15.12.1995

Le Pen frißt sich in die Seele der Arbeiter

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Le Pen frißt sich in die Seele der Arbeiter

■ Der Wahlerfolg der Front National unter Arbeitern und Angestellten, die 1988 nur knapp ein Drittel, 1995 fast die Hälfte ihrer Wä

Der Wahlerfolg der Front National unter Arbeitern und Angestellten, die 1988 nur knapp ein Drittel, 1995 fast die Hälfte ihrer Wählerschaft ausmachten, ist Ausdruck einer ohnmächtigen, von Jean-Marie Le Pen geschickt genutzten Revolte und eine Quittung für die Haltung der führenden Politiker der Linken und ihre jahrelange Offensive gegen die unteren Schichten der Bevölkerung.

Von

ALAIN

BIHR *

DER hohe Stimmenanteil (15,07 Prozent der gültigen Stimmen), den der Chef der Front National (FN) in der ersten Runde der französischen Präsidentschaftswahl im vergangenen Frühjahr erreichte, konnte nur jene überraschen, die regelmäßig den Niedergang dieser Partei vorhersagen. Der Optimismus ist durch nichts gerechtfertigt: Seit ihrem ersten Erfolg auf der politischen Bühne Frankreichs, bei den Europawahlen im Juni 1984, hat sich der Vormarsch der FN kontinuierlich fortgesetzt.1

Daraufhin fielen die Kommentatoren von einem Extrem ins andere und machten die hektische Rechnung auf, daß die 15,07 Prozent der FN zusammen mit den 4,75 Prozent, die Philippe de Villiers2 erzielt hatte, eine rechtsextreme Anhängerschaft von insgesamt fast 20 Prozent ergeben würden. Dieses Ergebnis würde innerhalb der Europäischen Union nur noch die völlig zu Unrecht so genannte Freiheitliche Partei Österreichs des Jörg Haider übertreffen.3

Doch wiewohl Jean-Marie Le Pen im Vergleich zu der vorangegangenen Präsidentschaftswahl besser abgeschnitten hat, hält sich sein Aufstieg in Grenzen. Denn 1988 hatte er in der ersten Runde bereits 14,39 Prozent der Stimmen erzielt; in Prozent ausgedrückt, betrug sein Stimmengewinn also lediglich 0,7 Prozent, das sind in absoluten Zahlen knapp 200000 Stimmen (4570838 Stimmen 1995 gegenüber 4375894 Stimmen 1988). Signifikant verändert hat sich jedoch die soziologische Zusammensetzung seiner Wählerschaft, was der Wirkung zweier gegensätzlicher Bewegungen zuzuschreiben ist.

1988 hatte der Chef der Front National seine besten Ergebnisse im traditionellen Mittelstand und bei den Selbständigen (Landwirten, Handwerkern, Gewerbetreibenden und Freiberuflern) erzielt.4 Für ihn stimmte damals fast jeder dritte Handwerker oder Gewerbetreibende. Sieben Jahre später ist der Anteil der Landwirte, Handwerker, Gewerbetreibenden und Freiberufler, die der äußersten Rechten zuneigen, nicht größer als bei der Gesamtwählerschaft.5 Folglich hat zwischen diesen beiden Wahlen de Villiers einen Teil der Wähler für sich gewinnen können.

Zwar hat demnach der Chef der FN im traditionellen Mittelstand an Stimmen verloren, doch im Proletariat hat er demgegenüber eindeutig hinzugewonnen, und zwar bei den Angestellten (plus 5 Prozent) wie insbesondere bei den Arbeitern (plus 11 Prozent). Bei letzteren liegt Le Pen mit 27 Prozent sogar an der Spitze, weit vor Lionel Jospin (21 Prozent) und Robert Hue (15 Prozent). Anders gesagt: 1988 beherrschte Le Pen den „Laden“, 1995 beherrscht er die Fabrik.

Dieser Vormarsch, der zum Teil schon bei den Kommunalwahlen von 1992 und den Parlamentswahlen von 1993 erkennbar war, ist das bemerkenswerteste Ereignis der letzten Präsidentschaftswahl. Und wenn man die Wähler nicht nach objektiven Kriterien (Zugehörigkeit zu einer Berufsgruppe), sondern nach von ihnen selbst ausgewählten subjektiven Kriterien klassifiziert, so haben 19 Prozent derer für Le Pen gestimmt, die sich zu den „unteren Schichten“ zählen, und sogar 33 Prozent derer, die sich als „Benachteiligte“ sehen. Der Boden, auf dem die giftige Pflanze der extremen Rechten gedeiht, wird immer stärker durch die vielfältigen Bedrohungen gedüngt, die mit der Fortdauer und Verschärfung der Wirtschaftskrise die aktuelle soziale und berufliche Lage wie auch die Zukunft einer wachsenden Zahl von Arbeitnehmerhaushalten belasten.

Die Arbeitnehmer sind am massivsten von den Auswirkungen der Krise betroffen: durch vermehrte Arbeitslosigkeit und mangelnde Absicherung, durch den Verfall der Kaufkraft, durch einen schleichenden Abbau des staatlichen Sozialhilfesystems, die Einschränkung der ohnehin begrenzten Aufstiegschancen, durch die Verdrängung in vernachlässigte Stadtrandgebiete, wo sie sich ausgegrenzt und zunehmenden Gefahren ausgesetzt fühlen. Diese Entwicklung ist hauptsächlich darauf zurückzuführen, daß in Frankreich, mehr noch als in jedem anderen Land Europas, die Krise der Arbeiterbewegung eine eigene und besonders heftige Dynamik erfahren hat6; und darauf, daß der gesellschaftliche Kompromiß der Nachkriegszeit im Zuge einer immer rapideren Globalisierung des Marktes radikal in Frage gestellt wurde.

In den „dreißig glorreichen Jahren“ nach dem Krieg war die Arbeiterbewegung im Westen als treibende Kraft und Garant dieses Kompromisses aufgetreten und hatte vom Betrieb bis zum Staat immer entschiedener in das Räderwerk der Macht eingegriffen. Zugleich wurde damit ihre Organisationsstruktur zunehmend bürokratischer.

Als die Arbeiterbewegung derart in Frage gestellt wurde, traf sie das gänzlich unvorbereitet, und entsprechend konnte sie keinerlei Strategie gegenüber den Angriffen auf die materiellen und institutionellen Errungenschaften ihrer gesellschaftlichen Basis entwickeln. Das galt um so mehr, als der Nationalstaat, der bis dahin den Rahmen und Hebel ihres Handelns dargestellt hatte, seine traditionellen Mittel zur wirtschaftlichen und sozialen Intervention zunehmend einbüßte.

Einmütig im gemeinsamen Haß

DIE Arbeiter und Angestellten bekamen die volle Wucht der „industriellen Umstrukturierung“ zu spüren: Massenentlassungen, umwälzende Veränderungen von Beruf, Qualifikation und Ausbildung als Folge der Einführung „neuer Technologien“ und neuer Formen der Arbeitskräftesteuerung (vermehrter Rückgriff auf nicht abgesicherte Arbeit, Individualisierung des Lohnarbeitsverhältnisses), Anstieg der Arbeitslosigkeit und dadurch ausgelöste Zukunftsangst. Infolgedessen vertieften sich die Gegensätze und Ungleichheiten zwischen Facharbeitern und Ungelernten, Jungen und Alten, Männern und Frauen und natürlich zwischen Einheimischen und Ausländern; ebenso verschärfte sich die Konkurrenz zwischen Berufsgruppen wie zwischen den einzelnen Menschen, wuchs das Mißtrauen und mit ihm paternalistische, sexistische, aber auch rassistische Vorurteile.

Unter diesen Bedingungen schrumpfte der Anhang der Arbeiterorganisationen (Vereine, Gewerkschaften, Parteien), die durch die Zerstreuung ihrer stärksten Basis im Zug industrieller Umstrukturierung, Arbeitslosigkeit und Verunsicherung ohnehin geschwächt waren. Die von ihnen gebildeten Gemeinschafts- und Solidaritätsnetze sind aus manchen Betrieben und Stadtteilen ganz verschwunden. Damit sind die Arbeits- und Lebenszusammenhänge jeglicher organisatorischer oder ideologischer Identität beraubt, was der Front National bei ihren Versuchen, sich hier einzunisten, freies Feld läßt.7

Diskreditiert wurden dadurch auch die traditionellen Ideale weltweiter Solidarität, Gleichheit und sozialer Gerechtigkeit, zumal sie in den achtziger Jahren durch den Fortgang der Geschichte in Frage gestellt schienen. Ein Liberalismus, der seine alte Stärke wiedergefunden hatte, kultivierte Unternehmensgeist, individualistisches Konkurrenzdenken, Geld und Erfolg, er schmeichelte den „Gewinnern“ und verhöhnte die „Verlierer“. Dem liberalen Siegeszug entsprach der Zusammenbruch der beiden rivalisierenden Modelle der Arbeiterbewegung, des sozialdemokratische Reformismus im Westen und des angeblich realexistierenden Sozialismus im Osten.

Die traumatischen Folgen, die dieser Zusammenbruch für die unteren Schichten hatte, waren in Frankreich besonders heftig, erschien er doch hier als eigentlicher Verrat volkstümlicher Hoffnungen und Wünsche durch die – namentlich sozialistische – Linke, die seit Beginn der achtziger Jahre im wesentlichen die Macht ausgeübt hatte. Tatsächlich waren es ihre eigenen Vertreter, die in Mißachtung ihres früheren Engagements die neoliberale Offensive gegen die unteren Schichten maßgeblich geführt haben. Dieser Linken verdankt die Bevölkerung die Verdoppelung der Arbeitslosenzahlen während der beiden siebenjährigen Amtsperioden von François Mitterrand, ebenso die energische Umstrukturierung der Industrie, die forcierte Deregulierung des Arbeitsmarktes, die rasche Zunahme unterbezahlter Jobs, die wachsende soziale Unsicherheit vieler unterprivilegierter Jugendlicher, die lustlos zwischen Gelegenheitsjobs, „Parkplatz“-Seminaren und Arbeitslosigkeit schwanken. Die Löhne wurden nicht mehr an den Lebenshaltungsindex angepaßt, die Sozialleistungen bei ständig wachsender Beitragsbelastung abgebaut.

Damit bewies die Linke gegenüber den unteren Bevölkerungsschichten eine Härte, die ein Großteil ihrer führenden Politiker sich selbst beziehungsweise den Besitzenden nicht zumuten wollte. Denn so entschlossen die Linke ihre eigene gesellschaftliche Basis attackierte, so großzügig behandelte sie die Besitzenden, indem sie den Arbeitsmarkt deregulierte, die Sozial- und Steuerlasten reduzierte und die Geld- und Finanzmärkte zugunsten der Inhaber von Wertpapieren „liberalisierte“. Das Ergebnis von zwei siebenjährigen Amtsperioden und zwei Legislaturperioden der Sozialisten war letztlich eine allgemeine Vertiefung der gesellschaftlichen Ungleichheit.8

Aus dieser Basis der Linken, die von ihren eigenen Vertretern im Stich gelassen wurde, konnte die Front National zunehmend ihre Gefolgschaft rekrutieren.9 Dabei nutzte sie geschickt die Angst, die tiefe Unsicherheit und den Niedergang der öffentlichen Dienstleistungen und Gemeinschaftseinrichtungen; sie bezog sich auf die soziale Isolierung, welche das Fehlen von Vereinen, Gewerkschaften, Politik und Verwaltung als Strukturelemente insbesondere in den auch „Verbannungsgebiete“ genannten Vorstädte inzwischen tatsächlich herbeigeführt hat.

Zwei Aspekte der Angst sind besonders bedenkenswert. Zum einen muß die Fixierung der unteren Schichten auf materielle Besitztümer wie Auto und Wohnung, die oft hart erarbeitet wurden und deshalb einen hohen Symbolwert haben, angesichts der steigenden Kleinkriminalität unweigerlich einen Sicherheitswahn auslösen. Zum anderen wird mit der Zunahme von Obdachlosigkeit und „neuer Armut“ die Angst vor sozialem Abstieg ebenso gestärkt wie der Abgrenzungszwang gegenüber dem Subproletariat.

Symbolfigur dieses Subproletariats ist immer noch der Arbeitsimmigrant (auch wenn die sozioökonomische Realität der Immigration sich sehr verändert hat). Hier liegt einer der Gründe für den Rassismus der unteren Schichten: Der Immigrant wird als jemand wahrgenommen, dessen unsicherer und inferiorer Sozialstatus ein lebendiges Bild dessen gibt, was nicht wenige französische Arbeiter und Angestellte eines Tages zu werden fürchten. Schon die Tatsache, daß sie mit ihm konkurrieren müssen (um Arbeit, Wohnung, Sozialleistungen und weiteres), signalisiert das eigene soziale Abdriften.

Mit dem ihm eigenen Pathos hat Le Pen es verstanden, das Ressentiment der unteren Schichten auszubeuten – dieses passive Aufbegehren ohne klar definierte Ziele und verfügbare Mittel, ausgelöst durch eine als zutiefst ungerecht empfundene Lebenssituation, der man dennoch nicht entkommen kann.

Einerseits zählte er unermüdlich alle wirklichen Alltagsübel der unteren Schichten auf und vermengte sie mit lediglich eingebildeten Mißständen wie dem „geistig-moralischen Verfall“ oder der „Bedrohung der französischen Identität“. Andererseits benannte er auch die angeblich Schuldigen: die verschiedenen Immigrantengruppen und die allein auf ihre persönlichen Interessen versessenen Politiker, von links wie von rechts.

Zu allerletzt aber, im Moment des schmerzlichen Gefühls, von allen verlassen zu sein, bietet die Dramaturgie der FN ihren Anhängern eine neue Identität und Würde: das Gefühl, Franzose zu sein, und darüber hinaus das Versprechen einer kollektiven Rettung. Inmitten der Schichten, die sich in einem Zustand der Rechtlosigkeit befinden, begründet die Front National die Gemeinschaft der „guten Leute, die sich lieben, weil sie gemeinsam hassen“, um die suggestive Formulierung von Albert Cohen aufzugreifen.10

Daran läßt sich ermessen, wie komplex die Triebkräfte des volkstümlichen Rassismus und wie unzulänglich die meisten Mittel sind, die im Kampf gegen den weiteren Vormarsch der FN aufgeboten werden. Denn in den bisherigen Auseinandersetzungen ging es im wesentlichen um die Verteidigung einiger großer Prinzipien, womit man die besondere gesellschaftliche Basis dieser Bewegung verkannte.

Die notwendige Verteidigung der Demokratie kann sich nicht mehr auf die repräsentative und formale Ebene beschränken.11 Auch der Antirassismus humanistischer Prägung ist an seine Grenzen gelangt. Mit dem Versuch, einen Arbeiter oder Angestellten von der moralischen Überlegenheit des Antirassismus zu überzeugen, verschafft man ihm noch keine Arbeit, nimmt ihm noch nicht die Angst, in den Teufelskreis von Arbeitslosigkeit und Unsicherheit zu geraten. Wie Gilles Perrault treffend sagt: „Das Unglück ist taub für die Lehren der Moral.“12

Aber erst recht für die Lehren der Geschichte. Eine antifaschistische Rhetorik, die mahnend an die in der Zwischenkriegszeit und während des Zweiten Weltkriegs von den faschistischen Bewegungen und Regimes begangenen Grausamkeiten erinnert und die Verbindungslinien zur FN zieht, muß daher gleichermaßen wirkungslos bleiben: Sie taugt zwar zur Mobilisierung gegen die extreme Rechte von heute, bleibt aber ohnmächtig gegen die Erscheinungen, die dieser Rechten Bevölkerungsschichten zutreiben, die Opfer der sozioökonomischen Krise sind, sich aber nicht selbst gegen sie wehren können.

dt. Sigrid Vagt

1 Einzige Ausnahme waren die Europawahlen im Juni 1994, bei denen die FN einen Rückgang (10,5 Prozent gegenüber 11,7 Prozent 1989) zu verzeichnen hatte, was vor allem auf die Konkurrenz durch die Liste von Philippe de Villiers zurückzuführen war, die 12,3 Prozent der Stimmen errang.

2 Präsidentschaftskandidat der Nationalkonservativen (MPF).

3 Bei den Parlamentswahlen im Oktober 1994 bekam die FPÖ 22,5 Prozent der Stimmen.

4 21 Prozent der Selbständigen gegenüber nur 14 Prozent der Angestellten hatten damals Le Pen ihre Stimme gegeben.

5 Eine Umfrage des IFOP am 23. April 1995 ergab, daß nur 13 Prozent der Freiberufler den Führer der FN gewählt haben. Vgl. Libération, 25. April 1995.

6 Wir greifen hier in sehr verkürzter Form die Thesen auf, die wir im folgenden Band über die Ursachen der Krise gefunden haben: „Du Grand Soir à l'alternative“, Paris (Éditions ouvrières – Éditions de l'Atelier) 1991.

7 Vgl. zu diesem Thema den informativen Bericht von Anne Tristan über die nördlichen Stadtteile von Marseille in dem Buch „Au Front“, Paris (Le Seuil), 1987.

8 Zu all diesen Punkten vgl. unser neuestes Buch „Déchiffrer les inégalités“, Paris (Syros), 1995.

9 Die folgenden analytischen Ansätze wurden entwickelt auf der Grundlage von Anne Tristans Untersuchungen im Unterschichtmilieu, a.a.O.; Marie-Paule Ziegler, „On se sent chez nous comme des immigrés. Conscience ouvrière et thèmes lepénistes“, Cahiers d'Article 31, Nr. 2, 2. Trimester 1990; ein Soziologenteam unter Leitung von Michel Wievorka: „La France raciste“, Paris (Le Seuil), 1992. Vgl. auch die Untersuchung von Gilles Smadja, „En plongée dans l'électorat populaire du Front national“, L'Humanité, 11. Juli 1995.

10 Zitiert bei Anne Tristan, a.a.O., S. 257

11 Vgl. „Pour en finir avec le Front national“, Paris (Syros), 1993.

12 Vgl. „Pour un antifascisme militant“, Le Monde, 8. Mai 1995.

* Autor von „Pour en finir avec le Front national“, Paris (Syros), 1993, und (mit Roland Pfefferkorn) von „Déchiffrer les inégalités“, Paris (Syros), 1995.

Le Monde diplomatique vom 15.12.1995, von Alain Bihr