeischen Ambitionen Portugals zwei Folgen, deren eine diplomatischer, die andere ökonomischer Natur war. Um den eigenen Handlungsspielraum gegenüber dem lästigen Nachbarn Spanien zu wahren, hatte sich Lissabon stets einer Politik konkurrierender Bündnisse mit den europäischen Nationen befleißigt. Seit dem 14. Jahrhundert schon bediente man sich des von britischer Seite offerierten Gegengewichts. Doch nachdem Portugal dem britischen Königreich im Vertrag von Methuen (1703) beachtliche Handelsvergünstigungen eingeräumt hatte, hatte man nichts Eiligeres zu tun, als diese Entscheidung umgehend zu neutralisieren, indem man den Niederlanden und Frankreich ähnliche Zugeständnisse machte. Die gesamte Europapolitik Portugals ist diesem ausgleichenden Bemühen verpflichtet, so auch der 1960 erfolgte Beitritt zur Europäischen Freihandelsvereinigung (Efta), die von britischer Seite initiiert worden war, um den durch die Römischen Verträge begründeten gemeinsamen Markt zu torpedieren.
Parallel dazu treten sehr früh die charakteristischen Züge einer Kapitalertragswirtschaft zutage, die weniger auf den eigenen denn auf fremden Ressourcen basiert: Gewürze aus dem Orient im 15. und 16. Jahrhundert beziehungsweise aus Brasilien im 18. Jahrhundert, die finanzielle Treuhandschaft Großbritanniens im 19. Jahrhundert, Produkte aus den afrikanischen Kolonien um die Mitte des 20. Jahrhunderts und endlich die Sparguthaben der Arbeitsemigranten, die zwischen Ende der sechziger und Anfang der achtziger Jahre bis zu 10 Prozent der jährlichen Kapitalzufuhr ausmachten. Nicht daß es – insbesondere in Krisenzeiten – am politischen Willen gefehlt hätte, die Grundlagen zu einer autonomen Volkswirtschaft zu legen: etwa durch den Grafen von Ericeira im 17. Jahrhundert, durch den Marqués de Pombal, jenen aufgeklärt ab
solutistischen Minister, der Lissabon nach dem Erdbeben von 1755 wiederaufbauen ließ, durch Fontes Pereira de Melo um die Mitte des 19. Jahrhunderts und schließlich auch durch Salazar. Aber die merkantilistische Strategie des Colbertismus war nie ein Bestandteil der portugiesischen Geschichte, die eher den Eindruck einer permanent zögerlichen Haltung hinterläßt, die großen Unternehmungen gegenüber wenig förderlich war.
Mit diesem kollektiven Vermächtnis ist Portugal der EG beigetreten: ein Land, das, da es über Jahrhunderte vernachlässigt wurde, erst eines Aufbaus bedarf und sich dabei plötzlich in territoriale Grenzen eingeschnürt sieht, die den Blick auf die unmittelbaren Gegebenheiten anstatt auf ferne Horizonte zu richten zwingt. Einmal mehr aber auch stehen ausländische Ressourcen bereit – als Gegenleistung zur Annahme der von Brüssel erlassenen Richtlinien. Zum ersten Mal behauptet sich Europa Portugal gegenüber als bevorzugter kontinentaler Bündnispartner, denn erstmals auch ist Europa zu seiner Einnahmequelle geworden.
Man muß sich das Ausmaß der psychologischen Umstellung, der erzwungenen Anpassungsleistungen und der Opfer, die erbracht werden mußten, vergegenwärtigen: der Verlust der kolonialen Anbindung und ihrer Ventilfunktion, die Verpflichtung zur Einhaltung des allgemeinen Finanz- und Währungsausgleichs, insbesondere der durch den Maastrichter Vertrag auferlegten Konvergenzkriterien. All dem hat sich Portugal seit 1986 widerspruchslos gefügt und dabei die Rolle des vorbildlichen Schülers innerhalb einer europäischen Klassengemeinschaft eingenommen. Diese hat sich ihrerseits nicht undankbar gezeigt: Zwischen 1986 und 1995 haben die Zuwendungen seitens der EG über Strukturanpassungsfonds dem Bruttoinlandsprodukt (BIP) eine Wachstumsrate von jährlich durchschnittlich 0,5 Prozent beschert.
Das Land ist geworden, was es bis in die Gegenwart hinein nie gewesen ist: ein Land mit einer konsolidierten Wirtschaft, getragen von dem Prozeß der Euopäischen Vereinheitlichung. Der Markt genießt längst das Interesse internationaler Investoren, die sich zumal durch eine zügig vorangetriebene Privatisierung ermutigt sehen. In nur zwanzig Jahren ist ein über Jahrzehnte räumlich wie zeitlich starres Entscheidungsgefüge quasi zunichte gemacht worden. Die Umgestaltung der Lebensweisen hat sich in einer Weise beschleunigt, daß von ihren Auswirkungen alle, Verantwortliche wie Bevölkerung, kalt erwischt wurden. Denn inzwischen hat man mit den verheerenden Folgen eines unkontrollierten Wachstums Bekanntschaft schließen dürfen, und so kam es, daß die ehedem breite Zustimmung in der öffentlichen Meinung mittlerweile einer skeptischen Haltung gewichen ist.
Staatspräsident Mário Soares, der sich als gewiefter Politiker das Vergnügen nicht hat entgehen lassen, die Kohabitationsregierungen1 in eine unbequeme Lage zu bringen, war der erste, der diesen Schwierigkeiten offiziell Ausdruck verliehen hat; aus Anlaß einiger Besuche vor Ort formulierte er eine kritische Bestandsaufnahme und legte den Finger dabei auf diverse offene Wunden. Dies fand statt im Rahmen einer AKtion „offene Präsidentschaft“, bei der laut Protokoll unterschiedslos alle Minister der Regierung Anibal Cavaco Silva zur Anwesenheit verpflichtet waren. Soares brachte auf diese Weise Fernsehzuschauer, regierungstreue Mediengewaltige und führende Vertreter aus Politik und Verwaltung dazu, Umweltzerstörung, soziales Elend sowie die im Zuge der Landflucht entstandenen Wellblechsiedlungen der Slums und vieles mehr zur Kenntnis zu nehmen.
Zeit der Ernüchterung
IN Wahrheit sind die Probleme viel weitreichender. Etliche Mißstände haben eine lange Tradition, so die Bürokratie, die Korruption, die Undurchsichtigkeit und Kungelei bei der Ausübung der Regierungsgewalt sowie die Abhängigkeit und Servilität der mittleren Chargen. Sie erhalten nun Verstärkung durch die Rückwirkungen des materiellen Fortschritts: Individualismus und der Verlust althergebrachter Werte wie Anspruchslosigkeit, Selbstgenügsamkeit und Improvisationsvermögen haben in einer heute weitgehend urbanen Gesellschaft vielfach über die immerhin tiefverwurzelte Solidarität in den ländlichen Gemeinschaften triumphiert. Die frischgebackenen Stadtbewohner sind für den alltäglichen Überlebenskampf in ihrer neuen Umgebung nicht im mindesten gerüstet; die Entwurzelung, das niedrige Bildungsniveau und eine aus uralter Abhängigkeit herrührende atavistische Mentalität begünstigen weder das Interesse, sich zu informieren, noch selbstbewußtes Durchsetzungsvermögen oder den gesellschaftlichen Zusammenschluß mit anderen.
Symptomatisch hierfür ist der mangelnde soziale Zusammenhalt im städtischen Leben wie auch innerhalb der Gewerkschaften, was es den Experten von der OECD erlaubt, sich ob der „Flexibilität“ des portugiesischen Arbeitsmarktes zu beglückwünschen.
Hinzu kommen in jüngster Zeit erste strukturelle Fehlwirkungen der Brüsseler Politik – darunter das Verschwinden einer großen Anzahl bäuerlicher Betriebe und vor allem das Prinzip, sich auf europäische „Zwänge“ zu berufen, wenn es darum geht, etwa die zunehmende Arbeitslosigkeit zu rechtfertigen, die sich aus der Umstellung in der Textilindustrie ergibt. Entsprechend hat die Emigration in Richtung Schweiz und Südafrika neuen Auftrieb erhalten – ein Ergebnis unzureichend angepaßter regionaler und wirtschaftlicher Entwicklungen.
Als im Sommer 1994 das Rote Kreuz Lastwagenladungen von Lebensmitteln für die hungernde Bevölkerung ins Alentejo entsenden mußte, dürfte dies als nationale Erniedrigung empfunden worden sein und dem langsamen, aber unaufhaltsamen Popularitätsverlust der Regierung Cavaco Silva weitere Nahrung gegeben haben, die sich bei den Wahlen am vergangenen 1. Oktober den Sozialisten unter António Gutérres geschlagen geben mußte. Mit der fast zeitgleich auslaufenden zweiten und letzten Amtszeit von Präsident Mário Soares (Januar 1996) endet eine zehn Jahre währende Periode, die geprägt war von einer starken Personalisierung der Staatsmacht und in der die Zukunft des Landes gleichgesetzt wurde mit der europäischen Entwicklung.
Jene Euphorie, die wirtschaftlichen und technischen Fortschritt mit Europa in einem Atemzug nannte, hat sich überlebt. Der Anteil von mehr als 65 Prozent Stimmenthaltungen bei den Wahlen zum Europaparlament 1994 kontrastiert deutlich mit der noch fünf Jahre zuvor herrschenden Begeisterung. Ganz unabhängig davon, was bei den Wahlen unmittelbar auf dem Spiel steht, taucht immer wieder die Frage nach den großen politischen Zielen auf: Die Unvollkommenheiten der noch jungen demokratischen Verhältnisse und die von den äußeren Lebensumständen bewirkte Desillusionierung beginnen die Bevölkerung aufzurütteln.
Der Wunsch, die Geschicke des Landes in die eigenen Hände zu nehmen, scheint, genährt von neuen Überlegungen2, allmählich Gestalt anzunehmen. Mário Soares, durchaus kein überzeugter Europäer, scheute sich nicht, im vergangenen Jahr in Genf zu erklären: „Viele Menschen – und auch ich gehöre dazu – sind heute der Ansicht, daß einem Zuviel an Europa auf etlichen Gebieten, in denen die Präsenz Brüssels überflüssig bis lähmend ist, ein Zuwenig an Europa dort gegenübersteht, wo ein Defizit multilateraler Verständigung eine Einschränkung gemeinsamer Entwicklungsmöglichkeiten bedeutet.“3
dt. Christian Hansen
1 Die Verfassung von 1976 schreibt eine zwischen dem finnischen und dem französischen System angesiedelte semipräsidentielle Staatsform vor.
2 Vgl. das kürzlich erschienene Buch von Vitor Soares (mit dem Präsidenten nicht verwandt), das eine ständige Kontrollinstanz wahlberechtigter Bürger gegenüber den von der Regierungsmehrheit durchgeführten Aktionen einzurichten empfiehlt.
3 Die Äußerung findet sich abgedruckt im Diário de Noticias vom 19. November 1994.
* Internationaler Berater.